12. KAPITEL

Das Geheimnis des Tempels

in unheimliches Gefühl beschlich mich, als ich am E Abend des nächsten Tages wieder dort stand, wo unser Abenteuer begonnen hatte. Rings um den oberir-dischen Teil des Tempels hatten die Soldaten, die meinen Onkel begleiteten, ihr Lager aufgeschlagen und erfüllten diesen alten Ort mit der Geschäftigkeit der Grabungsarbeiten. Das mächtige Untier aus Stein aber hockte unbeeindruckt über ihren Köpfen, als nehme es die Existenz solch unbedeutender Kreaturen gar nicht zur Kenntnis.

Doch nicht das geflügelte Fabelwesen jagte mir trotz der Wüstenglut einen Schauer über den Rücken, es war die Erinnerung an das, was in dem unterirdischen Altarraum geschehen war.

Ich konnte es nicht länger für einen Zufall halten, daß wir jenen Raum ausgerechnet in dem Augenblick betreten hatten, als Ourida in höchster Gefahr schwebte. Nein, gewiß hatte das Schicksal, das Ourida und mich Jahrhunderte zuvor getrennt hatte, uns hier zusammengeführt, mit einer Absicht, die für mich so dunkel war wie das Innere des Tempels, wenn man es nicht mit Fackeln ausleuchtete.

Ourida hatte gesagt, diesmal würden wir uns wiedersehen.

Daran klammerte ich mich, das war meine Hoffnung. Aber unter welchen Umständen würde dieses Wiedersehen stattfinden? Und würden wir dann für immer vereint sein, oder würde am Ende wieder eine Trennung stehen wie damals, vor Hunderten von Jahren, in jener kalten Wüstennacht? Wieder und wieder hatte ich überlegt, was die Vision zu bedeuten hatte.

Der Mann an Ouridas Seite war ich gewesen und doch auch wieder nicht. Er hatte anders ausgesehen, hatte rötliches und nicht dunkles Haar gehabt. Aber ich hatte durch seine Augen gesehen und mit seinen Ohren ge-hört, hatte seine Gedanken gedacht und gefühlt, was er fühlte.

Wenn ich daran dachte, empfand ich abwechselnd Neugier und Angst. Die Neugier drängte mich, mehr darüber herauszufinden, warum ich in Ouridas Nähe diese Visionen hatte. Die Angst aber warnte mich, ließ mich befürchten, mein Leben als Bastien Topart zu verlieren und ein anderer zu werden.

Die Ankunft im Lager befreite mich, zumindest vor-

übergehend, von den quälenden Gedanken. Sobald die Soldaten uns bemerkten, kamen sie uns unter lautem Gejohle entgegen. Für sie war unser Erscheinen eine willkommene Abwechslung im täglichen Einerlei. Sie hofften auf Nachrichten aus Kairo, auf Klatsch und Tratsch und gewiß auch auf die Ankündigung, daß sie diesen unwirtlichen Ort bald würden verlassen können.

Das Dutzend Husaren, das mich begleitet hatte, stieg, selbst reichlich ermattet, von den erschöpften Pferden.

Während des langen Rittes hatten die Männer ihre pelz-besetzten Jacken ausgezogen und die schwarzen Mützen abgesetzt. Statt dessen hatten sie sich zum Schutz gegen die Sonne weiße Tücher über den Kopf gebunden.

Trotzdem waren sie, wie ich selbst auch, vollkommen verschmutzt und verdreckt.

Ihre Kameraden aus dem Lager sahen nicht minder verwegen aus. Keiner von ihnen trug seine vollständige Uniform, viele hatten zur Arbeit den Oberkörper entblößt. Ich fragte mich, ob ihre dunkle Haut von der Sonne gefärbt oder einfach nur schmutzig war. Wahrscheinlich beides.

Auch ich rutschte dankbar aus dem Sattel, froh, von der Pein im Gesäß erlöst zu sein. Anders als die Husaren, die allesamt begnadete Reiter waren, fühlte ich mich auf dem Pferderücken nicht eben zu Hause. Zu Beginn unserer Reise hatte mir das noch nicht viel aus-gemacht. Aber im Lauf des zweiten Tages war der Schmerz mit jeder Stunde quälender geworden. Als ich mit staksigem Gang auf das Zeltlager zuschritt, erntete ich Gelächter und ein paar spöttische Rufe aus den rauhen Kehlen der Veteranen.

Zwischen den Soldaten erblickte ich die vertraute Gestalt meines Onkels, der mich mit seinen kräftigen Armen an sich drückte wie ein Bär sein Junges. Solche Gesten waren für ihn eher ungewöhnlich, und gerührt schloß ich, daß er mich wirklich vermißt hatte. Er führ-te mich in sein Zelt, das in der Mitte des Lagers stand, und tischte Wasser und Wein, Brot, Käse und kalten Braten auf.

»Nicht so feudal wie das Essen, das der Österreicher neulich für uns zubereitet hat«, sagte er und setzte sich zu mir. »Aber ich hoffe, es mundet dir trotzdem.«

»Das Essen schon, besonders das Wasser«, erwiderte ich und nahm einen kräftigen Schluck, »aber nicht die Erinnerung an jenen Abend.«

Die eben noch heiteren Züge meines Onkels verdü-

sterten sich. »Was stört dich an dem Abend?«

»Es ist nicht der Abend, der mich stört, sondern unser Gast, Bonaparte«, erklärte ich und berichtete, wieso ich überhaupt gekommen war.

Onkel Jean rieb sich das bartstoppelige Kinn. »Das ist in der Tat seltsam. Hast du Bonaparte irgendwie verärgert?« Ich dachte an die Nacht mit Ourida, beschloß aber, sie nicht zu erwähnen. Mein Onkel wäre sicher wenig erfreut gewesen. Als ehemaliger Mann der Kirche hatte er strenge Vorstellungen von Anstand und Moral.

»Ich wüßte nicht, wie ich Bonaparte verärgert haben sollte. Seit jenem Abendessen habe ich ihn weder gesehen noch von ihm gehört. Bis gestern morgen überraschend General Lannes auftauchte und erklärte, Ourida solle in Bonapartes Palast von einem geübten Sprachlehrer unterrichtet werden.«

Auch daß Ourida, wie ich bei unserem Abschied festgestellt hatte, das Französische viel besser beherrschte als geglaubt, verschwieg ich. Ich hätte es nicht erklären können, ohne meinem Onkel von der mysteri-

ösen Erinnerung an eine vergangene Zeit zu erzählen.

Doch bevor ich das tat, wollte ich mehr darüber in Erfahrung bringen. Tief in mir saß noch immer jene unbestimmte, aber pochende Angst, ich könne Ourida in Gefahr bringen, wenn ich das Geheimnis preisgab.

»Vielleicht hättest du Bonaparte über Ouridas Fortschritte unterrichten sollen«, mutmaßte Onkel Jean.

»Dann wäre er wohl davon ausgegangen, daß du deine Sache gut und richtig machst. So aber fühlte er sich von dir im unklaren gelassen. Ich nehme an, das ist der Grund, warum er einen anderen mit Ouridas Sprachunterricht betraut hat.«

»Gebe Gott, daß es der wahre Grund ist!« seufzte ich. »Wieso? Was befürchtest du?«

»Bonaparte ist dafür bekannt, daß er seinen Appetit auf das weibliche Geschlecht ohne Rücksicht auf andere zu stillen pflegt.«

Mein Onkel lächelte wissend. »Mein Sohn, ich glaube wirklich, du hast dich in Ourida verliebt. Nein, nein, leugne es nicht, auch wenn ich mich damals für das Kloster entschieden habe, weiß ich doch einiges über die Gefühle von Mann und Frau. Ich kann verstehen, daß Ourida, schutzbedürftig und geheimnisvoll, dir außerordentlich anziehend erscheint, aber vergiß nicht, daß wir sehr wenig über sie wissen, zu wenig, als daß du dir ernsthafte Hoffnungen machen solltest. Sieh nur zu, daß du nicht zu einem verliebten Narren wirst!«

»Aber Onkel!« wehrte ich ab und errötete.

»Schon gut«, lachte er, »das sollen in dieser Angelegenheit alle Belehrungen gewesen sein. Ich kann dir deine Gefühle nicht untersagen, niemand kann das, aber du solltest gleichwohl deinen Verstand benutzen.

Im übrigen denke ich, was Bonaparte angeht, brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«

Er zeigte nach draußen, in Richtung Tempeleingang.

»Ich glaube, er ist mehr an diesem alten Heiligtum und seinem Geheimnis interessiert als daran, deine Wüstenrose zu pflücken. Übrigens, wir haben bei der Erkun-dung des unterirdischen Tempels beachtliche Fortschritte gemacht. Gleich morgen früh kannst du, bewaffnet mit Block und Stift, an die Arbeit gehen. Das wird dir helfen, nicht unentwegt an Ourida zu denken.«

Onkel Jean war ein kluger Mann. Als ich am nächsten Morgen den Bleistift über das Papier führte, um die wundersame Architektur des Tempels festzuhalten, nahm mich die Arbeit gefangen, so wie ich es von frü-

her gewohnt war. Zwar verschwand die brennende Sorge um Ourida nicht, aber sie trat doch in den Hin-tergrund, und zuweilen war ich ganz unbeschwert.

Was auch daran lag, daß mein Onkel und seine Helfer wirklich Staunenswertes entdeckt hatten. Der Tempel schien in jüngster Zeit als Wohnort, zumindest als eine temporäre Zuflucht genutzt worden zu sein. Einige der unterirdischen Räumlichkeiten waren zum Wohnen und Schlafen hergerichtet, und in einer Kammer fanden sich Lebensmittel. In den besagten Räumen deuteten Blutspuren auf einen heftigen Kampf hin.

Als mein Onkel mir das zeigte, sagte er: »Meiner Ansicht nach haben die Ritter mit dem doppelten Kreuz die Menschen, die hier Zuflucht gesucht hatten, überfallen und massakriert. Ourida müssen sie sich aus einem besonderen Grund bis zuletzt aufgehoben haben.«

»Massakriert?« Mich schauderte bei der Vorstellung. »Haben Sie die Leichen gefunden?«

»Seltsamerweise nicht. Jemand muß sie fortgeschafft haben.«

»Aber wer? Und wer waren die Menschen, die hier, unter der Wüste, Schutz suchten?«

Onkel Jean legte mir eine Hand auf die Schulter.

»Wenn wir das wüßten, Bastien, wären wir ein gutes Stück weiter. Auf irgendeine ominöse Weise muß ihr Schicksal mit dem der Ritter verbunden sein. Ach, habe ich dir schon berichtet, daß wir einen zweiten Eingang entdeckt haben? Es ist der, durch den Ritter hereingekommen sind und durch den sie den Tempel auch wieder verlassen haben.«

Er führte mich einen langen, nur durch den Schein seiner Fackel beleuchteten Gang hinunter, um mir den zweiten Eingang zu zeigen. Irgendwann stiegen wir über mehrere hohe Stufen nach oben, und Tageslicht blendete uns. Ich muß gestehen, daß ich, im Gegensatz zu meinem Onkel, vollkommen die Orientierung verloren hatte.

Dorniges Buschwerk hatte den Eingang einst verborgen, jetzt war es mit Äxten und Messern entfernt worden. Wir fanden uns unter freiem Himmel wieder. Der Eingang, unscheinbar zwischen den Felsen, ließ von außen nicht erkennen, daß hier ein geheimer Tempel lag. Vergebens suchte ich nach einem Ungeheuer aus Stein wie dem Flügelwesen auf der anderen Seite.

»Merkwürdig«, sagte ich. »Hier hat man sich alle Mühe gegeben, den Eingang vor fremden Augen zu verbergen. Der andere Eingang aber ist weithin sichtbar.«

»Ich denke, der Eingang, durch den wir den Tempel betreten haben, ist erst nach der ursprünglichen Anlage gebaut worden, vermutlich etliche Jahrhunderte später.

Vielleicht war die Höhle zunächst gar kein Tempel, sondern ein Fluchtort, das Versteck einer reichen Familie oder Fürstendynastie. Als die Stätte viel später entdeckt wurde, hat man ihre Entstehung wohl göttlichem Einfluß zugeschrieben und dann den Eingang mit dem geflügelten Raubtier errichtet.« Er deutete auf den felsigen Hügel, der jenen Eingang und unser Lager vor unseren Augen verbarg.

Ich blickte wieder auf die unscheinbare Öffnung zwischen den Felsen. »Und Sie glauben, Onkel, daß die Ritter hier hereingekommen sind?«

»Da bin ich mir sicher. Wir haben Hufspuren gefunden – und Blutflecke, die wohl von Verwundeten stammen.«

»Oder von den Leichen, die von hier fortgeschafft worden sind«, sagte ich.

»Auch das ist möglich. Wir fangen erst an mit der Erforschung dieses Ortes, mag er nun ein Tempel oder ein Versteck gewesen sein.«

»Vielleicht beides«, murmelte ich. »Vielleicht das Versteck für etwas Heiliges.«

In Onkel Jeans Augen blitzte es auf. »Wie kommst du darauf?«

Ich dachte an meine Erinnerung, meine Vision. An das Kreuz, dem Gilbert und seine Männer nachjagten und das Ourida vor ihnen in Sicherheit gebracht hatte.

Das Kreuz! Ich wußte, daß ihm eine große Bedeutung zukam. Menschen waren dafür gestorben. Ich selbst –

oder der Ritter Roland, wenn man so wollte – hatte mein Leben dafür gegeben. Und doch wollte mir nicht einfallen, welche Bewandtnis es damit hatte.

Meinem Onkel gegenüber verschwieg ich, was mich beschäftigte, wenn auch schlechten Gewissens; statt dessen sagte ich: »Es war nur so ein Gedanke. Der Raum, in dem die Ritter Ourida töten wollten, erschien mir so sakral. Das Ganze hatte etwas von einer religiö-

sen Zeremonie an sich. Einer abscheulichen Zeremonie, bei der ein Mensch geopfert werden sollte, und doch

…«

Onkel Jean nickte bedächtig. »Ich verstehe, was du meinst, Bastien. Und du hast recht, was dort geschehen sollte, war mehr als ein bloßer Mord. Für mich hatte es den Anschein, als wollten die Ritter sich von einem Dämon befreien.«

»Ourida ein Dämon? Das ist nicht Ihr Ernst!«

»Was wissen wir schon von ihr?« seufzte er, und ich spürte seinen Blick geradezu körperlich. Es war, als wollte er auf diese Weise in mein Innerstes eindringen und meine Gedanken, meine Seele erforschen.

Früher, in St. Jacques, als ich noch ein Junge war, hätte ich diesem Blick nicht standhalten können. Ich wäre vor Vater Jean auf die Knie gefallen und hätte ihm all meine Sünden gebeichtet, hätte ihm jedes noch so kleine Geheimnis offenbart. Aber inzwischen war ich erwachsen, ein Mann. Gewiß, ich schätzte ihn und fühlte mich ihm verpflichtet, weil ich ohne ihn wohl in der Gosse gelandet wäre. Aber ich fühlte mich auch mit Ourida eng verbunden. Ein Band, das auf mysteriöse Weise seit Jahrhunderten bestand. Deshalb blieb ich bei meinem Schweigen. Zugleich fragte ich mich, ob mein Onkel seinerseits nicht mehr wußte, als er mir gegenü-

ber offenbarte. Sein forschender Blick schien genau das zu sagen.

Ich stürzte mich wieder in die Arbeit, weil ich im Augenblick nichts weiter tun konnte. Und weil sie mir vielleicht, so hoffte ich insgeheim, neue Erkenntnisse verschaffen würde, nicht nur über den Tempel, sondern auch über Ourida und mich. So entstanden in den folgenden Tagen nicht nur Skizzen von verschiedenen Räumen und einzelnen, herausragenden Ornamenten, sondern auch ein vollständiger Plan der unterirdischen Anlage.

Als ich ihn vollendet hatte, war ich zunächst sehr zufrieden mit meiner Arbeit. Doch je länger ich den Plan betrachtete, desto mehr störte mich etwas daran. Ich brütete und brütete, kam aber nicht dahinter, was es war.

Um meinen Kopf mit etwas frischer Luft freizupu-sten, ging ich durch das abendliche Lager, wobei ich Sergeant Kalfan wiedersah. Er schien mich gar nicht zu bemerken. Gedankenverloren hockte er auf einem klapprigen Schemel, der jeden Augenblick unter seinem Gewicht zuammenzubrechen drohte, und starrte, in der rechten Hand eine Schere, auf einen halbblinden Spiegel, der vor ihm an einer Zeltstange hing. Als ich ihn ansprach, zuckte er zusammen und wandte sich mit grimmigem Gesicht zu mir um.

Als er mich erkannte, hellte sich seine Miene auf.

»Ach, Sie sind’s, Bürger Topart. Ich dachte schon, so ein Trottel von Kamerad wollte mich erschrecken. Fast wäre es schiefgegangen.«

»Was denn?«

Er deutete auf seinen gewaltigen Schnauzbart. »Mein Bart, ich muß ihn stutzen, aber sehr sorgfältig. Ein un-gleichmäßig gestutzter Bart wirkt nicht imposant, sondern lächerlich. Das ganze Geheimnis liegt in der Symmetrie.«

Kalfan hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da kam mir auch schon die Erleuchtung. »Sergeant, Sie sind ein Genie!«

»Wieso?«

»Erzähle ich Ihnen später. Ich habe zu tun!«

Aufgeregt holte ich meinen Plan und lief damit zum Zelt meines Onkels, der sich gerade den Schmutz und Schweiß des Tages vom Leib wusch.

»Du hast es aber eilig«, sagte er, während er sich mit einem großen Handtuch abtrocknete. »Was gibt es?

Haben die Engländer Kairo erobert?«

»Nein, eher eine gute Nachricht. Hier, sehen Sie, Onkel!«

Ich hielt ihm den Plan unter die Nase.

»Den kenne ich doch schon.«

»Ja, aber das Geheimnis, das er verbirgt, kennen Sie nicht. Ich habe lange darüber gebrütet, bis Sergeant Kalfan mich auf die Lösung gebracht hat.«

»Kalfan? Auf die Lösung?«

»Das tut jetzt nichts zur Sache. Der Plan ist wichtig.

Irgendwie erschien er mir unvollständig, obwohl ich doch sämtliche Räume erfaßt habe. Jetzt weiß ich, warum. Es gibt noch einen Raum, den wir bislang nicht gefunden haben.«

Onkel Jean sah mich an, als halte er mich für gei-stesgestört. »Wie kommst du darauf?«

»Das ganze Geheimnis liegt in der Symmetrie«, wiederholte ich die Worte des Sergeanten. »Sehen Sie sich den Plan noch einmal genau an, Onkel. Alle Räume sind beiderseits einer Achse angeordnet, wobei jeder ein genau passendes Gegenstück hat, gleich einem Spiegel-bild.« Mein Zeigefinger stieß auf den Plan hinunter.

»Dieser Raum aber hat kein Gegenstück! Wenn man unten durch die Anlage wandert, fällt es einem nicht auf, aber dieser Plan offenbart das Geheimnis.

Nun frage ich Sie, weshalb ist das so? Wo sich die unbekannten Erbauer der Anlage doch solche Mühe gegeben haben, alles genau symmetrisch zu halten!«

Er studierte den Plan, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Du hast recht, Bastien, wahrlich, du hast recht.

Dort muß es einen verborgenen Raum geben!«

Eilig zog er sich an und rief die Soldaten zusammen, die über die Störung ihrer Abendruhe wenig erfreut waren. Aber da wir unter der Erde ohnehin auf Fackeln und Lampen angewiesen waren, spielte es keine Rolle, zu welcher Tageszeit wir hinabstiegen.

Nachdem er eine Sonderration Schnaps versprochen hatte, konnte Onkel Jean einen freiwilligen Arbeits-trupp zusammenstellen. Mit Schaufeln und Hacken bewaffnet, drangen die Männer in den Tempel ein.

Allen voran gingen mein Onkel und ich, so voller Ungeduld und Neugier, daß wir am liebsten gerannt wären. Dank meines Plans gelangten wir schnell zu der Stelle, wo wir den geheimen Raum vermuteten. Ich hob eine Laterne, um für besseres Licht zu sorgen. Nichts, nur nacktes Felsgestein, wie es schien. Wir suchten nach einem verborgenen Mechanismus, einer Geheim-tür, ohne Erfolg.

Mutlos ließ ich die Laterne sinken und lehnte mich rücklings gegen die Wand auf der anderen Seite. »Vielleicht war es doch keine so gute Idee, das mit der Symmetrie. Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher, ob es hier einen Raum gibt.«

Unverständlicherweise leuchteten die Augen meines Onkels auf. »Die Wand!«

»Was meinen Sie?« fragte ich leise.

»Die Wand, an der du lehnst, ist viel rauher als die gegenüber. Die sieht aus wie künstlich geglättet. Als wäre ein Loch in den Fels geschlagen und dann wieder verschlossen worden.«

Er wandte sich an die Männer mit den Hacken.

»Schlagt mir ein Loch in diese Wand!«

Die Soldaten führten den Befehl aus, und das stumpfe Geräusch ihrer auf Stein treffenden Werkzeuge er-füllte den Gang. Staub wirbelte auf, ließ uns husten und trieb uns Tränen in die Augen. Aber dann hatten sie tatsächlich ein Loch in den Fels geschlagen. Ein Loch, das schnell größer wurde. Mein Onkel hatte recht. Diese Mauer war von Menschen errichtet worden. Dahinter lag der Eingang zu dem verborgenen Raum.

Ich trat hinter Onkel Jean durch die Öffnung und hob erneut meine Laterne. Wir blickten uns neugierig um. Vor uns sowie links und rechts erhoben sich schwere hölzerne Bücherschränke, die bis zur Decke reichten. In den offenen Fächern lagen und standen Bücher, von kleinen, handlichen Bänden bis hin zu schweren Folianten.

»Eine Bibliothek«, entfuhr es mir.

Mein Onkel warf einen Blick auf den Mauerdurchbruch. »Aber keine öffentliche.«

Er zog ein Lederetui aus der Rocktasche und entnahm ihm seine Brille. Nachdem er sie aufgesetzt hatte, griff er wahllos ein Buch heraus und schlug es auf. Un-möglich zu sagen, wie lange es schon hier gestanden hatte. Aber es befand sich in einem guten Zustand.

Ich beugte mich zu meinem Onkel hinüber. »Arabische Schrift, nicht wahr?«

»Auf den ersten Blick sieht es so aus. Von rechts nach links geschrieben und mit dem Großbuchstaben jeweils am Ende des Wortes, will mir scheinen. Aber obwohl ich mich mit der arabischen Schrift beschäftigt habe, kann ich nichts davon lesen.«

»Wie ist das möglich?«

»Vielleicht handelt es sich um eine bisher unbekannte Abart der arabischen Schrift, vielleicht aber auch um eine Verschlüsselung. Wir brauchen einen Experten, am besten Professor Ladoux vom Ägyptischen Institut.

Eigentlich müßte er derzeit in Kairo sein.«

»Dann werde ich gleich morgen dorthin aufbrechen, um ihn zu holen«, schlug ich vor.

»Ein einfacher Bote würde es auch tun.«

»Wenn Sie mich schicken und mir einen entspre-chenden Brief an General Bonaparte mitgeben, wird das sicher mehr Gewicht haben.«

Onkel Jeans Mund verzog sich zu einem Grinsen.

»Und bei dieser Gelegenheit könntest du auch die schöne Ourida wiedersehen, oder? Nun gut, du hast dir eine Belohnung verdient. Ohne dich und deinen wachen Verstand hätten wir diese Bibliothek wohl niemals entdeckt. Also reitest du morgen früh mit einer Husaren-eskorte nach Kairo!«

Glücklich begab ich mich an diesem Abend zur Ru-he. Noch lange ließ die Aussicht auf das Wiedersehen mit Ourida mich nicht zur Ruhe kommen. Als ich endlich doch einschlief, träumte ich von ihr. Wir sprachen kein Wort, sondern sahen einander nur an und umarmten uns. Würde es am übernächsten Tag genauso sein?