28. KAPITEL

Fragen und Antworten

ach auf, Musâfir, das Essen kocht bereits über W den Feuern. Am liebsten würde ich dich schlafen lassen; es würde dir gut bekommen. Aber ich habe dir für heute abend Antworten versprochen.«

Jussuf war an mein Lager gekommen. Ich hatte tatsächlich tief geschlafen. Als ich jetzt die Augen aufschlug, lag ich immer noch auf der Seite und blickte direkt in Rabjas unschuldiges Gesicht. »Sie hat sich nicht von der Stelle bewegt, obwohl Muna sie mehrmals gerufen hat«, erklärte Jussuf. »Sie wollte über deinen Schlaf wachen. Ich glaube, Musâfir, du hast eine wahre Freundin gefunden.«

» Samihni – verzeih, Rabja«, sagte ich und fuhr auf arabisch fort: »Du bist eine sehr geduldige Schülerin, aber du hattest heute einen müden Lehrer.«

Sie grinste, wie ich es ihr vorgemacht hatte. » Ta-mahm – du hast recht.«

Als ich sie verblüfft ansah, lachte sie laut und wiederholte das französische Wort für Lachen.

Ich setzte mich auf und legte meine Hand auf ihren Kopf. »Du bist nicht nur eine geduldige, sondern vor allem eine sehr gute Schülerin.«

Das Mädchen schlug die Augen nieder wie eine junge Frau, die von ihrem Verehrer ein Kompliment erhalten hat.

Jussuf schob den Vorhang zurück, der mein Lager vom Rest des Zeltes abtrennte. »Weil dein Lehrer dich gelobt hat, Rabja, sollst du eine Belohnung erhalten.

Lauf zu Muna und sag ihr, sie möchte dir einen süßen Kuchen geben.« Rabja bedankte sich und eilte davon.

Als Jussuf und ich das Zelt verließen, sah ich sie bei Muna am Feuer stehen, wo die Alte kräftig in einem großen Kessel rührte. Muna nannte ihr verschiedene Gewürze, die sie brauchte, und Rabja reichte sie ihr.

Ich wünschte von Herzen, das Kind möge zurück ins Leben finden. Ein Anfang schien gemacht.

»Die Abnaa Al Salieb sind das Leben mit dem Tod gewöhnt, die ständige Bedrohung durch den Feind«, sagte der Scheik, für den mein Gesicht ein offenes Buch sein mußte. »Manchmal ist der Feind lange Zeit unsichtbar, Jahre oder Jahrzehnte hindurch, aber wir wissen, daß er da ist. Daß er unerwartet und ohne Erbarmen zuschlägt. Wie an jenem Abend, als Rassam und die Seinen ausgelöscht wurden.« Ich winkte Rabja noch einmal zu, freute mich über ihr Lächeln und begleitete Jussuf durch das Lager, das am Abend, im Schein der vielen Feuer, fremdartig und behaglich zugleich anmutete. Die Frauen bereiteten das Essen zu, und die Männer fanden sich zusammen, um wichtige Dinge zu besp-rechen oder sich Geschichten über vergangene Ruhmes-taten anzuhören. Das mit anzusehen und mitzuerleben erschien mir als etwas ganz Besonderes.

Wir Franzosen waren in dieses Land gekommen, um es zu erobern und zu erforschen. Doch wo wir uns auch niederließen, zwangen wir den Menschen schnell unsere Lebensweise auf, aus Gewohnheit und um die vertrauten Annehmlichkeiten des täglichen Lebens nicht zu missen. Versuchten wir in Kairo die einheimische Kü-

che? Nein, wir gingen in europäische Gaststuben, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Beeindruckt von dem Elan, mit dem wir ihre Stadt eingenommen und umgestaltet hatten, waren viele der Menschen dort bereit gewesen, sich auf unsere Sitten einzustellen. Wanderte man durch Kairos Straßen, konnte man sich –

sofern man von der morgenländischen Architektur ab-sah – fühlen wie auf einer Pariser Flaniermeile.

Trotz der bedauerlichen Umstände, die mich ins Tal der Abnaa Al Salieb geführt hatten, war ich an diesem Abend dankbar dafür, am Leben der Beduinen teilha-ben zu dürfen. Hier lernte ich ihr Wesen, ihre Gebräuche und ihre Art zu denken hundertmal besser kennen als auf jeder wissenschaftlichen Expedition.

Wir setzten uns an eins der Feuer, wo man den Scheik ehrerbietig begrüßte und auch mich freundlich willkommen hieß. Ein Mughani, ein Sänger, entlockte seiner zweisaitigen Rebab eine einfache, aber äußerst eingängige Melodie und sang dazu von langen Wande-rungen durch die Wüste, von Durst und Entbehrungen, aber auch von dem Glück des freien, ungebundenen Beduinenlebens. Als er geendet hatte, spendeten die anderen ihm Beifall.

Frauen kamen und brachten uns Teller mit den braunen Bohnen, die hierzulande gern und häufig gegessen wurden, mit Hammelfleisch und frischem Brot.

Zu trinken gab es klares Wasser. Anders als in Kairo, wo so mancher Muslim es mit den Geboten seines Propheten nicht allzu genau nahm, hatte ich bei den Abnaa Al Salieb noch keinen Mann Wein trinken sehen.

Als ich Jussuf gegenüber eine entsprechende Bemerkung machte, fragte er: »Weißt du, warum der Prophet den Wein als Schändlichkeit Satans gebrandmarkt und seinen Genuß mit der Strafe der Auspeitschung bedroht hat?«

Ich verneinte, und Jussuf erzählte: »Eines Tages wurde Mohammed in das Haus eines Freundes eingeladen, wo man ein großes Hochzeitsfest feierte. Die Menschen waren fröhlich und ausgelassen, sangen und tanz-ten in großer Harmonie. Der Prophet meinte, diese heitere Eintracht verdanke sich der befreienden Wirkung des Weins, den die Gäste reichlich genossen. Also segnete er, bevor er das Fest verließ, den Wein, weil dieser die Zuneigung zwischen den Menschen stärke. Am nächsten Tag aber kehrte er in das Haus zurück und sah überall Blut und sogar abgetrennte Glieder. Er erfuhr von einem Streit, der zwischen den vom Wein be-rauschten Gästen ausgebrochen war und zu einem Kampf geführt hatte. Mohammed änderte seine Ansicht, nahm seinen Segen zurück und verfluchte den Wein, dessen Genuß seinen Anhängern fortan verboten war.«

»Mit dem Wein ist es wie mit den meisten Dingen«, sagte ich. »In Maßen genossen tut er gut und kann dem, der ihn trinkt, sogar förderlich sein. Erst das Übermaß macht ihn heimtückisch und gefährlich.«

»Der Prophet wird das gewußt haben, Musâfir, denn er war ein kluger Mann. Aber die Menschen neigen nun einmal zum Übermaß. Das hat er an jenem Morgen erkannt, und deshalb hat er den Wein verboten.«

»Wahrscheinlich hat er gut daran getan«, lenkte ich ein und hatte die schaurigen Bilder betrunkener Bauern und anderen Gesindels vor Augen, das wie ein Schwarm Heuschrecken über das Kloster St. Jacques hergefallen war, schon vor dem Tag der Räumung.

Selten hatte ich Onkel Jean so verbittert gesehen wie damals, als die kostbaren Bände der Klosterbibliothek und die wertvollen Schnitzereien der Kirche in Flammen aufgingen. Sein Gesicht war eine steinerne Maske gewesen, aber in seinen Augen hatten Abscheu und Zorn gefunkelt.

Nachdem wir süße Teigröllchen und nicht minder süßen Kaffee genossen hatten, stand Jussuf auf, bedankte sich bei seinen Stammesbrüdern für die Gast-freundschaft und bat mich, ihn zu begleiten. Wir gingen an anderen Zelten und Feuern vorbei, wo Männer zusammensaßen, aßen, Wasserpfeife rauchten, dem Gesang eines Mughani lauschten und einander Geschichten erzählten. Überall grüßte man Jussuf, und er grüßte höflich zurück.

»Die Abnaa Al Salieb brauchen keinen Wein«, sagte ich. »Ihre Heiterkeit kommt aus dem Herzen.«

Jussuf blieb stehen, legte die Hände auf meine Schultern und sah mich an. »Das hast du gut gesagt, Musâfir. Vor wenigen Tagen erst bist du als Fremder zu uns gekommen, jetzt bist du schon ein Freund, nicht nur für Rabja.«

»Ich habe das Gefühl, die Abnaa Al Salieb schon seit Ewigkeiten zu kennen.«

»Gefühle sind die Boten des Herzens, und das lügt nie.«

Er führte mich zu einem kleinen Feuer am Rande des Lagers, das von einem schmächtigen Jungen unterhalten wurde. Zwei Kissen lagen dort bereit. Daneben befand sich ein schmales Tablett mit zwei Trinkbe-chern, und auf einem flachen Stein stand eine große, dampfende Kanne.

»So eine Kaffeekanne«, sagte der Scheik, »ist eine gute Sache, hält sie den Kaffee doch lange warm. Und der Kaffee hält den Verstand wach.«

»Lobst du tatsächlich eine Erfindung der Franken?«

»Ihr Franken seid klug und erfinderisch. Noch mehr würde ich euch allerdings loben, wenn ihr euren Ein-fallsreichtum nicht so sehr auf kriegerische Dinge wie Kanonen und Gewehre richten würdet.«

»Nun, eine Kaffeekanne ist nichts Kriegerisches.«

»Wirklich nicht, Musâfir? Der wache Geist kann auch Schlachten planen. Stimmt es nicht, daß euer An-führer Bonaparte, wenn er im Feldlager ist, stets sieben Kannen Kaffee auf dem Feuer hat?«

»Das weiß ich nicht, ich bin kein Soldat. Du dagegen bist der Scheik eines Stammes von Kriegern und solltest Verständnis dafür haben, wenn ein Feldherr seinen Geist wachhält.«

»Die Krieger meines Stammes kämpfen nur zur Verteidigung, nicht, um zu erobern.«

»Und was verteidigen sie? Das Wahre Kreuz?«

»Wie kommst du auf diesen Gedanken?«

»Ihr nennt euch Abnaa Al Salieb, die Söhne des Kreuzes!«

Statt meine Frage zu beantworten, lud Jussuf mich ein, Platz zu nehmen. Der Junge, der neben dem Feuer gewartet hatte, füllte unsere kleinen Becher mit Kaffee und zog sich dann auf Geheiß seines Scheiks zurück.

Ich hätte mir fast die Zunge verbrannt, denn der Kaffee war noch heißer, als er süß war. Ich stellte den Becher zurück aufs Tablett. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Jussuf.«

Er breitete die Arme aus. » Salieb-Yassou – das Wahre Kreuz! Viele möchten es besitzen, und viele glauben oder behaupten, sie besäßen es. Aus all den vermeintlichen Kreuzen eures Propheten Isa, die es im Lauf der Zeit gegeben hat, könnte man eine Brücke bauen oder ein Haus. Reliquien sind fruchtbarer als jedes lebende Wesen. Auch Sultan Saladin gab nach der Schlacht bei Hattin vor, das Kreuz zu besitzen.«

»Dabei war ihm nur die Hülle in die Hände gefallen, oder?«

»Hör zu, Musâfir. Vier Jahre nach Hattin haben die Kreuzfahrer die Stadt Akkon belagert. Erst fehlte es Saladin an Verstärkung. Als die dann endlich eintraf, hatte das christliche Heer sich so gut verschanzt, daß alle Angriffe Saladins erfolglos blieben. Seine Lage wurde immer schwieriger. Er bot den Christen viel Geld und die Rückgabe des Wahren Kreuzes an, wenn sie im Gegenzug die Stadt verschonten. Aber das versprochene Kreuz hat er nie herausgegeben. Warum nicht?«

»Vielleicht hat ihn sein Versprechen gereut, als er daran dachte, welche Kraft die Kreuzfahrer dem Kreuz Jesu beimaßen«, überlegte ich laut. »Oder er hat es nicht herausgegeben, weil er es nicht besaß.«

»Warum hat er es dann versprochen?«

»Bin ich Saladin?« seufzte ich. »Möglicherweise hat er das Versprechen abgegeben und danach erst festgestellt, daß er bei Hattin gar nicht die Reliquie erobert hatte. Hätte er den Kreuzfahrern nur die Hülle übergeben, wäre das aufgeflogen und er hätte als Tölpel dage-standen.«

»Beides ist möglich. Vielleicht hat Saladin das Kreuz tatsächlich nicht herausgegeben, ohne zu ahnen, daß er gar nichts zum Herausgeben besaß.«

»Aber wer besaß es zu jener Zeit?« fragte ich. »Wem hat Ourida es gebracht?«

Jussuf goß uns neuen Kaffee ein, legte etwas Holz nach und blickte in die auflodernden Flammen. »Ourida hatte es nicht leicht. Sie wußte, daß ihr geliebter Mann gestorben war – für sie, für ihr gemeinsames Kind und für das Kreuz, das er im Auftrag Gottes be-hütet hatte. Sie wollte erfüllen, was Roland sich selbst und seinem Gott geschworen hatte, aber sie wußte, daß sie allein womöglich zu schwach dazu war. Eine schutz-lose Frau, noch dazu mit einem Kind im Leib. Deshalb hat sie bei ihrem Stamm Hilfe gesucht.«

»Aber all ihre Angehörigen waren doch ermordet worden«, warf ich ein.

»Nur ihre engere Familie. Vergiß nicht, daß sie sich von ihrem Stamm getrennt hatten. Es dauerte einige Wochen, bis Ourida ihre Leute, von denen sie seit Jahren nichts gehört hatte, fand. Anfangs behielt sie ihr Geheimnis für sich. Sie sagte nur, ihre Familie sei tot und sie suche Schutz für sich und ihr Kind. Als das Kind geboren war, ein Mädchen mit eigentümlichem Kupferhaar, wie man es sonst bei den Kindern der Wü-

ste nicht findet, vertraute Ourida sich nach und nach einigen Weisen des Stammes an. Die Überlieferungen aus jener Zeit sind lückenhaft, aber wir wissen, daß ein Teil ihrer Leute sich auf ihre Seite stellte und einen neuen Stamm gründete.«

»Die Abnaa Al Salieb, die Söhne des Kreuzes!«

»Ja, Musâfir. Ourida hatte die Ihren von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe überzeugt. Vielleicht spielte auch ihre Gabe dabei eine Rolle, wir wissen es nicht. Jedenfalls hatten die Abnaa Al Salieb die Bedeutung des Wahren Kreuzes erkannt – und die Gefahr, die drohte, wenn es in die falschen Hände geriet. Und sie schworen, es zu behüten und vor aller Augen zu verbergen.«

»Wenn das Kreuz so gefährlich ist, weshalb habt ihr es nicht einfach vernichtet?« Ich nahm einen der neben dem Feuer aufgeschichteten Äste und warf ihn in die Glut; sofort leckten knisternd Flammen an ihm und fraßen ihn auf. »Es ist doch so einfach. Ist niemand auf die Idee gekommen in all der Zeit?«

Meine Worte erschreckten Jussuf dermaßen, daß er unwillkürlich in seine eigene Sprache verfiel und rief:

» Schi makru! – Das ist schändlich!« Er atmete tief durch und starrte mich an wie einen Dämon oder Schwerverbrecher. »Wie kannst du so etwas fragen?

Wie kannst du das auch nur denken? Wir sollen ein Stück Holz von dem Wahren Kreuz vernichten, das Allâhs Atem gestreift hat?«

»Du verwirrst mich, Jussuf. Nach der Lehre des Korans ist Jesus oder Isa nicht Gottes Sohn.«

»Aber auch nach dem Koran hat Mariam ihn empfangen ohne das Zutun eines Mannes. Auch nach dem Koran ist Isa Al-Masih, der Messias, der Allâhs Botschaft verkündet, die Kranken geheilt und Lazarus zum Leben erweckt hat. Der Koran nennt ihn sogar Rubun min Allâh, Geist Gottes!«

Ich schüttelte den Kopf. »Das mag sein, aber ich ha-be gelesen daß nach der Lehre des Islam Jesus nicht am Kreuz gestorben ist.«

»Das ist wahr. Nicht Isa starb am Kreuz, sondern einer, der ihm ähnelte.«

»Wer?«

»Darüber streiten die Gelehrten. Einige meinen, der Gekreuzigte sei jener gewesen, der ihn für dreißig Sil-berlinge verraten hat. Andere sagen, es war ein Spion oder ein Mörder, der auf Isa angesetzt und dann versehentlich an seiner Stelle ergriffen worden war.«

»Also ist ein schlechter Mensch am Kreuz gestorben?«

»Vermutlich, ja.« Jussuf sah mich an wie ein Wild, das die Falle wittert. »Aber worauf willst du hinaus, Musâfir?«

»Wenn es ein schlechter Mensch war, der am Kreuz gestorben ist, ein Verräter oder Spion oder Mörder, warum scheut ihr dann so davor zurück, das Stück Holz zu vernichten?«

»Wir wissen nicht, was damals wirklich geschehen ist. Aus dem Koran geht es nicht eindeutig hervor. Eindeutig ist, daß Allâh seinen Gesandten Isa vom Tod am Kreuz errettet hat, nicht aber, unter welchen Umständen. Vielleicht ist Allâh selbst mit dem Kreuz in Berührung gekommen.«

»Trotzdem soll Mohammed, wenn ich mich recht erinnere, das Kreuz verabscheut haben. Heißt es nicht, er habe jeden Gegenstand mit einem Kreuz, der ihm unter die Augen kam, vernichtet?«

»Sein Abscheu galt dem Glaubenssymbol der Christen, nicht dem Wahren Kreuz.«

Ich leerte meinen Kaffeebecher in einem Zug und spürte augenblicklich, wie das heiße Getränk meinen müden Verstand belebte. Das war auch nötig, denn die Unterhaltung mit Jussuf strengte mich an. Verzweifelt bemühte ich mich zu verstehen, worauf er hinauswoll-te. »Deine Worte mögen alle richtig sein, Jussuf, aber sie verwirren mich mehr, als daß sie meinen Geist er-leuchten. Ich begreife einfach nicht, wieso euch Muslimen so viel am Kreuz Jesu liegt. Für die Christen ist es von so großem Wert, weil sie daran glauben, daß der Sohn Gottes daran sein Leben ausgehaucht hat. Und daß Gott ihn wieder zum Leben erweckt hat. Für sie ist das Kreuz ein Zeichen der Erlösung, des Triumphs über den Tod. Deshalb sind sie ihm bei den Hörnern von Hattin in die Schlacht gefolgt. Was aber bedeutet es euch?«

»Wenn es den Christen den Sieg zu bringen vermag, dann bringt es uns die Niederlage, vielleicht den Untergang. Welche Macht auch immer von ihm ausgeht, in den falschen Händen kann sie großes Unheil bewirken.

Deshalb müssen wir es behüten!«

Wir schwiegen eine Weile, während der ich mich fragte, ob der Scheik mir wirklich alle Beweggründe der Abnaa Al Salieb offenbart hatte. Oder hatte das Wahre Kreuz die, die es behüteten, über die Jahrhunderte in einer Weise beeinflußt, die ihnen peinlich war? Hatten die Beduinen sich so stark mit dem christlichen Glauben befaßt, daß sie ihm insgeheim mehr zuneigten, als es mit der Lehre des Korans und ihres Propheten Mohammed vereinbar war?

»Wo ist das Wahre Kreuz jetzt?« fragte ich schließ-

lich.

»Sei mir nicht gram, Musâfir, aber was du nicht weißt, kannst du auch nicht verraten.«

»Ich habe nicht vor, euch und das Wahre Kreuz zu verraten.«

»Es könnte aus Unachtsamkeit geschehen oder unter der Folter.«

»Wer sollte mich foltern?«

»Denk an die Ritter, die dich und deine Gefährten im Sandsturm angegriffen haben! Das war gewiß kein Zufall. Sie müssen, vielleicht durch Spione in Kairo, von deiner Verbindung zu Ourida wissen. Ich denke, sie wollten über dich an meine Nichte herankommen.«

»Ich hatte eher den Eindruck, daß sie mich töten wollten.«

»Auch das ist möglich. Vielleicht wollten sie sich dafür rächen, daß du ihnen Ourida entrissen hast.

Vielleicht haben sie sich auch nur im Eifer des Gefechts hinreißen lassen.«

Kaum hatte Jussuf die Ritter erwähnt, fühlte ich, wie trotz des wärmenden Feuers etwas kalt über meinen Leib kroch. War es ein Wunder nach dem, was ich im Sandsturm und was Roland de Giraud vor sechshundert Jahren mit ihnen erlebt hatte?

»Daß es sie noch immer gibt!« sagte ich. »Nach so langer Zeit!«

Der Scheik breitete die Arme aus, als wollte er sein ganzes Lager umfassen. »Auch uns gibt es noch immer.«

»Aber die Ritter vom Verlorenen Kreuz kleiden sich noch genauso wie damals, wie im Mittelalter, und sie kämpfen mit den gleichen Waffen.«

»Die Abnaa Al Salieb doch auch. Bedenke, was ich dir über Feuerwaffen in der Wüste gesagt habe.«

»Wo haben die Ritter ihren Stützpunkt?«

»Leider wissen wir das nicht, sonst hätten wir eine Möglichkeit gefunden, sie vom Erdboden zu vertilgen!

Sie sind eine Plage wie der Chamsin, der immer wie-derkehrt und sich durch nichts in die Flucht schlagen läßt. Und wenn man nicht vorbereitet ist, bringen sie wie er den Tod. Du hast es erst vor wenigen Tagen erlebt, hast es überlebt. Meine Brüder und Schwestern in der Zuflucht hatten nicht soviel Glück, mit Ausnahme von Ourida und Rabja.«

Bei dem Gedanken an das Blutbad, das die Ritter vom Verlorenen Kreuz in dem »Zuflucht« genannten Wüstentempel angerichtet hatten, verstand ich den Haß, der in Jussufs Ton mitschwang, nur zu gut. Und ich fühlte selbst Zorn in mir hochsteigen.

Als ich den Scheik anschaute, seine grimmige Haltung und Miene sah, schien es mir unvorstellbar, daß er jemals einem Ritter vom Verlorenen Kreuz gegenüber Gnade walten lassen würde, gleich, unter welchen Um-ständen. War dies derselbe Haß, der Saladin nach der Schlacht von Hattin dazu getrieben hatte, alle gefangenen Ordensritter zu töten? Eine weitere Frage drängte sich mir auf: »Woher wissen die Ritter, daß die Abnaa Al Salieb die Hüter des Kreuzes sind?«

»Ich weiß nicht, wie sie es herausgefunden haben.

Durch Spione oder durch Verräter. Sie haben es ja auch geschafft, Roland und Ourida in dem kleinen Fischerdorf aufzuspüren. Seit jener Nacht hatten Ourida und ihre Leute lange Ruhe vor Gilbert d’Alamar und seinem geheimen Orden. Ourida konnte zusehen, wie ihre Tochter heranwuchs. Aber dann kamen sie doch, eines Nachts, nach fünfzehn Jahren. Wie böse Geister der Nacht sind sie über das Lager der Abnaa Al Salieb hergefallen, und ein wütender Kampf entbrannte. Ourida und Gilbert haben ihn beide mit dem Leben bezahlt.

Ein Teil der Wüstensöhne konnte entkommen. Sie nahmen das Wahre Kreuz mit sich – und Ouridas Tochter, die ebenfalls Ourida hieß. Sie wurde die neue Hameyat Al Salieb!«

»Die Hüterin des Kreuzes?«

»Ja, Musâfir. Es scheint Allâhs Wille zu sein, daß diese Würde von der Mutter auf die Tochter übergeht.

Denn auch das erste Kind von Ouridas Tochter war ein Mädchen und erhielt den Namen Ourida. Das hat sich fortgesetzt bis in unsere Tage.«

»Dann ist die bislang letzte in der langen Kette jene Ourida, die wir im Wüstentempel gerettet haben«, fol-gerte ich. »Hat sie dort das Wahre Kreuz bewacht?«

»Ja.«

»Aber die Ritter haben es nicht gefunden.«

»Nein.«

»Warum wollten sie Ourida dann töten? Tot hätte sie ihnen nichts mehr sagen können.«

Jussuf sah mich verständnislos an. »Frag das unsere Feinde, falls du sie triffst; aber ich wünsche es dir nicht.

Ich kann mir ihr Handeln nur so erklären, daß sie sich von jahrhundertealtem Zorn haben leiten lassen. Auch das Gemetzel, das sie in der Zuflucht angerichtet haben, deutet darauf hin.«

»Woher weißt du, daß die Ritter das Wahre Kreuz nicht gefunden haben?«

»Von Ourida. Ich habe dir doch gesagt, daß wir auch ohne Worte miteinander in Verbindung bleiben können.«

»Aber wie geht es ihr jetzt?«

»Das kann ich nicht sagen, dazu ist sie zu weit weg.

Als sie im Geiste mit mir sprach, habe ich mich in der Nähe von Kairo aufgehalten.«

»Dann muß das Kreuz noch im Tempel sein«, sagte ich und sah ihn forschend an. »Es sei denn, du hast es inzwischen woanders versteckt.«

»Viele Fragen kann ich dir an diesem Abend beantworten, Musâfir, aber diese gehört nicht dazu.«

»Warum nicht? Weil du das Versteck nicht verraten willst? Ist es die zugemauerte Bibliothek?«

Jussuf legte die Stirn in Falten. »Wovon sprichst du?«

Ich lachte laut auf. »Mach mir nichts vor, Jussuf! Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, daß du die Bibliothek nicht kennst! Die Bücher darin sind in einer seltsamen Schrift gehalten, Arabisch wohl, aber schwer zu entziffern.«

»Ich weiß nichts von einer Bibliothek«, sagte der Scheik ruhig.

»Wie soll ich das glauben? Der Raum befindet sich in eurer Zuflucht!«

»Wir haben die Anlage nicht erbaut. Es gab sie schon viele Jahrhunderte vor der Schlacht von Hattin.«

Das deckte sich immerhin mit dem, was Onkel Jean mir erzählt hatte, dennoch war ich nicht geneigt, das Feld so schnell zu räumen.

Ich erzählte, wie wir die Bibliothek entdeckt hatten.

»Die Bücher dort sehen nicht so aus, als hätten die Erbauer des Tempels sie hingestellt. Ich nehme an, daß der Raum erst später als Bibliothek eingerichtet und dann zugemauert worden ist. Warum?«

»Frag das die, die dafür verantwortlich sind! Die Abnaa Al Salieb haben diesen Ort erst vor weniger als hundert Jahren entdeckt. Nach den Erbauern müssen andere ihn für ihre Zwecke genutzt haben. Vielleicht haben während der Kreuzzüge unsere Glaubensbrüder dort wertvolle Bücher vor den Christen versteckt. Die Christen hätten sie sonst geraubt oder einfach verbrannt.«

»Mag sein«, sagte ich und spürte plötzlich eine gro-

ße Müdigkeit. »Es gibt so viele Fragen, und jede Antwort scheint neue aufzuwerfen.«

»Wissen ist wie heißer Kaffee«, sagte Jussuf und griff abermals zu der Kanne, um den restlichen Inhalt zwischen uns aufzuteilen. »Man kann nie genug davon kriegen.«

Ich trank einen Schluck und fragte: »Wieso war Ourida mit den anderen in der Zuflucht? Wäre das Wahre Kreuz hier im Lager nicht besser aufgehoben gewesen?«

»Die Hüterin des Kreuzes sucht die Zuflucht nur in Zeiten der Gefahr auf, immer in Begleitung einiger Männer, Frauen und Kinder unseres Stammes. Damit wir fortbestehen, falls den anderen etwas zustößt. Als wir vom Sultan des Feuers und seinem großen Feldzug hörten und befürchten mußten, daß der Krieg auch in dieses Tal getragen würde, haben wir beschlossen, Ourida und einige Ausgewählte in die Zuflucht zu schik-ken. Daß gerade dort das Verhängnis über sie kommen würde, konnte niemand ahnen. Hätte Rabjas Vater nicht Verrat geübt, wären sie dort sicher gewesen.«

Nachdem wir die Becher geleert hatten, fügte er hinzu:

»Weil es immer noch so viele Fragen und Antworten gibt, sollten wir unsere Unterhaltung morgen fortsetzen, Musâfir. Du bist müde, und ich bin es auch. Die Feuer sind niedergebrannt, die Kälte der Nacht erfüllt das Tal, und die Abnaa Al Salieb ziehen sich in ihre Zelte zurück. Morgen, wenn der Geist wieder frisch ist, lassen sich Fragen klarer stellen und Antworten leichter verstehen!«

Ich stimmte ihm zu, auch wenn ich es bedauerte, bis zum nächsten Tag warten zu müssen. So viel ging mir durch den Kopf! Wovon lebten die Ritter vom Verlorenen Kreuz? Wie hatten sie sich so lange halten können?

Und was hatte ich mit jenem Roland zu tun, dessen Leben mir erschienen war wie mein eigenes?