39. KAPITEL

Der Todesengel

ls das orangerote Licht der Morgensonne verblaß-

A te und zusehends in ein milchiges Blau überging, setzten wir uns in Bewegung: neun Krieger der Abnaa Al Salieb, Ourida, Onkel Jean und ich.

Wir führten einige Pack- und Ersatzpferde mit uns und waren allgemein gut ausgerüstet. In der Burg gab es einen Brunnen, dem wir pralle Wasserschläuche ver-dankten. Wahrscheinlich war die Wasserquelle der Grund gewesen, aus dem die Römer einst ihre Festung an dieser Stelle errichtet hatten. Auch unsere Essens-und Futtervorräte hatten wir aus denen der Ordensritter ergänzt. Die schlechteren Pferde der Ritter sowie einige Ziegen und Hühner ließen wir in den Ställen zurück. Bonapartes Soldaten würden sich über eine unerwartete Fleischration freuen, und für Pferde hatte die Armee immer Verwendung.

Anfangs kamen wir wegen des felsigen Geländes nur mühsam voran, aber je länger wir unterwegs waren, desto leichter ging es. Ein enger Einschnitt zwischen zwei Felswänden bot uns in der Mittagszeit einen schattigen Rastplatz. Wir versorgten die Pferde und stärkten uns dann selbst. Mein Onkel spürte, daß mein Blick auf ihm ruhte. »Beschäftigt dich etwas, Bastien?«

»Ich frage mich die ganze Zeit, wie Sie mir aus Kairo heraus folgen konnten, ohne daß ich oder die Wachtposten Sie bemerkt hätten. Schon ich mußte höllisch aufpassen, nicht gesehen zu werden.«

»Das mußte ich nicht. Ich konnte die Posten dank dieses Schreibens ganz offen passieren. Bonaparte hat es für mich ausgestellt, damit ich meinen Forschungen nachgehen kann, ohne jeden örtlichen Kommandanten um Erlaubnis fragen zu müssen.«

Er zog ein zusammengefaltetes Papier aus einer Rocktasche und reichte es mir. Ich faltete es auseinander und las:

Dem Inhaber dieses Schreibens, dem Bürger Jean Cordelier, Mitglied des Instituts von Ägypten, ist es gestattet, sich je derzeit frei und ungehindert zu bewegen.

Das gilt auch für Zeiten einer möglichen Ausgangssper-re. Des weiteren sind alle französischen Truppenteile und Verwaltungsorgane sowie alle Truppenteile und Verwaltungsorgane mit Frankreich verbündeter Natio-nen ersucht, dem Bürger Cordelier auf Verlangen behilflich zu sein.

– Bonaparte.

Ich reichte Onkel Jean das Papier zurück. »Das hat Ihnen die Sache erleichtert, aber dadurch wird Bonaparte auch wissen, daß Sie Kairo verlassen haben.«

»Er hätte es ohnehin herausgefunden.« Er faltete das Schreiben sorgfältig zusammen, glättete es auf einem Stein und steckte es wieder ein. »Am Wüstentempel wird es uns vielleicht noch gute Dienste leisten.«

»Es sei denn, Bonaparte ist vor uns da.«

»Das glaube ich nicht. Er wird den armen Maruf ibn Saad in die Mangel nehmen und uns, sobald er von der Festung erfahren hat, dahin folgen. Hoffentlich be-kommt Maruf nicht zu große Scherereien.«

Ich wandte mich an Ourida. »Ist es überhaupt notwendig, daß wir das Kreuz aus dem Versteck holen?

Bisher hat es doch niemand entdeckt.«

»Der Sultan des Feuers ist nicht dumm. Wenn er merkt, daß dein Onkel ihn hintergangen hat, wird er auf eigene Faust nach dem Wahren Kreuz suchen.

Dann wird er auch die Zuflucht genau untersuchen lassen. Das Versteck ist zwar gut, aber es besteht bei einer gezielten Suche doch die Gefahr der Entdeckung.

Wir dürfen uns nicht auf das Glück verlassen!« Ich dachte an Bonaparte und fragte meinen Onkel, ob er dem General gegenüber kein schlechtes Gewissen ha-be. »Vielleicht sollte ich das. Aber nachdem er im Tal der Beduinen als erster wortbrüchig geworden ist, habe ich da wenig Hemmungen.«

»Eine Sünde ist es gleichwohl«, sagte ich belustigt und dachte daran, wie oft mein Onkel mir die Beichte abgenommen hatte.

»Ich habe einiges zu beichten, das ist wohl wahr.

Aber würde Bonaparte all seine Sünden beichten, käme er auf Jahre nicht mehr aus dem Beichtstuhl heraus.«

Am Nachmittag ritten wir weiter, und unser Nachtlager schlugen wir erst lange nach Sonnenuntergang auf.

Nach dem Essen hatte ich endlich Gelegenheit, mit Ourida allein zu sein. Sie hatte sich von der Gruppe abge-sondert, und ich folgte ihr. Sie stand auf einem flachen Felsen, von dem aus sie in die Wüste hineinblickte, in die Richtung, wo in weiter Ferne das Tal der Abnaa Al Salieb lag.

»Störe ich?« fragte ich, als ich neben sie trat.

»Der Mann, den ich liebe, stört mich niemals.«

Ich legte die Arme um sie und zog sie an mich.

»Denkst du an die, die ihr Leben hingegeben haben?«

»Ja, sie haben es verdient, daß man ihrer gedenkt.«

»Der Gedanke, daß sie für mich gestorben sind, ist schwer zu ertragen.«

Ourida drehte sich zu mir um. »Warum für dich?«

»Sie haben mich vor den Kreuzrittern gerettet und in ihr Lager gebracht, um mich zu pflegen. Nur deshalb konnten die Soldaten ihren Spuren folgen.«

»Du hast es nicht gewollt, hast es nicht veranlaßt, hast es nicht einmal ahnen können. Dich trifft keine Schuld. Du solltest nicht dich selbst anklagen, sondern jene, die den Tod über meinen Stamm gebracht haben!«

»Und doch«, seufzte ich. »Ohne mich wäre es nicht dazu gekommen!«

»Das Schicksal entscheidet über das, was geschieht.

Wir sollten uns nicht anmaßen, seine Wege durchschauen zu wollen.« Sie strich mir sanft übers Haar und verfiel in ihre Muttersprache: » Ma scha Allâh kan, wa ma lam jascha Allâh lam jekun! – Was Gott will, geschieht, und was Gott nicht will, geschieht nicht!«

»Du hast recht, wir sollten es nicht hinterfragen. Das Böse anzuzweifeln hieße, auch das Gute in Frage zu stellen. Ich aber möchte einfach nur glücklich sein dar-

über, daß wir uns nach so vielen Menschenaltern wiedergefunden haben. Auch wenn mein Verstand es nicht fassen kann.«

»Warum? Wenn das Schicksal es so wollte! Ich bin eine Nachfahrin der ersten Hüterin des Kreuzes, und du bist der, aus dessen Lenden meine Linie stammt.«

»Aber ich bin doch nicht dein Vater oder dein Urahn!« wandte ich empört ein.

»Der Mann, dessen Kupferhaar ich geerbt habe, war mein Vater. Du bist nicht er, bist ein anderer Leib, aber du bist seine Seele. Das mag der Grund dafür sein, daß du sofort Einlaß in mein Herz gefunden hast.«

»Dann glaubst du an die Seelenwanderung? Ich dachte, der Koran kennt sie nicht.«

»Ebensowenig wie die Bibel, wenn ich das richtig behalten habe.«

»Aber du glaubst daran?«

»Weißt du eine andere Erklärung für das, was in dir ist, für deine Erinnerungen und Empfindungen?« Sie legte eine kleine Pause ein und sagte dann: »In meinem Stamm gibt es eine Legende über Malaku’1-Maut, den Todesengel. Meine Mutter hat sie mir kurz vor ihrem Tod erzählt. Stirbt ein Mensch, trennt Malaku’1-Maut die Seele des Sterbenden vom Körper. Drei Sorten von Seelen gibt es nach unserem Glauben: Die Seelen der Propheten finden gleich nach dem Tod Einlaß ins Paradies; die Seelen der Märtyrer warten in den Kröpfen grüner Vögel, die sich von den Früchten des Paradieses ernähren, auf ihre Auferstehung; die Seelen der übrigen Gläubigen verwandeln sich in weiße Vögel und harren zu Allâhs Füßen der Auferstehung. Nach der Legende, die ich von meiner Mutter gehört habe, gibt es aber noch eine vierte Art von Seelen. Sie gehören den Menschen, die auf Erden eine wichtige Aufgabe zu erfüllen haben, durch den Tod aber daran gehindert werden.

Diese Seelen werden vom Todesengel in einem goldenen Gefäß gesammelt und erhalten von ihm ein neues Leben und einen neuen Körper, wenn die Zeit gekommen ist, daß sie ihre Aufgabe beenden können.«

»Also hältst du mich für eine Seele aus dem goldenen Gefäß des Todesengels?«

Ourida atmete tief durch und sah in den sternenfun-kelnden Nachthimmel. »Malaku’1-Maut weiß es.«

»Und warum hat er meine Seele gerade jetzt zurück-geschickt?«

»Vielleicht weil jetzt, wie vor Jahrhunderten schon einmal, die Christen ins Morgenland einfallen.«

»Wenn es wirklich so ist, dann bin ich Malaku’1-Maut zutiefst dankbar. Nicht nur, weil ich vollenden kann, was Roland de Giraud einst begann. Sondern auch und genauso sehr, weil ich dadurch dich gefunden habe!«

Wir umarmten uns, hielten einander fest, und ich wünschte, es möge für die Ewigkeit sein.