Roland!
Der Name verwirrte mich, bis ich begriff, daß es mein eigener war. Nicht Bastien hieß ich, sondern Roland.
»Steh nicht da wie versteinert!« fuhr Gilbert fort.
»Noch ist Zeit, zur richtigen Seite zu wechseln. Sag uns, wo das Kreuz ist, Roland!«
»In Sicherheit«, erwiderte ich, was eine Zornesfalte auf Gilberts Stirn hervorrief.
Ein anderer Ritter zeigte mit der Schwertspitze nach rechts. »Da vorn liegt ein totes Pferd. Von dem anderen Tier und von der Frau ist nichts zu sehen. Sie ist vermutlich allein weitergeritten, um das Kreuz in ein neues Versteck zu bringen.«
»Ja, vermutlich«, sagte Gilbert düster. »Aber das wird ihnen nichts nützen. Wir werden die Frau und das Kreuz finden. Unser ehemaliger Waffenbruder Roland wird uns verraten, wo sie sind.«
Ich schüttelte den Kopf. »Eher sterbe ich.«
»Wie du willst.« Gilbert trieb den Rappen an.
»Dann stirb, Verräter!«
Ich wich dem heranstürmenden Pferd aus und fing Gilberts Schwerthieb mit dem Schild ab. Die Wucht des Schlages ließ meinen Arm erzittern, aber ich hielt stand.
Ein zweiter Reiter näherte sich von rechts. Ich wirbelte herum, tauchte unter seiner herabsausenden Klinge weg und bohrte die meine in seine Seite. Mit solcher Kraft, daß sein Kettenhemd zersplitterte. Der Mann stöhnte auf und fiel zur Seite, stürzte aber nicht gänzlich zu Boden. Sein linker Fuß hatte sich im Steigbügel verfangen, und das davonstürmende Pferd zog ihn mit sich fort.
Ein kräftiger Schlag traf mich im Rücken und zwang mich auf die Knie. Dadurch entging ich einem weiteren Hieb, der meinem Kopf gegolten hatte. Noch im Knien riß ich mein Schwert hoch und bohrte es in den Leib eines Pferdes. Das Tier überschlug sich unter lautem Gewieher und begrub seinen Reiter unter sich.
Als ich aufstehen wollte, ritt mich einer meiner Feinde über den Haufen. Die Hufe trafen mich mit einer Gewalt, daß ich glaubte, mein Schädel würde zersprin-gen. Stöhnend blieb ich am Boden liegen und sah zu, wie die Ritter abstiegen. Sie umringten mich, und Gilbert sagte: »Noch einmal fordere ich dich auf zu sprechen, Roland. Sag uns, wo das Kreuz ist, und wir wollen deinen Verrat vergessen!«
»Ich bin kein Verräter«, erwiderte ich, wobei ich Blut spuckte. »Ich tue nur, was getan werden muß!«
»Nichts anderes tun wir.«
Bei diesen Worten hob Gilbert sein Schwert und ließ es auf mich niederfahren. Die anderen taten es ihm nach. Klinge um Klinge schnitt in mein Fleisch und in mein Leben.
Nicht am Boden lag ich, sondern in Ouridas Armen, in unserem Garten in Kairo. Über uns spielte ein sanfter Abendwind mit den Ästen des großen Eukalyptusbaumes. Nur allmählich wurde mir bewußt, daß ich nicht länger vom Tod bedroht war. Daß ich wieder der Zeichner Bastien war und nicht Ritter Roland – der Verräter!
Ourida strich mit zarten Bewegungen über meinen Kopf, wie um die bösen Geister der Erinnerung zu vertreiben. Mein Atem beruhigte sich. Das Band zwischen uns schien mir stärker denn je. In Ouridas Augen las ich Mitgefühl und Verständnis. O ja, sie wußte, was ich eben geträumt – erlebt – hatte.
Wir teilten ein Schicksal, eine Vergangenheit, verborgen unter dem Schleier der Jahrhunderte. Im Augenblick aber wollte ich von diesem Mysterium nichts wissen. Es genügte mir, Ourida nahe zu sein. Der Frau, die damals in der Wüste fortgeritten war und von der ich geglaubt hatte, ich würde sie nie wiedersehen. Der Frau, die ich liebte!
Ich richtete mich auf und näherte mein Gesicht dem ihren. Obwohl keine Tränen zu sehen waren, machte sie den Eindruck, als habe sie kürzlich geweint. Hatte sie die Ereignisse aus ferner Vergangenheit mit ebensol-cher Heftigkeit erlebt wie ich?
Als ich sanft ihren Kopf zu mir heranzog und meine Lippen mit den ihren vereinigte, ließ sie es geschehen.
Unser Kuß war anfangs weniger von Leidenschaft ge-prägt als von dem Glück, endlich wieder zusammenzu-sein. Ich hielt Ourida fest, als wollte ich sie nie mehr loslassen. Und je länger wir uns küßten, desto stärker regte sich die Leidenschaft. In uns beiden, das fühlte ich.
Ich hob Ourida auf und trug sie in mein Zimmer, wo ich sie vorsichtig aufs Bett legte. Jeder Gedanke an Aflah war verflogen. Hatte es für mich je eine andere Frau gegeben als Ourida?
Sie lag auf dem Bett und blickte mich an, ohne jede Furcht, eher von Erwartung beseelt. Und von Verlangen. Ich kniete mich neben sie und öffnete die Verschlüsse ihres Kleides, entblößte erst die Schultern, dann ihre kleinen, festen Brüste, deren Anblick meinen Mund trocken werden ließ. Wir sahen nichts Anstößiges in dem, was wir taten. Wir waren zwei Liebende, die Jahrhunderte auf diesen Augenblick gewartet hatten. Das einzig Verwerfliche, ein Verrat am Schicksal, wäre gewesen, uns nicht einander hinzugeben. Ich ent-ledigte mich meiner Kleider und ließ mich neben ihr nieder. Langsam fuhr meine rechte Hand über ihre Schultern, ihren Hals und ihre Brüste. Ourida erschauerte. Wieder küßte ich sie, lang und innig, während ich meinen Leib gegen ihren drückte.
Als sie mich sanft von sich wegschob, wurde ich unsicher. Aber sie wollte sich nur ganz entkleiden, dann zog sie mich wieder zu sich heran und spreizte die Beine, um mich in ihrem Schoß zu empfangen. Eine Welle des Glücks erfaßte mich, als wir miteinander verschmolzen. Glück, wie ich es lange nicht empfunden hatte – in diesem Leben nicht.
Lärm riß mich am nächsten Morgen aus dem Schlaf, sehr früh, wie ich am niedrigen Stand der Sonne erkannte. Neben mir lag Ourida, auch sie war eben erst erwacht. Wir lauschten beide und hörten Stimmen, einen heftigen Disput. Irgend etwas war nicht in Ordnung.
Da klopfte jemand an meine Zimmertür, laut und doch seltsam zögernd. »Herr, bist du wach?«
Das war Malik mit seinem eigentümlichen Spra-chengemisch.
»Jetzt schon«, antwortete ich unwirsch. »Was gibt es?«
»Soldaten sind hier, Herr, und wollen Sie sprechen.«
»Hat das nicht Zeit bis nach dem Frühstück?«
»Ein Offizier ist dabei, Herr. Er sagt, der Sultan des Feuers schickt ihn und es ist dringend.«
»Führ ihn in den Salon und sag ihm, ich komme gleich.«
»Ja, Herr.«
Ich stieg in meine Kleider und kämmte mir hastig das nach allen Seiten abstehende Haar, während ich zu Ourida sagte: »Du ziehst dich besser an und gehst in dein Zimmer. Ich habe eine böse Vorahnung.«
Sie nickte und kam meiner Aufforderung nach. Ich wußte nicht, ob sie meine Worte verstanden hatte oder nur aufgrund der Situation begriff, was ich meinte. In der Nacht hatten wir nicht miteinander gesprochen.
Wir waren nicht dazu gekommen.
Als ich den Salon betrat, erkannte ich, daß der Offizier, von dem Malik gesprochen hatte, kein anderer war als der junge General Lannes, der zu Bonapartes engsten Vertrauten gehörte und den ich bei dem gemeinsamen Abendessen hier in diesem Salon etwas näher kennengelernt hatte. Lannes, ein stattlicher Mann mit wallendem dunklen Haar, hatte sich in Italien überaus tapfer geschlagen und mehrere Verwun-dungen davongetragen. Er hatte als erster Soldat unserer Armee den Po überquert und sich bei der Erstürmung der Vororte Mantuas hervorgetan. Einer jener vielen Offiziere in Bonapartes Armee, die durch Tapferkeit und das Beherrschen der Kriegskunst vom einfachen Soldaten bis in höchste Ränge aufgestiegen waren.
Ich begrüßte ihn, ohne meine Verärgerung über die frühe Störung zu zeigen, und bot ihm eine Stärkung an.
»Danke, Bürger Topart, ich habe längst gefrüh-stückt«, entgegnete er steif. »Ein Soldat ist stets bestrebt, vor der Sonne wach zu sein.«
Ich überging die Überheblichkeit und den Tadel, die in seinen Worten lagen, und fragte höflich. »Was führt Sie zu mir, Bürger General?«
»Ein Befehl von General Bonaparte. Sie sollen sich sofort bereitmachen, um sich der Expedition Ihres Onkels anzuschließen. Eine Eskorte wird Sie in einer Stunde abholen und zu dem Wüstentempel begleiten.«
Verwirrt hielt ich mich an einer Stuhllehne fest.
»Wieso? General Bonaparte hat mich beauftragt, Ourida unsere Sprache beizubringen.« Lannes’ Kopf ruckte vor, wie um mich ganz genau zu beobachten. »Und?
Haben Sie in dieser Sache Fortschritte zu melden?«
»Nun ja, man darf keine Wunder erwarten bei jemandem, der ganz neu anfängt. So gesehen hat Ourida beträchtliche Fortschritte gemacht. Aber natürlich wird es seine Zeit dauern, bis sie sich in unserer Sprache richtig verständlich machen kann.«
»Eben aus diesem Grund hat General Bonaparte beschlossen, ab sofort einen erfahrenen Sprachlehrer mit dem Unterricht zu betrauen. Ich werde sie zu diesem Zweck in seinen Palast bringen, wo sie von nun an wohnen wird. Dort wird sie auch sicherer sein als hier.«
»Warum sollte sie hier nicht mehr sicher sein?«
Lannes räusperte sich. »Wie soll ich es sagen? Es ist in der Stadt zu einigen kleineren Unruhen gekommen.
Nichts Bedeutendes. Überall, wo fremde Soldaten Quartier beziehen, regt sich ein gewisses Maß an Widerstand. Bonaparte führt zur Zeit Gespräche mit dem hiesigen Diwan, um zu klären, wie die Bevölkerung zu beruhigen ist. Bis die Unruhen beigelegt sind, ist Bonapartes Palast zweifellos der sicherste Ort in Kairo.«
In mir herrschte innerer Aufruhr. Gerade jetzt, da Ourida und ich zueinandergefunden – uns wiedergefunden – hatten, sollte ich sie gehen lassen? Alles in mir sträubte sich dagegen, und gab es keine Möglichkeit, Bonapartes Befehl zu umgehen. Oder gab es doch eine?
Ich straffte meine Gestalt und sagte mit fester Stimme: »Ich möchte mit General Bonaparte persönlich sprechen!«
»Bedauere, aber er ist zu beschäftigt. Deshalb hat er ja mich geschickt. Sie können sicher sein, daß ich absolut in seinem Sinn handele.«
Vermutlich tat Lannes das, aber das machte die Sache nicht angenehmer. Vielleicht hätte ich mich darüber freuen sollen, daß Ourida bei Bonaparte in Sicherheit sein würde. Aber würde sie auch vor ihm sicher sein?
Ich dachte daran, wie er ihr bei unserem Abendessen Avancen gemacht hatte, und mußte mir eingestehen, daß mich nicht nur die Sorge um Ourida antrieb, sondern auch Eifersucht.
»Warum schickt General Bonaparte mich zu dem Tempel?«
»Damit Sie Ihrem Beruf nachgehen, Bürger Topart.
Sie sind doch Zeichner, oder? Bonaparte wünscht, daß Sie den Tempel, innen wie außen, in allen Einzelheiten festhalten. Er meint, das könne von großer Wichtigkeit sein.«
Zumindest würde mich das einige Zeit von Kairo und damit von Ourida fernhalten. Im stillen mutmaßte ich, daß es Bonaparte in Wahrheit darum ging.
Aber was hatte seinen Sinneswandel ausgelöst? Gab es im Haus noch einen Spion außer mir, der ich diese Aufgabe so sträflich vernachlässigt hatte? Jemanden, der Bonaparte von dem berichtet hatte, was in der vergangenen Nacht zwischen Ourida und mir gewesen war? Mir blieb nichts anders übrig als zu spekulieren.
Ich ließ General Lannes im Salon zurück und suchte Ouridas Zimmer auf, wo ich sie in möglichst einfachen Worten von der neuen Wendung der Dinge unterrichtete. Ihr Blick hing an meinen Lippen, als könne sie mir folgen. Als ich geendet hatte, kam sie zu mir, legte ihre Hände an meine Wangen und sagte in einem Franzö-
sisch, das weitaus besser war als Maliks Sprachsalat:
»Sorge dich nicht, Liebster! Diesmal werden wir uns wiedersehen!«