31. KAPITEL
Der Aufstand
m dritten Tag nach dem Angriff auf das Tal der A Beduinen bewegte sich unsere langgezogene Marschkolonne aus Soldaten, Pferden und Hunderten von Lastkamelen auf Kairo zu, das wir noch in den Vormittagsstunden zu erreichen hofften.
Wir hätten auch schon einen Tag eher ankommen können, hätte General Bonaparte nicht mit Rücksicht auf die von dem Wüstenmarsch erschöpften Soldaten ein frühes Abendlager befohlen. Er selbst ritt an der Spitze der Truppen auf einem hellen, fast weißen Kamel, als wolle er seinen Männern zeigen, wie hervorragend sich dieses Tier zur Durchquerung der Wüste eignete. Vermutlich beschäftigte sich sein stets planender Geist mit dem Kamelkorps, das er nach General Lannes’ Worten aufstellen wollte.
Auch der Bonaparte treuergebene Lannes saß auf einem hellen Kamel. Alle anderen Offiziere sowie mein Onkel und ich bevorzugten den Pferderücken, der uns nicht so schwankend erschien wie der eines Kamels. Als vor uns eine kleine Staubwolke auftauchte, gab Bonaparte den Befehl zum Halten und blickte durch sein Fernrohr.
»Es ist Dommartin mit einer Dragonereskorte!«
stellte er erstaunt fest. »Sie haben es eilig und kommen im Galopp auf uns zu.«
»Offenbar haben sie eine wichtige Botschaft für uns«, meinte Lannes.
Bonaparte nickte. »Eine sehr wichtige, wenn Dommartin persönlich den Kurier spielt.«
Ich kannte Dommartin nur vom Sehen. Der noch junge General – er mochte allenfalls Anfang Dreißig sein – war in Bonapartes Ägyptenarmee der Oberbefehlshaber der Artillerie; ein Posten, den er zuvor in der Rheinarmee bekleidet hatte. Es hieß, daß Bonaparte seit der Belagerung von Toulon große Stücke auf ihn hielt.
Das mußte wohl so sein, denn Bonaparte, mit Leib und Seele Artillerist, hätte seine geliebten Kanonen niemandem überantwortet, der nicht sein vollstes Vertrauen genoß.
Bald konnte ich die Reiter mit bloßem Auge erkennen, an ihrer Spitze tatsächlich Dommartin. Das helle Haar quoll unter seinem Hut hervor und reichte ihm fast bis auf die Schultern.
Als seine Begleiter und er ihre Pferde vor uns zügelten, sah man Männern und Tieren die Erschöpfung an.
Schaum troff den Pferden aus den Maulwinkeln, und die Reiter waren vor Schweiß so naß, als hätten sie ein Bad genommen. »General Bonaparte, was für ein Glück!« keuchte Dommartin. »Eine Karawane hat Ihre Truppe gestern nachmittag gesichtet. Nur deshalb hatte ich Hoffnung, ein Gewaltritt könnte mich schnell zu Ihnen führen.«
Bonaparte beugte sich vor und reichte Dommartin seine Feldflasche. »Trinken Sie erst mal einen Schluck, aber nicht zu hastig bei der Hitze! Und dann erzählen Sie in Ruhe, was Sie herführt. Und ihr, Dragoner, gönnt euch und euren Pferden auch einen ordentlichen Schluck Wasser!« Das ließen die Männer sich nicht zweimal sagen; eilig griffen sie zu ihren Flaschen.
»Etwas Entsetzliches ist geschehen«, berichtete Dommartin, nachdem er die Feldflasche abgesetzt und Bonaparte zurückgegeben hatte. »In Kairo ist ein Aufstand ausgebrochen. General Dupuy – er ist tot!«
Bestürzung trat auf die Gesichter unserer Offiziere.
Dupuy war der Stadtkommandant von Kairo gewesen.
Sein Tod bedeutete, daß der Aufstand, von dem Dommartin sprach, eine ernstzunehmende Angelegenheit war.
»Was ist mit ihm geschehen?« fragte Bonaparte.
»Die Stimmung in Kairo ist kritisch«, antwortete Dommartin. »Viele Einwohner beschweren sich über die ihnen auferlegten Steuern. Es geht das Gerücht, daß sich die türkische Armee, unterstützt von mehreren Beduinenstämmen, auf die Stadt zubewegt, um sie uns zu entreißen.«
»Das ist Unsinn!« bellte Bonaparte. »Die Türken haben uns den Krieg erklärt, das ist wahr, aber sie haben hier keine Truppen stehen, nirgends. Was die Beduinen betrifft, so mag es einzelne rebellische Stämme geben. Aber erst vor drei Tagen haben wir bewiesen, daß wir die nicht fürchten müssen. Also weiter, Dommartin, erzählen Sie!«
»Heute morgen sollte unter großer öffentlicher An-teilnahme eine Gerichtsverhandlung stattfinden, und
…«
»Wer hat wen verklagt?« fragte Bonaparte, der immer alles genau wissen wollte, dazwischen.
»Einige Kaufmannsgilden haben den Großen Diwan verklagt, weil der ihnen einen Beitrag zum Unterhalt unserer Truppen auferlegt hat. Eine unüberschaubare Menschenmenge war zusammengekommen, um die Verhandlung zu verfolgen. Immer wieder wurden antif-ranzösische Parolen ausgerufen, und die Menge hat sie mit wachsender Begeisterung aufgenommen. Es war, als bräche jedweder Ärger, der sich in den Einheimischen aufgestaut hat, mit einer gewaltigen Explosion hervor. Es wurde über die Steuern geklagt und darüber, daß wir Häuser und Moscheen eingerissen haben, um die Verteidigungsanlagen zu verstärken.«
»Das alles war notwendig, um die Stadt gegen einen möglichen Angriff zu verteidigen!« schnaubte Bonaparte. »Die Ägypter sehen das wohl ein wenig anders«, fuhr Dommartin fort. »Als Dupuy erkannte, wie ge-fährlich die Stimmung wurde, bat er den Kadi, die Verhandlung zu vertagen, und der Kadi war einverstanden.
Aber zu spät. Ein Araber erschoß einen Dragoner aus Dupuys Begleitung, woraufhin es zu einem Kampf kam.
Dupuy und seine Dragoner konnten die Lage unter Kontrolle bringen, doch als sie den Gerichtshof verlie-
ßen, wurde Dupuy an einer Straßenecke von einem tödlichen Lanzenstich getroffen. In Kairo hat sich daraufhin das Gerücht verbreitet, nicht Dupuy sei tot, sondern Sie, General Bonaparte. Das haben die Muez-zin zum Anlaß genommen, alle Gläubigen zum Kampf um Kairo aufzurufen, und jetzt herrscht in der Stadt das reine Chaos. Die Häuser von Europäern und von jenen Ägyptern, die mit uns sympathisieren, werden gestürmt, geplündert und auch in Brand gesteckt. Ich weiß nicht, wohin das führen soll, wenn nicht bald etwas geschieht. Sie müssen so schnell wie möglich nach Kairo kommen, Bürger General! Man hält Sie für tot.
Wenn die Aufständischen Sie erblicken, kommen sie vielleicht zur Vernunft!«
»Sie haben recht, Dommartin«, erwiderte Bonaparte und wandte sich an seine Offiziere, um ihnen die not-wendigen Befehle zu erteilen.
Er selbst wollte sich mit Kavallerie und Infanterie in einem Eilmarsch nach Kairo begeben, die schwerfällige Artillerie und der Kameltroß sollten folgen. Onkel Jean und ich lehnten das Angebot ab, beim Troß zu bleiben.
Meinen Onkel mochte die Furcht um unser Haus und seine wertvollen Bücher antreiben.
Bei mir war es die Sorge um Ourida. Der Alptraum, der mich in der letzten im Beduinental verbrachten Nacht heimgesucht hatte, beschäftigte mich. War er eine Warnung gewesen ähnlich der, die sechshundert Jahre zuvor die erste Ourida gespürt hatte, als Gilbert d’Alamar und seine Gefährten ihre Familie ermordet hatten?
Kehrten wir, was Ourida betraf, zu spät nach Kairo zu-rück? Der Gedanke brachte mich fast um den Verstand.
Ich ritt neben Dommartin und fragte ihn, ob die Aufständischen auch Bonapartes Palast gestürmt hätten, aber darüber konnte er mir nichts sagen.
Schon von weitem sahen wir über den Dächern und vierhundert Minaretten Kairos Rauchwolken in den blauen Himmel steigen. An mehreren Stellen der Stadt mußten Feuer ausgebrochen sein. Erst hörten wir Geschützdonner, dann auch das Knattern von Musketen sowie einen seltsamen Singsang, melodisch und doch so schrill, daß er durch Mark und Bein ging. Ein Ge-räusch, wie ich es noch nie gehört hatte.
Aus den Vororten wälzte sich uns eine ungeordnete Menschenmenge entgegen. Bonaparte, der – ebenso wie Lannes – sein Kamel durch ein Pferd ersetzt hatte, betrachtete sie durch sein Fernrohr.
»Rebellen«, stellte er fest und befahl seinen Offizieren, die Infanterie in Stellung zu bringen.
Unter lautem Geschrei kamen die Aufständischen auf uns zu, und ich sah etliche blanke Klingen im Mor-genlicht blitzen. Einige der Ägypter hatten Schußwaffen, aber sie waren nicht so kaltblütig wie unsere Soldaten. Viel zu früh feuerten sie ihre Waffen ab, und nicht ein einziges Stück Blei traf ins Ziel.
Die glücklosen Schützen konnten nicht anhalten, um ihre Musketen nachzuladen. Die Menge, die wie eine unkontrollierbare Flut in unsere Richtung drängte, riß sie einfach mit. Bonapartes Infanterie dagegen feuerte ihre Salven erst ab, als sie, den Feind klar vor Augen, den Befehl dazu erhielt. Reihenweise fielen die Aufständischen, und die übrigen zogen sich unter dem sich ausbreitenden Pulverqualm in die Vororte zurück.
»Ein erster Sieg!« jubelte Dommartin.
»Der noch nichts zu bedeuten hat«, erwiderte Bonaparte. »In der Stadt wird es erst richtig schwierig. Da können die Aufwiegler sich in jedem Haus, hinter jeder Mauer und auf jedem Dach verstecken. Aber es hilft nichts, meine Herren, wir müssen die Rebellion im Keim ersticken, wollen wir verhindern, daß sie sich über das ganze Land ausbreitet.«
Ich ritt zu Bonaparte, mit dem ich seit unserem Wortwechsel im Tal der Abnaa Al Salieb nicht mehr gesprochen hatte. Er blickte mir halb irritiert, halb unwillig entgegen.
»Was ist mit Ihrem Palast, Bürger General?«
»Wie soll ich das wissen?« erwiderte Bonaparte unwirsch. »Ich habe jetzt anderes im Kopf. Vielleicht wird auch mein Haus von den Plünderern …« Er stockte und faßte sich an die Stirn. »Ah, jetzt begreife ich! Sie sorgen sich um Ihre Wüstenrose, Bürger Topart!«
»Liegt nicht auch Ihnen daran, daß Ihr Palast nicht in feindliche Hände fällt? Sie haben gewiß wichtige Unterlagen dort, Bürger General.«
»Also gut«, sagte er mit einem vieldeutigen Lächeln.
»Schlagen Sie sich meinethalben zum Esbekijehplatz durch. Ich gebe Ihnen eine Schwadron Dragoner mit, das muß genügen. Solange die Lage nicht unter Kontrolle ist, kann ich es mir nicht erlauben, meine Kräfte zu zersplittern.«
Mein Onkel zeigte sich wenig begeistert von dem Plan, ließ sich aber nicht davon abhalten, mich zu begleiten. »Ich habe dich nicht aus der Wüste zurückge-holt, damit du dir in Kairo von Aufständischen den Kopf einschlagen läßt. Also muß ich wohl oder übel auf dich aufpassen!«
Die Dragonerschwadron wurde von einem Oberleutnant Franval angeführt, der bei Rivoli sein linkes Auge verloren hatte. Die schwarze Augenklappe ließ sein kantiges Soldatengesicht noch martialischer erscheinen. Bevor wir aufbrachen, bestand er darauf, daß sowohl Onkel Jean als auch ich zwei Pistolen erhielten. Ich hoffte, ich würde die Dinger nicht benutzen müssen.
Franval zog seinen Säbel, rief ein Kommando, und die Schwadron trabte an; mein Onkel und ich mittendrin. Ich hatte noch nie einen Kavallerieangriff geritten, aber als ich das Trommeln der Hufe vernahm und Teil der vorwärtsstürmenden Horde wurde, spürte ich etwas von dem Rausch, der Soldaten im Gefecht ergreifen musste und es wohl erst ermöglichte, daß sie ihr Leben wagten.
Wir erreichten die ersten Häuser, und jetzt sah ich, woher der unablässige, schrille Singsang kam. Auf den Flachdächern standen Frauen und stießen die weithin hörbaren Laute aus. War es Jubelgeschrei, ein Anfeuern für die Kämpfenden oder eine Totenklage für die Gefallenen? Ich wußte es nicht, aber ich hätte viel dafür gegeben, daß die Frauen endlich schwiegen. Das Geheul erschreckte mich, erinnerte es mich doch daran, wie anders dieses Ägypten war, wie geheimnisvoll und ge-fährlich.
Als wir zwischen den Häusern entlang galoppierten, wurde aus der Deckung heraus das Feuer auf uns eröffnet. Die meisten Kugeln verfehlten ihr Ziel, aber einige Dragoner wurden doch verwundet.
Franval achtete darauf, niemanden zurückzulassen.
»Einen Franzosen hier allein zu lassen, inmitten der rebellierenden Meute, käme einem Todesurteil gleich«, rief der Oberleutnant seinen Männern zu. »Genausogut könnte man ihn einem Rudel hungriger Wölfe vorwer-fen.«
Nicht mehr weit vom Esbekijehplatz entfernt, sahen wir uns plötzlich einer Barrikade gegenüber, aufgeschichtet aus Möbeln, die man wohl aus den Häusern der Europäer geraubt hatte. Dahinter erhoben sich Aufständische, um uns mit einem Geschoßhagel zu empfangen. Nur einige schossen mit Musketen oder Pistolen, die anderen warfen mit Steinen nach uns. Ein faustgroßer Stein traf meinen Onkel am Kopf. Er schwankte und verlor seinen Hut, hielt sich aber im Sattel. Ich brachte mein Pferd neben das seine, um ihn im Notfall zu stützen, doch das schien nicht nötig zu sein. Zwar lief Blut über seine Wange, aber seine robu-ste Natur gewann rasch die Oberhand.
»Ist es schlimm, Onkel?« fragte ich laut, um den allgemeinen Lärm zu übertönen.
Er lächelte tapfer. »Nicht so schlimm, wie es aussieht. Wäre das kein Stein gewesen, sondern eine Blei-kugel, sähe es übler aus.«
Inzwischen hatten einige Dragoner ihr Pferd über die Barrikade springen lassen und hieben mit dem Säbel auf alles ein, was sich bewegte. Wer von den Verteidigern zu Boden ging, geriet unter die stampfenden Hufe der Soldatenpferde. Binnen weniger Minuten war auch der letzte Rebell getötet, und die Barrikade fiel. Angeführt von Franval, der eine leichte Schulterverletzung davongetragen hatte, setzten wir unseren Weg fort.
Sobald vor uns der Esbekijehplatz mit dem beeindruckenden Palast auftauchte, der ursprünglich Elfi Bey, dem Pascha von Kairo, gehört und in dem nach der Eroberung der Stadt Bonaparte sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, schlug mein Herz höher. Ich war hin-und hergerissen zwischen der Freude darüber, daß ich Ourida bald wiedersehen würde, und der Furcht, mein Alptraum könnte sich bewahrheiten. Als ich die eingeschlagenen Fensterscheiben und dann vor dem Palast die reglos im Staub liegenden Soldaten sah, gewann die Furcht die Oberhand.
Wir hörten Schüsse irgendwo aus dem Palast, und Franval rief: »Sieht so aus, als kämen wir gerade noch rechtzeitig.«
»Oder wir kommen einen Augenblick zu spät«, erwiderte ich, von einer düsteren Vorahnung erfüllt. Der Oberleutnant ließ seine Männer absitzen. Ein paar Dragoner bildeten draußen eine Abwehrstellung, die anderen drangen unter Franvals Führung in das Ge-bäude ein. Onkel Jean und ich schlossen uns der zweiten Gruppe an. Wir liefen über Treppen und durch endlose Gänge. Überall sah ich Spuren des Kampfes und der Verwüstung. Als wir um eine Ecke bogen, flogen uns Kugeln um die Ohren. Französische Grenadiere feuerten auf eine Horde Aufständischer, die sich am Ende des Ganges verschanzt hatten. Als die Karabiner der Dragoner hinzukamen, war es schnell entschieden.
Die meisten Plünderer fielen, die anderen zogen sich eilig zurück.
Ein rothaariger Sergeant, der aus einer häßlichen Stirnwunde blutete, war der ranghöchste der Grenadiere. Wir fragten ihn, was sich ereignet hatte.
Er schüttelte den Kopf, als könne er es selbst nicht ganz begreifen. »Es ging alles so schnell. Wir dachten, die Verteidigungsgürtel rund um den Palast würden halten. Aber auf einmal waren sie da, die Rebellen, fielen von allen Seiten über uns her, als hätten sie sich abgesprochen. Durch sämtliche Türen und Fenster strömten sie herein, unaufhaltsam, wie Wasser in ein leckes Schiff.«
Er hockte sich auf den Boden, lehnte den Rücken gegen die Wand und band ein schmutziges Tuch um seinen Kopf. Dann blickte er Franval an. »Wären Sie nicht gekommen, Oberleutnant, es wäre wohl aus gewesen!«
»Was ist mit Ourida?« Ich konnte nicht länger warten.
»Mit wem?«
»Das Beduinenmädchen«, erklärte mein Onkel. »Wo hält es sich auf?«
»Sie ist im rückwärtigen Teil des Palastes untergeb-racht. Soll ich Sie hinführen?«
»Ja, bitte, Sergeant!« sagte ich hastig.
Ächzend erhob er sich, und wir folgten ihm, Onkel Jean und ich, Franval und einige weitere Dragoner.
Auch in dem Trakt, in den der Sergeant uns brachte, war gekämpft worden. Wir mußten über Tote und Verletzte steigen, um zu Ouridas Tür zu gelangen.
»Von innen verriegelt«, sagte der Sergeant, der versucht hatte, sie zu öffnen.
Ich klopfte gegen die Tür und rief laut nach Ourida, aber alles blieb still.
Franval gab seinen Dragonern einen Wink. »Aufbrechen, schnell!«
Drei-, viermal warfen sich die kräftigen Soldaten gegen die Tür, dann sprang sie auf. Wir stürmten ins Zimmer, aber Ourida war nicht da. Ein großes Fenster, das zum Garten hinausging, war eingeschlagen.
»Vielleicht ist sie in den Garten geflohen, als sie den Kampflärm hörte«, sagte der Oberleutnant.
Mein Onkel blieb vor den Scherben stehen und schüttelte den Kopf. »Nein, sehen Sie doch. Die Scherben liegen im Zimmer, nicht draußen. Das Fenster ist also von außen eingeschlagen worden; da wollte jemand einsteigen. Ich fürchte, Ourida ist entführt worden.«
Ich dachte an den Vorfall in unserem Garten, als der Wachtposten auf einen Unbekannten geschossen hatte.
Was wir damals nur angenommen hatten, schien jetzt tatsächlich geschehen zu sein.
Alles deutete darauf hin, daß Ourida in die Hände von Entführern gefallen war. In die Hände der Ritter vom Verlorenen Kreuz?
Wir stiegen durch das Fenster nach draußen, wo sich hinter dem malerischen Garten offenes Land erstreckte.
Auch hier war gekämpft worden. Französische Soldaten und Aufständische lagen am Boden. Ein Grenadier hockte rücklings an eine Akazie gelehnt und verband seinen blutenden Oberschenkel. Wir fragten ihn, ob er Ourida gesehen hatte.
»Das Beduinenmädchen? Nein, aber ich bin auch erst vor zwei Minuten aufgewacht. So ein dreckiger Rebell hat mir mit dem Knüppel eins übergezogen.« Er faßte vorsichtig an seinen Kopf und stöhnte auf. »Das tut fast mehr weh als das Bein.«
Verzweifelt suchte ich das Gelände nach weiteren Verwundeten und Toten ab. Sollte ich hoffen oder fürchten, hier auf Ourida zu stoßen? Aber sie befand sich nicht unter ihnen. Schließlich entdeckte ich am Ende des Gartens, versteckt zwischen ein paar Son-nenblumen, einen toten Ägypter, dessen seltsam ge-formtes Schwert meine Aufmerksamkeit erregte.
Es war keine orientalische Waffe, sondern eine europäische, geschmiedet wie im Mittelalter. Als ich sie aufnahm, sah ich die eingravierten Kreuze, eins auf jeder Seite des Griffes, ein helles und ein rötliches.
Mein Onkel kam zu mir. »Hast du etwas gefunden?«
Ich zeigte ihm das Schwert. Dann kniete ich mich hin und öffnete den Mund des Toten.
»Und?« fragte Onkel Jean.
»Keine Zunge.«