5. KAPITEL

Absolution

ch stand mit dem Rücken gegen eine Felswand ge-I lehnt, die Hände krampfhaft um den Griff eines gro-

ßen Schwerts geklammert. Vor mir lag die endlose Wü-

ste, und eine ganze Horde von Gegnern umzingelte mich. Orientalen, die mich böse, ja haßerfüllt, anstarr-ten. Alle mit demselben düsteren Blick, mehr noch, mit demselben Gesicht!

Nicht nur der Gesichtsausdruck war bei allen gleich, nein, sie glichen einer dem anderen so vollständig, wie man es zuweilen bei Zwillingen sieht. Das Gesicht kam mir vertraut vor. Während ich drohend mein Schwert im Halbkreis schwang, um mir die Feinde vom Leib zu halten, dachte ich darüber nach, woher ich dieses Antlitz kannte. Und dann fiel es mir ein: Es war das Gesicht des Mannes, den ich auf dem schmalen Pfad zwischen Kairos Häusern getötet hatte. Kämpfte ich gegen Geister, die der Tote gesandt hatte, um sich zu rächen?

Die Angreifer hielten jeder nur einen Dolch in der Hand, eine lächerliche Waffe im Vergleich zu meinem Schwert. Und doch konnte ihre Überzahl meinen Tod bedeuten, auch wenn ich das Kettenhemd eines Ritters trug. Ich wollte die Feinde zählen, aber es wurden mehr und mehr. Soweit mein Blick reichte, war die Wüste angefüllt mit jenen dunkelhäutigen Männern – oder einem einzigen Mann in vielfacher Ausfertigung. Im Blick eines jeden las ich dieselbe Feindseligkeit, das Verlangen nach meinem Blut, meinem Leben. Oder war es noch etwas anderes, das sie von mir wollten?

Eine Stimme, flüsternd nur und doch deutlich ver-nehmbar, sagte eindringlich: »Das Kreuz, du muß es behüten! Rette das Kreuz!«

Zunächst dachte ich, nur ich hätte die Stimme vernommen, aber dann kamen mir Zweifel. Denn meine Feinde setzten sich in Bewegung. Langsam kamen sie auf mich zu. Gegen diese Übermacht konnte es nicht die geringste Hoffnung geben, und doch hatte ich keine Angst um mein Leben, nicht mehr. Seit ich die mah-nende Stimme vernommen hatte, gab es für mich nur ein Ziel: Ich mußte das Kreuz beschützen! Entschlossen hob ich das Schwert und trat den Männern entgegen …

Um mich herum war Dunkelheit, nur schwach erhellt von dem milchigen Mondlicht, das durch das Glas der Gartentür hereinfiel. Kalter Schweiß klebte auf meiner erhitzten Stirn, während ich langsam zu mir fand. Ich hatte geträumt, und wie schon einmal, zwei Nächte zuvor, war ich im Traum ein Ritter gewesen, der sich gegen morgenländische Angreifer verteidigte. Und wieder war der Traum unvorstellbar eindringlich gewesen.

Selbst jetzt noch glaubte ich, den Schwertgriff zwischen meinen Fingern zu spüren. Aber ich stand nicht mehr in einer unbekannten Einöde einer Übermacht von Feinden gegenüber. Ich lag in meinem Zimmer in Kairo, in meinem Bett – in Sicherheit.

Wirklich? Zu meiner Rechten nahm ich eine Bewegung wahr und fuhr erschrocken zusammen. Aber es wurde kein Dolch gegen mich erhoben, sondern ein angenehm kühles feuchtes Tuch auf meine Stirn gelegt.

Ich stieß einen wohligen Seufzer aus.

Langsam drehte ich den Kopf zur Seite und blickte in ein schönes Gesicht mit hohen Wangenknochen und dunklen Augen, die mich durchdringend ansahen.

Selbst in dem blassen Mondlicht leuchtete das lange Haar kupferfarben, und mein Blick fiel auf den silbernen Anhänger mit den beiden Rosen und dem arabischen Schriftzug.

»Ourida.«

Wortlos fuhr Ourida fort, meine Stirn abzutupfen.

Offenbar war ich im Schlaf so laut gewesen, daß ich sie geweckt und hergelockt hatte. Es war mir nicht im mindesten peinlich, von ihr umsorgt zu werden. Im Gegenteil, ich ließ mich aufs Kissen zurücksinken und genoß die sanften Berührungen und die Kühle des feuchten Tuches. Irgendwann legte Ourida ihre flache Hand auf meine Stirn, und ich fühlte mich geborgen bei ihr, wie man es nur bei einem sehr vertrauten Menschen tut. Ich dachte an meine Mutter, deren Bild schon fast aus meinen Erinnerungen verschwunden war. Dabei durchströmte mich jenes seltene Gefühl vollkommenen Glücks, wie wir es sonst nur als Kinder empfinden, in jenem frühen Stadium unseres Lebens, in dem uns die Welt noch ausnahmslos verheißungsvoll erscheint, weil wir den Erwachsenen und ihrer Fähigkeit, uns vor allem Leid zu bewahren, ganz und gar vertrauen.

Beinahe schmerzhaft drang die Helligkeit in meine schlafverklebten Augen, als ich blinzelnd in Richtung Gartentür blickte. Ja, es war bereits Tag, und die Stra-

ßen Kairos waren sicher schon zum Leben erwacht. Ich mußte sehr fest – und traumlos – geschlafen haben, nachdem Ourida mich beruhigt hatte.

War sie bei mir geblieben, bis ich in den Schlaf gefunden hatte? Das letzte, woran ich mich erinnerte, waren ihre zarte Hand auf meiner Stirn und das behag-liche Gefühl, das mich dabei durchströmte.

Ich sah mich in meinem Zimmer um und mußte mit leiser Enttäuschung feststellen, daß ich allein war. Andererseits hatte ich kaum erwarten können, daß Ourida die ganze Nacht über bei mir blieb. Aber – war sie überhaupt hiergewesen?

Je länger ich darüber nachdachte, desto unwirklicher erschien mir ihr nächtlicher Besuch. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, weshalb Ourida das hätte tun sollen. Ich war ein Fremder für sie. Zwar hatten wir ihr das Leben gerettet, aber ich wurde den Eindruck nicht los, daß sie sich in diesem Haus wie eine Gefangene fühlte. Je klarer mein frisch erwachter Verstand wurde, desto mehr verfestigte sich in mir die Gewißheit, daß ihre Anwesenheit nicht mehr als ein Traum gewesen war. Was ich sehr bedauerte.

Ich schwang mich aus dem Bett, ging zu der Anrichte neben der Tür und blickte in den ovalen Spiegel. Mein sonst glattes Gesicht war unrasiert, und die sprießenden Bartstoppeln hatten dieselbe dunkle Farbe wie mein Haar, das durch die Bettruhe in Unordnung gebracht war. Manchmal, wenn schöne Damen in der Nähe waren, zog Onkel Jean mich damit auf, was für ein hübscher Bursche ich doch sei und dass die Frauenherzen bei meinem Anblick höher schlagen müßten. Im Augenblick allerdings konnte ich davon nichts erkennen. Obgleich ich die zweite Hälfte der Nacht im tiefen Schlaf verbracht hatte, sah mein Gesicht grau und müde aus.

Ich benetzte es mit dem Wasser aus der Porzellan-schüssel, um meine Lebensgeister zu wecken. Dabei fiel mein Blick auf das sorgsam zusammengefaltete Tuch neben der Schüssel. Ich trocknete meine Hände und griff erst dann nach dem Tuch. Es war feucht.

Verwirrt ging ich zur Gartentür und öffnete sie in der Hoffnung, die frische Morgenluft könne mir Klar-heit verschaffen. Das Flöten eines Graubülbüls, der im Geäst eines großen, schattenspendenden Eukalyptusbaums saß, erschien mir zu dieser frühen Stunde unan-gemessen munter. Von der Straße, die ich von hier aus nicht einsehen konnte, drangen Stimmen und das Knarren eines Fuhrwerks an mein Ohr, aber in dem friedlichen Garten erschienen mir die Geräusche wie aus einer anderen Welt. Ich folgte dem Gesang des Vogels, setzte mich auf die verwitterte Steinbank, über die sich das Astwerk des Eukalyptusbaums wie ein schützendes Dach wölbte, und sog den belebenden Eukalyptusduft ein. Der Alptraum kam mir zu Bewußtsein, und ich verglich ihn mit dem, der mich draußen in der Wüste heimgesucht hatte. In der vergangenen Nacht war etwas anders gewesen: Die Angreifer hatten das Gesicht des Mörders gehabt.

Ja, er war ein Mörder gewesen, und trotzdem fühlte ich mich schuldig. Immer wieder sagte ich mir, daß mir nichts anderes übriggeblieben war, als ihn zu töten.

Vielleicht hatte ich sogar anderen Menschen das Leben gerettet. Niemand vermochte zu sagen, ob die Ermor-dung des alten Abul eine einmalige Tat gewesen war.

Vielleicht hätte der Mörder erneut zugeschlagen, vielleicht noch viele Male, hätte ich ihn nicht gestellt und gerichtet!

Ich konnte mir das noch so oft sagen, ich wurde die Gewissensbisse nicht los. Einen Menschen zu töten, und mochte er auch noch so schlecht gewesen sein, erschien mir als die größte aller Anmaßungen.

Ich hörte Schritte und blickte auf. Mein Onkel, bereits vollständig angekleidet, trat auf mich zu und be-grüßte mich mit einem Lächeln.

»Guten Morgen, Bastien. Noch nicht angezogen?

Wir sollten nicht zu spät frühstücken, schließlich sind wir bei unserem Nachbarn zum Vormittagskaffee eingeladen. Das hast du doch nicht vergessen?«

Daran hatte ich wirklich nicht mehr gedacht, aber in meiner derzeitigen Verfassung beschäftigte es mich auch nicht übermäßig.

Onkel Jean merkte, daß mit mir etwas nicht stimmte, und fragte, ob ich Sorgen hätte. Ich erzählte ihm von meinem Traum, erwähnte aber mit keinem Wort Ouridas Besuch, mochte er nun Wirklichkeit oder Einbildung gewesen sein. Ich wollte nicht, daß mein Onkel dachte, Ourida hätte einen solchen Eindruck auf mich gemacht, daß ich sogar von ihr träumte.

»Wieder dieser Traum, den du schon in der Wüste hattest, das ist in der Tat seltsam«, sagte Onkel Jean.

»Was genau hat die Stimme gesagt?«

Ich wiederholte die Worte: »Das Kreuz, du mußt es behüten! Rette das Kreuz!«

»Was für ein Kreuz war damit gemeint?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, Onkel, aber das ist es auch nicht, was mich beschäftigt.«

»Was dann?«

»Das Gesicht des Mannes, den ich getötet habe.

Weshalb sucht es mich im Traum heim? Ist das Gottes Strafe dafür, daß ich gegen das sechste Gebot verstoßen habe?«

Mein Onkel schüttelte den Kopf. »Du hattest keine Wahl, und deshalb war deine Tat gerechtfertigt. Au-

ßerdem war dieser Mann kein Christ.«

»Aber er war ein Mensch, und ich fühle mich schuldig.« Ich fiel vor ihm auf die Knie, faltete die Hände wie zum Gebet und blickte flehend zu ihm auf. »Bitte, Vater, erteilen Sie mir Absolution!«

Vater – so hatte ich ihn schon lange nicht mehr genannt.

Stirnrunzelnd sah er mich an und fragte: »Bereust du, was du getan hast?«

»Ja, Vater.«

»Rührt deine Reue aus tiefem Abscheu vor deiner Tat und nicht nur aus der Furcht vor der Strafe des Herrn?«

»Ja, Vater.«

»Bist du festen Willens, in Zukunft kein Menschenleben mehr zu nehmen?«

»Ja, Vater.«

Er legte die rechte Hand auf meine Stirn und sagte feierlich: »Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und den Heiligen Geist gesandt zur Ver-gebung der Sünden. Durch den Dienst der Kirche schenke er dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«

Bei den letzten Worten löste er die rechte Hand von meiner Stirn, um vor mir das Kreuz zu schlagen.

»Amen«, wiederholte ich und fühlte mich erleichtert wie früher im Kloster St. Jacques, wenn mein Onkel mir meine Sünden vergeben hatte.