15. KAPITEL

Jussuf und sein Gast

ie Vergangenheit verblaßte und mit ihr meine D Kindheit, die ich ein zweites Mal durchlebt hatte.

Erst unterschwellig, dann immer deutlicher nahm ich wahr, daß ich an einem mir fremden Ort lag, krank, hilflos, und daß jemand für mich sorgte, mich wusch, mir zu trinken und zu essen gab. Verschiedene Gesichter tauchten vor mir auf, meist nur schemenhaft.

Traumbilder? Eine alte Frau mit Runzeln und grauem Haar, das in zwei langen Zöpfen herunterhing. Dann ein anderes Gesicht, noch sehr jung, ein Kind, mit gro-

ßen, neugierigen Augen. Und das Gesicht eines Mannes, schmal und ausdrucksvoll.

»Onkel?« fragte ich, als ich es wieder vor mir sah.

»Onkel Jean?«

Ich kämpfte gegen den Schwindel an, der mich erfassen und das Gesicht erneut verschwimmen lassen wollte. Das Gesicht schien hin und her zu schwingen wie ein riesiges Pendel, und mit jeder Bewegung verblaßten seine Konturen. Ich schloß die Augen und atmete tief und gleichmäßig, bis ich mich etwas besser fühlte.

Dann öffnete ich die Augen wieder.

Das Gesicht war immer noch da, und jetzt pendelte es nicht mehr. Je länger ich es betrachtete, desto deutlicher wurde es, und ich erkannte meinen Irrtum. Das war nicht mein Onkel. Der Mann, der mich aus dunklen Augen ansah, war mir unbekannt. Ich hielt ihn für einen Ägypter, vielleicht vierzig oder fünfundvierzig Jahre alt. Sein einst wohl pechschwarzes Haar wurde von ersten grauen Strähnen durchzogen; der Bart um Mund und Kinn war bereits mehr grau als schwarz.

Sein Gesicht sah aus wie gegerbt von Sonne und Wind, ganz so, als könne er sich ungeschützt einem Chamsin entgegenstellen, ohne Schaden zu nehmen.

Der Chamsin!

Die Erinnerung an den tödlichen Wind kehrte zu-rück und an den Angriff der Kreuzritter, bei dem Leutnant Dumont und seine Husaren ihr Leben gelassen hatten. Davon ging ich zumindest aus. Als Dumont starb, hatte ich keinen seiner Männer mehr kämpfen sehen.

Unwillkürlich richtete ich mich auf. Mein Blick suchte die Kleidung des Bärtigen nach dem doppelten Kreuz ab. Er trug nichts dergleichen, sondern ein Gewand aus weißer Wolle, das durch einen schwarzen Gürtel zu-sammengehalten wurde. Erleichtert ließ ich den Kopf zurück aufs Kissen sinken.

»Sei unbesorgt, Musâfir, du bist bei Freunden«, sagte der Bärtige mit einer Stimme, deren tiefes, sanftes Timbre etwas Beruhigendes hatte. »Von uns droht dir keine Gefahr.« Ich fand es verwirrend, daß er franzö-

sisch gesprochen, bei der Anrede aber ein arabisches Wort benutzt hatte: Musâfir – Gast. Sagt ein Muslim das zu einem Fremden, gewährt er ihm das Gastrecht, das den Orientalen heilig ist. Ein Muslim, der dieses Gastrecht bricht, hat bei den Seinen für alle Zeit das Gesicht verloren. Der Mann, mein Gastgeber, mußte das Wort ganz bewußt benutzt haben, denn dadurch stellte er mich unter seinen persönlichen Schutz.

Ich sah mich um und nahm zum ersten Mal wahr, daß ich in einem Zelt lag, einem Beduinenzelt, wie ich vermutete. Mein Lager war durch einen mit Stickerei verzierten Vorhang vom Rest abgeteilt. Aber der Vorhang war nicht ganz zugezogen, und so konnte ich erkennen, daß es sich um ein sehr großes Zelt handelte.

Je länger ich über meine Lage nachdachte, desto ruhiger wurde ich. Offensichtlich war ich in meinem hilf-losen Zustand den Menschen hier, wer immer sie waren, ausgeliefert. Hätten sie mir etwas antun wollen, wäre dazu mehr als genug Gelegenheit gewesen. Statt dessen kümmerten sie sich um mich und pflegten mich.

Ich war tatsächlich ihr Gast, ihr Musâfir.

Unbewußt mußte ich das arabische Wort laut ausgesprochen haben, denn der Mann neben mir nickte.

»Du verstehst unsere Sprache. Dann weißt du, daß du von uns nichts zu befürchten hast.«

Ich brauchte drei oder vier Anläufe, um zu antworten; meine Stimme war wie eingerostet. »Ich verstehe ein paar Brocken von deiner Sprache, Saiyid, aber ich spreche sie längst nicht so gut wie du die meinige.«

Saiyid ist eine höfliche Anrede und bedeutet soviel wie unser Monsieur.

Der Beduine schmunzelte. »Nenn mich einfach Jussuf.«

Ich nickte, was ich jedoch sogleich bereute, denn es fühlte sich an, als hätte mir jemand eine Stricknadel in den Kopf gestoßen.

»Hast du noch immer Schmerzen, Musâfir?«

»Wie ich gerade festgestellt habe, ja.«

»Der Hakim, der dich untersucht hat, sagt, dein Kopf muß schon früher eine Verletzung abbekommen haben, sonst hätte es dich nicht so sehr mitnehmen dürfen.«

»Euer Hakim ist ein kluger Mann. Den schlimmen Kopf habe ich schon seit meiner Kindheit.«

Ich dachte an den Bauern Martin und die Schläge, die er mir versetzt hatte. Während der ersten Monate im Kloster hatte ich mir oft ausgemalt, wie ich als Erwachsener auf den Hof zurückkehren und ihn töten würde, aber inzwischen empfand ich keinen Haß mehr auf ihn.

Plötzlich fiel mir ein, daß ich mich meinem Gastgeber noch nicht vorgestellt hatte. Also nannte ich meinen Namen. Ein gequältes Lächeln trat auf Jussufs Gesicht.

»Ich komme mit deiner Sprache zwar einigermaßen zurecht, aber die Worte sind doch für meine Zunge nicht einfach zu formen. Sei nicht gekränkt, aber dein Name erscheint mir wie ein mehrfach verschlungener Knoten. Wenn du erlaubst, werde ich dich weiterhin Musâfir nennen.«

»Ich habe nichts dagegen, dem Namen hängt nichts Ehrenrühriges an.«

»Im Gegenteil, er bezeugt die Achtung, die wir dir entgegenbringen.«

»Du sagst ›wir‹, Jussuf, aber wer seid ihr? Wo bin ich eigentlich?«

Abwehrend hob er die Hände. »Nicht so viele Fragen auf einmal, Musâfir. Der Hakim hat gesagt, daß wir dich schonen sollen. Wenn du aus dem langen, hei-lenden Schlaf erwachst, darfst du nicht zu sehr in Anspruch genommen werden.«

»Hat das auch der Hakim gesagt?«

»Ja. Und er will gerufen werden, sobald du zu dir kommst. Das werde ich jetzt gleich tun. Vielleicht solltest du in der Zwischenzeit etwas essen. Oder hast du keinen Hunger?«

Ich legte eine Hand auf meinen Bauch. »Doch, gro-

ßen sogar. Da drin fühlt es sich reichlich leer an.«

Jussuf lachte, und das Aufblitzen seiner weißen Zäh-ne bildete einen starken Kontrast zu seiner dunklen Haut. »Dann werde ich Muna sagen, sie soll dir etwas von ihrer Hammelsuppe bringen.«

Kurz nachdem er gegangen war, erschien die Frau mit den grauen Zöpfen an meinem Lager. Ihr runzliges Gesicht ließ auf ein hohes Alter schließen. Ihre Gestalt war gekrümmt, ihr Gang aber fest und sicher. Sie brachte einen tönernen Topf, in dem ein klobiger Holz-löffel steckte, und ließ sich neben meinem Lager nieder, ohne ein Wort zu sagen. Ihre knotige Rechte nahm den Löffel und fütterte mich wie ein kleines Kind. Ich ließ es geschehen, obwohl ich Arme und Hände bewegen konnte. Solange der Hakim, der Arzt, mich nicht untersucht hatte, wollte ich mich nicht zu sehr anstrengen.

Die Suppe war heiß und kräftig, mit viel Fleisch und Gemüse, das ich nicht kannte, mir aber gleichwohl schmecken ließ.

Irgendwann kehrte Jussuf zurück, in Begleitung eines Mannes, unter dessen weißem Turban ebenso weißes Haar hervorlugte. Die Spitze seines weißen Kinnbartes reichte ihm bis auf die Brust. Das musste der Hakim sein, zumal er eine Tasche bei sich trug, die mich an die erinnerte, die europäische Ärzte benutzten.

»Genug jetzt mit der Suppe«, sagte er auf arabisch.

Muna, die mir gerade einen weiteren Löffel in den Mund schieben wollte, hielt inne und bedachte den Störenfried mit einem abweisenden Blick.

»Musâfir ist hungrig, Hakim«, erklärte Jussuf. »Das hat er mir selbst gesagt.«

»Das glaube ich, aber er sollte sich nicht gleich so vollstopfen. Wie ich Muna kenne, schwimmt ein ganzer Hammel in dem Topf. Das Fleisch könnte dem Kranken schwer im Magen liegen, wenn er zuviel auf einmal davon ißt.«

Er hatte arabisch gesprochen, weshalb ich nicht jedes Wort verstand, aber seine Gesten waren eindeutig.

Ein Wink von Jussuf, und Muna erhob sich, nicht ohne mir den bereits gefüllten Löffel noch schnell in den Mund geschoben zu haben. Im Hinausgehen murmelte sie etwas Unverständliches vor sich hin. Dem Stirnrunzeln des Hakims konnte ich entnehmen, daß ihre Worte ihm gegolten hatten und nicht eben freundlich gewesen waren.

Während ich noch auf einem dicken Fleischbrocken herumkaute, begann er mich zu untersuchen. Er mochte nicht nach europäischen Maßstäben ausgebildet sein, aber er machte seine Sache sehr gründlich. Behutsam tastete er meinen Kopf ab und schien sich genau zu merken, an welchen Stellen die Berührungen mir Schmerzen bereiteten. Anschließend untersuchte er meine Augen, blickte tief in meine Pupillen und ließ mich in verschiedene Richtungen schauen. Seine Anweisungen gab er dabei in meiner Sprache. Daß das Französische in einem Beduinenlager so verbreitet war, fand ich erstaunlich. Als ich eine entsprechende Frage stellte, erwiderte der Hakim: »Du hast gewiß viele Fragen, Musâfir. Aber die Antworten würden zu neuen Fragen führen und so weiter und so weiter. Du bist noch geschwächt, und das Gespräch wäre dem Schmerz in deinem Kopf förderlicher als deiner Genesung. Stell deine Fragen, wenn es dir besser geht. Jetzt solltest du noch etwas schlafen. Trink das, es wird dir guttun.«

Er füllte etwas Flüssigkeit aus einer kleinen, bauchi-gen Flasche in einen Becher und reichte ihn mir. Der bräunliche Saft schmeckte süß, nach Honig und Ge-würzen. Ich leerte den Becher, und schon bald wurde ich schläfrig. Die Gestalten Jussufs und des Hakims verschwammen, und ich sah eine grüne Landschaft vor mir. Auf einem sanft geschwungenen Hügel erhob sich eine wohlvertraute Ansammlung von Gebäuden, das Kloster St. Jacques. Selig tauchte ich in die glücklich-sten Jahre meiner Kindheit ein.