10. KAPITEL
Hinter dem Schleier
wei Tage nach General Bonapartes Besuch in Z unserem Haus rückte mein Onkel an der Spitze seiner Expeditionskolonne aus Kairo ab. Ich blickte der Staubwolke, die von Dutzenden Soldatenstiefeln aufgewirbelt wurde, mit gemischten Gefühlen nach. Gern wäre ich mit Onkel Jean gegangen, aber ebenso gern blieb ich zurück – bei Ourida. Allerdings, Bonapartes Auftrag erfüllte mich mit wenig Freude. Ich tröstete mich mit der Überlegung, daß ich nichts ausspionieren konnte, solange Ourida nicht sprach. Mit diesen zwies-pältigen Gedanken begann ich meine erste Unterrichts-stunde, die ich draußen im Garten abhielt. Der Vormittag und der späte Nachmittag schienen mir am besten geeignet, da die Mittagshitze der Aufmerksamkeit nicht eben förderlich war.
Anfangs glaubte ich, Ourida würde nichts lernen –
nichts lernen wollen. Zweifellos war sie intelligent, vielleicht zu intelligent, um sich aushorchen zu lassen.
Möglicherweise sprach sie mit niemandem, um sich selbst zu schützen. Trug sie ein Geheimnis mit sich herum, das den Tod bringen konnte, dem sie im Tempel nur um Haaresbreite entronnen war?
Meine düsteren Gedanken verflogen, je länger ich mit ihr zusammen war. Sie lernte, anfangs nur langsam, aber sie lernte! Zunächst einfache Wörter wie Garten, Himmel oder Baum, wie Zimmer, Bett oder Tisch.
Nicht lange, und ich konnte mich mit ihr über die alltäglichen Verrichtungen in unserem Haus verständigen, wozu zweifellos beitrug, daß sie sich inzwischen recht gut eingelebt hatte. Der Unterricht bereitete uns beiden, wie mir schien, zunehmend Freude, und die Tage eilten in einer gelösten, fast heiteren Stimmung dahin.
Ein abruptes Ende fand diese Gelöstheit an jenem Nachmittag, an dem ich Kairos Geschäftsviertel aufsuch-te, um einige Rechnungen zu begleichen und bei den Lieferanten neue Bestellungen aufzugeben. Als ich das Ladenlokal eines Weinhändlers aus der Gascogne verließ, stieß ich mit einer Einheimischen zusammen, die den Schleier trug. Eine Sitte, von der immer mehr Frauen sich verabschiedet hatten, seit wir Franzosen in Kairo lebten. Bei dem Zusammenprall ließ die Frau ihren Obs-tkorb fallen, und die Früchte rollten durch den Dreck.
Sofort ließ ich mich auf die Knie nieder, um ihr beim Aufsammeln zu helfen. Da verrutschte der Schleier, und ich erstarrte in der Bewegung. Das junge Gesicht mit den braunen Augen war mir wohl bekannt, nur der ver-schlossene, beinahe feindselige Blick befremdete mich.
Ich hatte diese Züge viel offener in Erinnerung.
»Aflah!« brachte ich schließlich erstaunt hervor.
Maruf ibn Saads Tochter zog ohne ein Wort den Schleier wieder vor ihr Antlitz und fuhr mit dem Ein-sammeln der Früchte fort. »Warum sprechen Sie nicht mit mir? Und warum tragen Sie den Schleier?«
Ohne mich anzusehen und ohne ihre Arbeit zu un-terbrechen, sagte sie: »Uns Frauen, die wir der Lehre Mohammeds folgen, ist es nicht erlaubt, mit Fremden zu sprechen. Wir tun gut daran, unser Gesicht zu verhüllen, damit Fremde weder begehrliche Blicke auf uns werfen noch das Wort an uns richten.«
Sie sprach eintönig, ganz so, als hätte sie die Sätze auswendig gelernt.
»Aber ich bin kein Fremder. Ich war im Haus Ihres Vaters zu Gast. Wir haben uns unterhalten, und damals haben Sie Ihr Gesicht nicht verhüllt, weder vor mir noch vor meinem Onkel.«
»Heute weiß ich, daß es ein Fehler war. Sie mögen Gast im Haus meines Vaters gewesen sein, aber Sie sind dennoch ein Fremder für mich und werden es immer bleiben. Sie kommen aus einem fremden Land, in dem eine fremde Religion herrscht. Mehr noch, in dem man den Gläubigen ihre Lehre schlechtredet und die Gottes-häuser schließt. Ihre Brüder sind in mein Land gekommen und haben meine Brüder und Schwestern gnadenlos getötet. Wie können wir einander da anderes sein als Fremde?«
»Jedes Volk tötet, wenn es sich im Krieg befindet, Aflah, auch das Ihre.«
»Nicht wir haben diesen Krieg begonnen, sondern ihr wart das. Ihr seid über das Meer zu uns gekommen und habt Krieg und Tod, Verwüstung und Verderben in unsere Städte und Dörfer gebracht. Ihr kämpft nicht nur gegen Soldaten, ihr raubt und plündert, und wer sich euch in den Weg stellt, wird getötet!«
Je länger sie sprach, desto leidenschaftlicher wurde ihr Ton; es war eine einzige Anklage.
Ein schlimmer Verdacht stieg in mir auf. »Sprechen Sie von dem Diener, von …«
»Hassan.« Aflah sprach den Namen aus, nach dem ich vergeblich suchte. »Er ist tot, ermordet von den glorreichen französischen Soldaten!«
»Aber der Arzt ist doch bei ihm gewesen. Es hieß, Hassan sei auf dem Weg der Genesung.«
»Zwei Tage später hat sich sein Zustand ohne Vor-warnung verschlechtert. Bevor wir noch Hilfe herbeiru-fen konnten, war er gestorben.«
»Das tut mir leid, ganz aufrichtig.«
Das konnte nur ein schwacher Trost sein. Ich bez-weifelte, daß mein Beileid ihr etwas bedeutete. Sie ließ es mit keinem Wort, mit keiner Geste erkennen.
Mir fiel ein, was Aflahs Vater meinem Onkel und mir erzählt hatte: Aflah und Hassan waren zusammen aufgewachsen, und der junge Diener war für sie beinahe ein Bruder gewesen. Beinahe nur? Mir schien, sie trauerte um ihn wie um einen leiblichen Bruder.
Die weltoffene Aflah hatte sich vollkommen verwandelt. Gewiß, schon vorher war sie auf die Franzosen nicht sonderlich gut zu sprechen gewesen, wie Onkel Jean und ich bei unserem Besuch erfahren hatten, aber die damalige Ablehnung schien sich in blanken Haß verwandelt zu haben. Ich hoffte inständig, daß dies ein vorübergehender Zustand sein möge, hervorgerufen durch den Schock über Hassans Verlust. Es wäre zu traurig gewesen, die kluge und selbstgewisse Aflah an den Haß und die Verbitterung zu verlieren.
Als sie die letzte Frucht eingesammelt hatte und sich erhob, um ihren Weg fortzusetzen, versuchte ich es noch einmal: »So sollten wir nicht voneinander scheiden, Aflah! Ich weiß, daß Hassan großes Unrecht widerfahren ist. Ich schäme mich dafür, daß französische Soldaten das getan haben. Aber es ist nicht mehr zu ändern. In jedem Volk und jeder Religionsgemeinschaft gibt es gute und schlechte Menschen. Wenn die guten für die Taten der bösen verantwortlich gemacht werden, haben die bösen Grund zu triumphieren. Wir sollten ganz in Ruhe miteinander sprechen. Heute mag nicht der Tag dazu sein, aber ich hoffe, wir finden bald eine Gelegenheit!«
»Ihre Worte ehren Sie, aber sie ändern nichts daran, daß wir verschiedenen Welten angehören. Warten Sie nicht auf einen Tag, der niemals kommen wird!«
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und entfernte sich eiligen Schrittes. Mir war, als hätte ich eine Begegnung mit einem Geist hinter mir. Mit einem Geist, der einmal eine hübsche, aufgeschlossene Frau gewesen war.