TEIL II
14. KAPITEL
Abbé Jean
ch befand mich in einem seltsamen Zustand, ir-I gendwo zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Traum und Wirklichkeit. Hatte mein Geist sich ver-dunkelt, war er verschmolzen mit dem düsteren Himmel des Chamsins?
Nur als schemenhafte Umrisse nahm ich die Gestalten wahr, die mich umringten. Ihre Gewänder flatterten im Wind wie die Fahnen einer Gespensterarmee. Aber sosehr ich mich auch anstrengte, ihre Gesichter vermochte ich nicht zu erkennen. Sie blieben undeutlich, aufgetaucht aus einer anderen Welt und dazu bestimmt, wieder dorthin zurückzukehren.
Sie griffen nach mir und wickelten mich in ein Tuch, das wohl das Peitschen des Sandsturms etwas lindern sollte. Dann hoben sie mich hoch, auf ein Pferd, und banden mich fest. Anders hätte ich mich auch nicht im Sattel halten können. Jemand faßte mein Pferd am Zü-
gel. Wir verließen die Senke, ohne daß ich Weg oder Richtung erkannt hätte. Um mich her war nichts als Wind, Sand, Dunkelheit und Sturmgeheul.
Irgendwann ließ der Sturm nach, aber der Himmel hellte sich nicht auf. Hatte der Chamsin die Wüste mit immerwährender Finsternis überzogen?
Erst als meine Begleiter von den Pferden stiegen und ein Lager aufschlugen, begriff ich, daß es längst Nacht geworden war. Der Sturm hatte sich gelegt, und ich konnte wieder frei atmen. Die nächtliche Kühle, die an die Stelle der Gluthitze getreten war, erwies sich als Wohltat. Zwar sagte mir eine innere Stimme, daß es bald bitterkalt werden würde, aber ich scherte mich nicht darum. Im Augenblick genoß ich es einfach, die kühle, saubere Luft tief in mich einzusaugen.
Die Übelkeit aber blieb. Um mich herum drehte sich alles, und sobald ich versuchte, einen Punkt oder eine Gestalt zu fixieren, verschwammen die Konturen und lösten sich vor meinen Augen auf wie ein Schiff, das in eine Nebelbank fährt und mit ihr verschmilzt.
Ich schlief, und wenn ich erwachte, kam ich trotzdem nicht zu klarem Bewußtsein. Wenn mich nicht die Dunkelheit des Schlafes umhüllte, lag ein dichter grauer Schleier über allem. Meine Verbindung zur Welt der lebenden, denkenden, sprechenden Menschen schien wie durch einen Schwerthieb gekappt.
Dann wieder spürte ich, daß jemand sich meiner annahm, mich wusch, mir den Schweiß von der Stirn wischte, mir Flüssigkeit einflößte. Zarte Hände berührten meine Stirn und mein Gesicht, und ich flüsterte einen Namen.
»Ourida!«
Ich riß die Augen auf, um die Geliebte zu sehen, aber auch vor ihrem Gesicht hingen Nebelschwaden, auch ihre Gestalt drohte im grauen Nichts zu verschwinden.
Ich griff nach der Hand, die mich streichelte, und hielt sie fest. Wenigstens sie war wirklich da – und nicht nur Bestandteil eines Fiebertraums.
Phasen dieses verschwommenen Wachseins wechselten mit solchen tiefen, festen Schlafes. Und als ich das nächste Mal erwachte, fühlte ich mich erholt. Helles Licht durchflutete den Raum, und über mir war jemand, der meinen Hinterkopf stützte und mir gleichzeitig aus einem Becher zu trinken gab, angenehm kühles Wasser. Wieder wollte ich Ouridas Namen sagen, aber meine Kehle war so ausgedörrt, daß ich nur ein Krächzen hervorbrachte.
Die Nebelschleier lichteten sich ein wenig, und ich erkannte, daß ich mich getäuscht hatte. An meinem Lager hockte sehr wohl eine Frau, aber ihr Gesicht war viel zu voll, das war nicht Ourida.
Dieser mitfühlende Blick, das gütige Lächeln, war das nicht … »Mutter!«
Ich streckte die Arme aus, um meine Mutter an mich zu ziehen. Dabei stieß ich so heftig gegen ihren rechten Arm, daß sie das Wasser verschüttete. Sie verschwand kurz und kehrte mit einem Lappen wieder, um das Verschüttete aufzuwischen. Ich sah langes graues Haar und begriff, daß die Frau nicht meine Mutter war.
Meine Mutter hatte niemals graues Haar gehabt, denn sie war viel zu früh gestorben. Damals, als der Schwarze Tod in unser Dorf gekommen war und ein Haus nach dem anderen heimgesucht hatte. Erst war mein Vater an der Pest gestorben und kurz darauf auch meine Mutter, die ihn aufopferungsvoll gepflegt hatte.
Nur mich hatte die Krankheit verschont, als sei ich Knirps von nicht einmal sechs Jahren es nicht wert, daß sie sich mit mir befaßte. Das alles lag so weit zurück, daß die Gesichter meiner Eltern mit den Jahren verblaßt waren.
Als ich mein zeichnerisches Talent entdeckte, versuchte ich, ihre Bilder mit dem Bleistift festzuhalten, doch es wollte mir nicht gelingen. Meine Erinnerungen wurden von Gefühlen überlagert, von Sehnsucht, Trauer, Schmerz. Wieder und wieder versuchte ich, das Gesicht meines Vaters oder meiner Mutter zu zeichnen, doch jedesmal war ich am Ende enttäuscht. Mein Bleistift konnte nicht ändern, was das Schicksal längst entschieden hatte: Meine Eltern waren von mir gegangen!
Aber mein Bleistift half mir, mich durchzuschlagen.
Ich konnte tatsächlich das eine oder andere Bild gegen etwas zu essen und ein Nachtquartier eintauschen. Und wenn mir das nicht gelang, bestahl ich die, die mir ver-weigerten, was doch jedem Menschen zustand.
Mit der Zeit wurde ich dreister und bestahl auch diejenigen, die mir etwas für meine Bilder gegeben hatten.
Ich gewöhnte mich ans Betteln, Stehlen und Lügen, und bald kannte ich nichts anderes mehr. Bis ich eines Tages in einem kleinen Ort, nahe dem Kloster St. Jacques, beim Stehlen erwischt wurde …
Nur ein Stück Käse und etwas Brot. Ich hatte es schon fast vertilgt, da kam der Bauer, bei dem ich mich bedient hatte, in die Scheune, wo ich mir ein gemütliches Plätzchen eingerichtet hatte. Ich wollte aufstehen und weglaufen, aber er war schneller und hielt mich fest. Er zerrte mich hinaus auf den Hof und lud mit lautem Geschrei alle ein, meiner Bestrafung beizuwohnen.
Zwei Knechte hielten mich gepackt, während er auf mich einschlug, wieder und wieder. Mein Kopf flog von einer Seite zur anderen, und ich sah mein eigenes Blut spritzen. Mein Schädel schmerzte fürchterlich, so als wolle er jeden Moment platzen.
Meine Rettung war ein Reiter, der auf den Hof ge-sprengt kam und mit lauter Stimme Einhalt gebot, ein großer, dunkel gekleideter Mann, nicht dick, aber offenkundig von kräftiger Statur. Alle auf dem Hof schienen ihm einen natürlichen Respekt entgegenzubringen. Der Bauer hielt inne und sah den Reiter abwartend an.
»Was hat das zu bedeuten, Martin?« fragte dieser in scharfem Ton und zeigte auf mich. Der Bauer hob die Faust, an der mein Blut klebte, und schüttelte sie, aber nicht gegen den Reiter, sondern gegen mich. »Er ist ein Dieb! Er stiehlt unser Brot und unseren Käse. Wir arbeiten hart von morgens bis abends. Der da macht es sich leicht und nimmt sich einfach, wofür er keinen Finger gerührt hat!«
»Er ist noch ein Junge, ein Kind«, sagte der Reiter mit ruhiger, aber fester Stimme.
Martin hob trotzig den Kopf. »Wer alt genug ist, um zu stehlen, ist auch alt genug, die verdiente Strafe ent-gegenzunehmen!«
»Der Junge sieht mir nicht gerade wohlgenährt aus.«
Der Reiter richtete sich im Sattel auf und musterte die Umstehenden einen nach dem anderen. »Im Gegensatz zu einigen von euch. Er stiehlt nicht um des Stehlens willen, sondern weil er Hunger hat!«
Eine rundliche Frau, wohl die Bäuerin, trat an Martins Seite. »Wir alle haben Hunger, Abbé.«
Ein Abbé war er also, ein Abt. Vermutlich der des Klosters St. Jacques.
Er schaute die Bäuerin an. »Du sprichst wahr, Ma-rie, alle Menschen haben Hunger, und alle müssen essen. Auch dieser Junge.«
»Dann soll er für sein Essen arbeiten!« grollte Martin.
»Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden«, sagte der Abt. »Aber seht euch das dürre Kerlchen doch einmal an! Welcher Bauer würde ihn schon als Knecht einstellen?«
Einige in der Runde nickten und brummelten zu-stimmend. Martin aber blieb störrisch. »Ist das meine Schuld? Soll er ordentlich essen und Kräfte sammeln, dann findet er auch eine Stellung!«
»Das ist ein Teufelskreis, Martin«, belehrte ihn der Abt. »Er soll essen, um zu arbeiten. Aber wenn er essen soll, muß er sich das erst durch Arbeit verdienen. Wie soll der Junge diesen Kreis durchbrechen außer durch Stehlen?«
Der Bauer schüttelte den Kopf. »Daß Sie, unser Ab-bé, einen Dieb in Schutz nehmen, verstehe ich nicht.
Diebstahl ist eine Sünde, sagt der Herr.«
»Ja, aber der Herr predigt auch die Nächstenliebe.
Der heilige Martin, dein Namensvetter, mußte sich seinen Mantel nicht stehlen lassen, weil er ihn freiwillig teilte.«
»Der war auch reicher als ich«, murrte Martin und wich dem fordernden Blick des Geistlichen aus. »Wenn sich herumspricht, daß man auf meinem Hof essen kann, ohne dafür zu arbeiten oder zu bezahlen, fressen mir die Strauchdiebe und Rumtreiber bald die Haare vom Kopf!«
»Dann soll es sich nicht herumsprechen«, entgegnete der Abt und stieg aus dem Sattel.
Eine Magd hielt den Zügel fest, als er auf uns zukam. Er griff in eine seiner Manteltaschen und drückte Martin etwas in die Hand. Ich meinte, ein paar schimmernde Münzen zu erspähen.
»Das sollte mehr als genug sein für etwas Käse und Brot«, sagte er und sah Martin abwartend an.
Der warf einen kurzen Blick auf die Münzen, bevor er sie blitzschnell in seiner Hosentasche verschwinden ließ. »Und was soll jetzt mit dem da werden?«
»Ich nehme ihn mit ins Kloster.« Der Abt wandte sich an die beiden Knechte, die mich noch immer fes-thielten. »Laßt ihn gehen!«
Als der Bauer ihnen ein Zeichen gab, leisteten sie der Aufforderung Folge. Ich war durch die Schläge derart mitgenommen, daß ich zu Boden sackte. Die Erde war kühl, und ich empfand die Berührung als sehr angenehm. Der Abt hob mich vorsichtig auf die Füße und betrachtete mein zerschundenes Gesicht. In seinem eigenen arbeitete es sichtlich, und ich glaubte, darin eine Mischung aus Mitleid und Wut zu lesen. Dann fiel sein Blick auf etwas, das am Boden lag. Zusammengefaltete Blätter, die aus meiner Tasche geglitten waren. Er hob sie auf.
»Gehört das dir?«
Ich nickte schwach.
Er schien überrascht. »Du kannst schreiben?«
Jetzt schüttelte ich den Kopf.
Neugierig faltete er das erste Blatt auseinander, eine Zeichnung des Klosters, die ich aus der Ferne angefertigt hatte. »Das ist gut!« Er betrachtete die Zeichnung eingehend. »Du hast das Kloster getreu getroffen, und doch ist es kein bloßes Abbild der Wirklichkeit. Du hast Talent, Junge! Bei wem hast du das gelernt?«
Ich sah ihn verständnislos an. Ich zeichnete, wann immer ich etwas Papier fand. Einfach so. Ich hatte noch nie davon gehört, daß man es lernen konnte.
»Ein Naturtalent also, das wird ja immer besser.
Was mag erst dabei herauskommen, wenn dieses Juwel geschliffen wird?«
Der Abt sprach zu sich selbst, und das war auch gut so, denn ich verstand seine Worte nicht. Immerhin begriff ich, daß er mich lobte, und das erfüllte mich mit Stolz. Es war das erste Lob, das ich seit dem Tod meiner Eltern zu hören bekam, seit mehr als zwei Jahren.
Er schaute sich auch die übrigen Zeichnungen an.
Eine zeigte eine gewundene Landstraße, die zu dem nicht weit entfernten Dorf Lamure führte, die anderen beiden waren Porträts meiner Eltern, die besten, die ich je angefertigt hatte. Und doch waren es nur unvollkommene Abbilder, und je länger ich sie betrachtete, desto weniger erkannte ich darauf Vater und Mutter wieder.
»Sind das deine Eltern?«
Ich nickte.
»Wo sind sie?«
Ich legte den Kopf in den Nacken.
»Im Himmel? Was ist mit ihnen geschehen?«
»Die Pest«, sagte ich nur und wischte mir das Blut, das dabei aus meinem Mund sickerte, mit dem schmutzigen Ärmel vom Kinn.
Das Wort »Pest« reichte aus, um alle Umstehenden zusammenzucken zu lassen. Unwillkürlich erweiterten sie den Kreis und gingen auf Abstand zu mir, auch der Bauer und sein Weib.
»Also gut, Abbé, nehmt ihn mit, in Gottes Namen!«
Jetzt drängte Martin regelrecht. »Wir wollen ihn hier nicht mehr sehen!«
»Ich werde sie für dich aufbewahren«, sagte der Abt und schob meine Zeichnungen in seinen Mantel. »Nun komm mit mir!«
Wir gingen zu seinem Pferd, und er half mir hinauf.
Erst war mir unheimlich auf dem großen Tier, aber sobald der Abt hinter mir saß, verflog alle Angst. Ich fühlte mich in sicheren Händen, ganz so wie früher, wenn mein Vater bei mir gewesen war.
Als wir ein Stück von dem Hof entfernt waren, ließ der Abt das Pferd anhalten und fragte: »Wie heißt du, Junge?«
»Bastien. Bastien Topart.«
»Ich bin Abbé Jean. Ich möchte dir sagen, daß du nicht mehr stehlen mußt, Bastien. An dem Ort, zu dem ich dich bringe, wird gut für dich gesorgt werden. Das verspreche ich dir, wenn du mir versprichst, das Stehlen seinzulassen. Bist du damit einverstanden?«
»Ja.«
Er hielt mir seine kräftige Hand hin, die mir geradezu riesig erschien. »Dann laß uns einen Pakt schließen, Bastien!«
Ich legte meine kleine Hand in seine. Ein Pakt, das klang wichtig. Und der Abt schloß ihn mit mir, der ich bis eben noch ein Strauchdieb gewesen war; einer, von dem niemand etwas wissen wollte. Wieder empfand ich Stolz, war voller Glück und Dankbarkeit.
Wir ritten zum Kloster St. Jacques, wo der Abt mich einem seiner Brüder übergab, der sich um meine Verletzungen kümmern sollte. Es war der Bruder Infirmarius, der immer im Kloster die Kranken behandelte. Er reinigte meine Wunden, was weh tat. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, tapfer zu sein, weil ich Abbé Jean nicht enttäuschen wollte, zuckte ich mehrmals zusammen, und ein oder zwei Schmerzenslaute kamen über meine Lippen.
Ich blickte den Abt an und murmelte eine Entschuldigung. Der Bruder Infirmarius unterbrach seine Arbeit und sah mich verwundert an. »Was hast du, Junge?
Warum entschuldigst du dich?«
»Weil ich gestöhnt habe«, antwortete ich leise und senkte den Blick. »Ich wollte mich nicht beklagen.«
»Nicht beklagen?« Der Bruder Infirmarius stieß ein heiseres Lachen aus. »Das wäre komisch, wenn es nicht so traurig wäre. Bei solchen Wunden würde manch ausgewachsener Mann lauthals jammern. Und dieser Junge hat ein schlechtes Gewissen, weil er zweimal leise stöhnt?«
»Er hat eine harte Zeit hinter sich«, sagte der Abt,
»und ist darüber selbst hart geworden. Du hättest sehen müssen, wie dieser tumbe Martin auf ihn eingeprü-
gelt hat. Ein Wunder, daß der Kopf noch auf seinen Schultern sitzt.«
Der Bruder Infirmarius nickte. »Ganz recht, Abbé.
Das sieht alles andere als gut aus.«
Ein besorgter Ausdruck trat auf das lange, schmale Gesicht des Abtes. »Wird er bleibende Schäden davont-ragen?«
»Zum jetzigen Zeitpunkt ist das schwer zu sagen.
Vielleicht wird er noch lange unter Kopfschmerzen leiden, möglicherweise sein Leben lang. Ich kann nicht ausschließen, daß auch die Schädeldecke etwas abbekommen hat. Der Kleine sollte aufpassen, daß er mit dem Kopf nicht gegen Wände rennt. Jede heftige Erschütterung könnte üble Folgen haben.« Wieder wurde der Abt wütend, wie ich es schon auf dem Bauernhof gesehen hatte. Vielleicht noch heftiger. Er ballte beide Hände, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Diese Bauern mögen fleißig sein und in ihrer beschränkten Art auch gottesfürchtig, aber sie sind entsetzlich dumm, und ihre Roheit stellt alles andere in den Schatten. Das einfache Volk ist zum Arbeiten geboren, aber von allem anderen ist es überfordert. Gebe Gott, daß es in diesem Land niemals eine Stimme haben wird!«
»Amen, Bruder Abbé«, schloß der Infirmarius sich an. »Da sei Gott vor und auch unser guter König Ludwig!«
Der Bruder Infirmarius pflegte mich über Tage und Wochen, bis meine Wunden verheilt waren. Aber was er vorausgesagt hatte, trat ein: Noch lange litt ich unter starken Kopfschmerzen. Und wenn ich, auch in späteren Jahren, aus Unachtsamkeit mit dem Kopf irgendwo hart anstieß, rächte sich das häufig mit einem rasenden Schmerz und mit Übelkeit. Oft konnte ich für einige Zeit nicht richtig sehen, und manchmal befiel mich schweres Fieber.
Abgesehen davon lebte ich mich im Kloster St. Jacques gut ein. Durch meine Begabung wurde ich zum Liebling der Mönche, die ich mal mit ernsthaften und dann wieder mit komischen Zeichnungen erfreute.
Besondere Vorteile verschaffte mir das beim Bruder Hospitarius, der für das leibliche Wohl der Klosterbrü-
der und ihrer Schützlinge sorgte. Er mochte Zeichnungen von Frauen im Evakostüm, wie er mir unter dem Mantel der Verschwiegenheit anvertraute. Wann immer ich ihm eine solche Zeichnung brachte, durfte ich mich auf eine Extraportion honigsüßer Mehlspeisen freuen.
Bis zu dem Tag, da Abbé Jean uns genau in dem Augenblick ertappte, als ich dem Hospitarius eine neue Zeichnung überreichte. Letzterer wurde mit so vielen Strafdiensten eingedeckt, daß er kaum noch zum Schlafen kam.
Ich mußte eine Standpauke über mich ergehen lassen, nach der ich mir kleiner vorkam als eine Ameise.
Aber ich verstand Abbé Jeans Ärger. Er hatte mich gerettet, sorgte für meine Unterkunft und mein Auskommen und ließ mich sogar in der Klosterschule unterrichten – und ich enttäuschte ihn so. Ich schwor mir, das sollte nie wieder vorkommen. Bis auf diesen Zwischen-fall waren die Jahre im Kloster St. Jacques eine glückliche Zeit für mich. Die Mönche unterrichteten in ihrer Schule die Söhne aus besseren Kreisen, aber ebenso einige begabte arme Jungen, und zu letzteren zählte auch ich.
Abbé Jean vermittelte mir stets das Gefühl, ich sei sein besonderer Schützling. Nach Möglichkeit verbrachte er jeden Tag ein wenig Zeit mit mir, um sich mit mir über den Unterricht zu unterhalten, über Fragen der Theologie oder der Geschichte. Besonders lag ihm stets die Archäologie am Herzen, die er mit Inbrunst studierte. Außerdem ermunterte er mich, mit dem Zeichnen fortzufahren, und sorgte dafür, daß ich immer genügend Stifte und Papier zur Verfügung hatte.
Die Idylle, als die mir St. Jacques erschien, wurde durch die Revolution erschüttert. Eine Zeitlang glaubten Ab-bé Jean und seine Brüder, die abgeschlossene Welt des Klosters würde von den radikalen Umwälzungen verschont bleiben, die Frankreich erschütterten, aber dann wurde auf Geheiß Talleyrands die Einziehung der Kir-chengüter zur Deckung der Staatsschulden beschlossen.
Ein Kloster nach dem anderen wurde geschlossen und verlor seinen gesamten Besitz, und schließlich traf es auch St. Jacques.
So wurde aus Abbé Jean der angesehene Archäologe Jean Cordelier, der sich erstaunlich schnell mit den neuen Verhältnissen arrangierte. Ich blieb bei ihm als sein Schüler und Schützling, war ich für ihn doch der Sohn, den er als Abt nicht haben durfte. Wenn er mich jemandem vorstellte, nannte er mich der Einfachheit halber seinen Neffen, und irgendwann sagte ich, auch wenn wir beide allein waren, Onkel zu ihm.