34. KAPITEL
Die Unglückliche
ie Grenadiere brachten Aflah, deren Hände mit D Stricken gefesselt wurden, in den Kartenraum, in dem mein Onkel und ich zuvor mit General Bonaparte gesprochen hatten. Auch wir gingen wieder mit hinein, und niemand hinderte uns.
Aflah wich meinem Blick beharrlich aus und starrte die meiste Zeit auf den Boden. Die Soldaten spran-gen sehr rauh mit ihr um. Am liebsten hätte ich sie zur Ordnung gerufen, aber ich wollte sie nicht noch mehr gegen die Gefangene aufbringen.
Schließlich trat, eskortiert von den anderen Generä-
len, Bonaparte ein, in einer Hand den Rosenkranz, in der anderen den Dolch, mit dem Aflah ihn hatte töten wollen. Die Waffe hatte eine beidseitig geschliffene Klinge und einen schmalen Griff, der für schlanke Frauenhände besonders geeignet war.
»Eine tödliche Waffe«, sagte Bonaparte. »Vorausge-setzt, man stößt schnell genug zu.«
Während er noch sprach, machte er einen Satz in Aflahs Richtung und ließ den Dolch auf ihren Hals zufahren. Aflah wollte zurückweichen, doch die Grenadiere hielten sie eisern fest. Die Klinge ritzte ihre Haut, und ein dünner Blutfaden rann über ihren Hals.
»Pardon, Mademoiselle, ich hätte mich beinahe vergessen«, sagte Bonaparte und wischte die blutige Klinge an Aflahs Gewand ab. »Schließlich haben Sie mir auch nichts getan. Allerdings ist das nicht Ihr Verdienst.« Er hielt den Rosenkranz hoch und lachte. »Allâh und sein Prophet Mohammed haben mich gerettet. Eigentlich müßte ich Ihnen für den Anschlag sogar dankbar sein.
Jetzt hält man mich für unverwundbar und wird es nicht so schnell noch einmal wagen, gegen mich aufzu-begehren. Jede Wette, daß die Geschichte bereits in Kairo die Runde macht. Besser hätte ich selbst es nicht arrangieren können!«
Die Generäle und dann auch die Grenadiere fielen in sein Lachen ein, Onkel Jean und ich aber blieben ernst.
Die Sorge um Aflah wog für uns schwerer als Bonapartes Triumph. Aflah vergaß ihre Zurückhaltung und spuckte Bonaparte ins Gesicht.
»Das sind unfeine Manieren«, sagte dieser, während er sich mit einem Ärmel über das Gesicht wischte. »Einer jungen Dame unwürdig, möchte ich meinen, allerdings kenne ich mich in Mörderkreisen nicht so gut aus.« Unvermittelt drehte er sich zu mir um. »Mangelt es unserer Gefangenen etwa an einer guten Kinderstu-be, Bürger Topart?«
»Wieso fragen Sie das mich, Bürger General?«
»Sie scheinen die Frau zu kennen. Immerhin haben Sie sie beim Namen genannt!«
»Ihren Vater kenne ich besser. Sie kennen ihn übrigens auch. Es ist Maruf ibn Saad.«
Ich hielt es für richtig, ihn darüber aufzuklären, wer Aflahs Vater war. Vielleicht brachte das große Ansehen, das der Ägypter genoß, auch und gerade bei Bonaparte, ihr Vorteile bei der weiteren Behandlung.
»Der Gelehrte?« staunte Bonaparte. »Als ich ihn in der Bibliothek des Instituts kennenlernte, hielt ich ihn für einen Mann, der uns Europäern aufgeschlossen gegenübersteht. Sollte ich mich so getäuscht haben?«
»Nicht im geringsten«, meldete sich mein Onkel zu Wort. »Aber seine Tochter hat einen Grund, die Europäer zu hassen.« Er berichtete vom Tod des jungen Dieners, der Aflah offenbar so getroffen hatte, daß sich ihre Abneigung gegen die Franzosen in tödlichen Haß verwandelte.
»Ich habe diesen Diener nicht getötet, und ich habe auch nicht den Befehl dazu gegeben«, entrüstete sich Bonaparte. »Warum will sie sich an mir rächen? Das ist, als würde ich Rußland angreifen, weil England mir den Krieg erklärt hat. Vollkommener Unsinn, wie?« Er sah seine Generäle an und grinste. »Wer würde schon ins kalte Rußland einmarschieren, wenn er den son-nenbeschienenen Orient erobern kann?«
»Nur ein Narr würde ins weite Rußland einfallen und sich den Gefahren des dortigen Winters ausset-zen«, bestätigte Berthier.
»Ebendrum«, sagte Bonaparte und wandte sich wieder der Gefangenen zu. »Maruf ibn Saads Tochter oder nicht, ich denke, wir müssen an ihr ein Exempel statuieren. Nur das wird andere davon abhalten, ihre Waffe gegen mich zu erheben.«
Aflah zeigte keinerlei Regung. Vermutlich hatte sie mit ihrem Leben bereits abgeschlossen, als sie zu Bonapartes Palast aufgebrochen war. Sie konnte nicht ernsthaft erwartet haben, nach dem Anschlag lebend davonzukommen. Ich aber war zutiefst erschüttert und bat Bonaparte um Gnade für Aflah.
Er musterte mich kritisch. »Sie haben ein zu weiches Herz, Bürger Topart, das habe ich schon in jenem Tal bei den Beduinen bemerkt. Sie sind kein Soldat und können sich das vielleicht leisten. Ich aber trage die Verantwortung für meine Armee und für Frankreich.
Ein erfolgreicher Anschlag auf mich könnte leicht der Auslöser einer neuen Revolte sein und viele gute Soldaten das Leben kosten. Das gilt es mit allen Mitteln zu verhindern. Und eine bessere Abschreckung für mögliche Nachahmer als eine öffentliche Hinrichtung kann ich mir nicht vorstellen. Deshalb muß ich Ihre Bitte abschlagen, Topart, so leid mir das auch tut. Wünschen Sie sich etwas anderes von mir! Immerhin habe ich Ihnen mein Leben zu verdanken.«
Als ich hilflos schwieg, ergriff Onkel Jean das Wort:
»Bürger General, ich spreche sicher auch für meinen Neffen, wenn ich Sie bitte, uns die Expedition zum Wü-
stentempel zu genehmigen.«
»Nun gut, meinetwegen, wenn es Sie so in die Wüste zieht! Sie kriegen Ihre Expedition und auch Ihren Kollegen Ladoux. Ich hoffe nur, er läßt sich ebenso freudig auf dieses Abenteuer ein wie Sie, Cordelier.« Und dann wandte Bonaparte sich übergangslos an die Grenadiere.
»Bringt die Gefangene hinaus, und sperrt sie ein! Ich werde später darüber entscheiden, wann und unter welchen Umständen sie hingerichtet wird.«
Onkel Jean und ich gingen nach Hause, weil er für die Expedition einige Vorkehrungen treffen wollte. Ich dagegen konnte keinen klaren Gedanken fassen. Immer wieder tauchte Aflahs Gesicht vor mir auf. Wie sie uns im Haus ihres Vaters den Kaffee serviert hatte. Bei unserer kurzen Begegnung, als ich sie zum ersten Mal mit dem Schleier gesehen hatte. Und wie sie an diesem Tag als haßerfüllte Attentäterin vor uns gestanden hatte. Im Rückblick erschien das als folgerichtige Entwicklung, und ich warf mir vor, es nicht erkannt und verhindert zu haben.
Als ich meinem Onkel davon erzählte, sagte er:
»Quäl dich nicht mit solchen Gedanken, Bastien! Sie sind unnütz, weil du nichts mehr ändern kannst. Zudem sind sie falsch. Wie oft hast du Aflah gesehen, dreimal? Was hättest du ausrichten können, wenn nicht einmal ihr Vater imstande war, die Tat zu verhindern?
Der arme Maruf, es wird ihn schwer treffen!« Wie schwer, das sollten wir erfahren, sobald wir unser Haus betraten. Malik berichtete eilfertig von einem Besucher, der sich nicht habe abweisen lassen und nun im Salon auf uns warte. Es war niemand anderer als Aflahs Vater, und er sah aus wie ein Gespenst. Er schien um Jahre gealtert, die Schultern waren nach vorn gesunken, und sein Gesicht wirkte trotz orientalischer Bräune aschfahl.
Er stand mitten im Raum und fragte ohne ein Wort der Begrüßung: »Ist meine Tochter noch am Leben?«
»Sie lebt, aber General Bonaparte will sie hinrichten lassen«, antwortete mein Onkel. »Wie haben Sie so schnell davon erfahren?«
»Es geht schneller von Haus zu Haus, als der Wind bläst. Ein Junge kam vorbei und hat sich mit der bösen Nachricht auch noch ein Trinkgeld verdient. Wie geht es Aflah?«
»Sie scheint sehr gefaßt. Aber sie hat kein Wort gesagt, und so wissen wir nicht, wie es in ihrem Inneren aussieht.«
»Sie hat schon lange nur noch das Nötigste gesagt.
Ihre Gedanken lagen ebenso hinter dem Schleier verborgen wie ihr Gesicht. Seit Hassans Tod hat sie sich verändert. Ich habe mir Sorgen um sie gemacht, große Sorgen, aber ich hätte niemals gedacht, daß sie so weit gehen würde. Aflah, die Glückliche, habe ich sie genannt, weil das Glück ihr immer lächeln sollte. Jetzt könnte ich mir keinen unpassenderen Namen vorstellen. Die Unglückliche müßte sie heißen!«
»Können wir irgend etwas für Sie tun, Maruf ibn Saad?« fragte ich.
»Für mich? Nein, nicht für mich, aber für meine Tochter. Bewahren Sie Aflah vor dem Tod, ich bitte Sie!«
»Mein Neffe hat es versucht«, erklärte Onkel Jean.
»Vergebens. Bonaparte ist fest entschlossen, an ihr ein Exempel zu statuieren. Das sind seine Worte.«
»Sie müssen ihn umstimmen!« flehte Maruf. »Ich weiß, daß Sie das können!«
Mein Onkel schüttelte den Kopf. »Da überschätzen Sie unseren Einfluß, mein Freund.«
»Tun Sie es!« sagte der verzweifelte Vater, jetzt mit einer Schärfe, die mich überraschte. »Retten Sie Aflah, und ich helfe Ihnen, das Beduinenmädchen zu finden!«
»Wovon sprechen Sie?« fragte mein Onkel.
»Von der Beduinin, die hier gewohnt hat, bevor Bonaparte sie in seinen Palast holte. Von der Frau, die seit dem Angriff auf den Palast verschwunden ist und nach der Sie suchen.«
»Sie wissen davon?«
»Ich lebe seit Jahrzehnten in Kairo und habe gute Bekannte, die mir zutragen, was in der Stadt vor sich geht. Ihr Europäer haltet Dinge für geheim, die die Einheimischen einander lachend beim Abendkaffee erzählen. Ja, ich weiß von der Frau und ihrer Entführung. Sie meinen, daß die Ritter mit dem doppelten Kreuz dahin-terstecken, nicht wahr? Ich weiß nämlich auch, daß Sie ein Schwert mit diesem Zeichen im Garten von Bonapartes Palast gefunden haben. Und ich weiß noch mehr.
Ich kann Ihnen sagen, wo Sie die Ritter finden!«
Ich trat auf ihn zu, bis ich dicht vor ihm stand.
»Woher wissen Sie das?«
Maruf wich keinen Schritt zurück. »Das erfahren Sie, wenn es soweit ist. Erst will ich meine Tochter sehen und die Gewißheit haben, daß sie am Leben bleibt!«
»Was gibt uns die Sicherheit, daß Sie uns nicht hin-tergehen?« fragte ich.
»Meine Ehre und mein Ruf.«
Onkel Jean faßte mich am Arm und zog mich von Maruf weg. »Also gut, wir versuchen noch einmal unser Glück bei Bonaparte«, sagte er. »Ich werde ihn sogleich aufsuchen.«
»Danke«, erwiderte Maruf und schickte sich an, den Salon zu verlassen. In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Verzeihen Sie, daß ich uneingeladen in Ihr Haus gekommen bin. Das gehört sich nicht für einen Mann von Ehre, aber ich war verzweifelt. Seien Sie versichert, daß es nicht wieder vorkommen wird.«
Als er gegangen war, griff ich nach der Wasserkaraf-fe auf dem Tisch, goß eins der daneben aufgereihten Gläser randvoll und leerte es in einem Zug.
»Das ist ein Tag voller Überraschungen. Glauben Sie, Onkel, daß er es ehrlich mit uns meint?«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Dann müssen wir Bonaparte umstimmen!«
»Nicht wir, sondern ich, Bastien. Deine Gegenwart scheint ihn, jedenfalls ist das mein Eindruck, etwas zu enervieren. Nein, keine Widerrede. Außerdem solltest du dich ein paar Minuten hinlegen, du wirkst sehr mitgenommen.«
»Aber wie wollen Sie Bonaparte überzeugen, Onkel?«
»Ich denke, wir müssen ihn einweihen.«
»Sie wollen ihm von dem Wahren Kreuz erzählen?
Aber das wäre ein Verrat an Ourida!«
»Was ist dir wichtiger, Bastien? Willst du ihr Geheimnis bewahren? Oder willst du sie aus den Fängen der Ritter vom Verlorenen Kreuz, die ihr ja wohl nach dem Leben trachten, befreien?«
Ich setzte mich hin und stützte meinen schweren Kopf in die Hände. »Sie haben natürlich recht, Onkel, wie immer. Also gut, wenn es nötig ist, weihen Sie Bonaparte ein!«
Ich befolgte Onkel Jeans Ratschlag, legte mich auf mein Bett und schloß die Augen, um etwas Ruhe zu finden.
Doch mir ging zu vieles im Kopf herum, und ich wälzte mich von einer Seite auf die andere.
Hauptsächlich beschäftigte mich Marufs Eröffnung, er könne uns den Aufenthaltsort der Ritter verraten.
Wenn das stimmte, war Ouridas Rettung in greifbare Nähe gerückt! Vergebens zermarterte ich mir den Kopf darüber, was er wissen und woher er sein Wissen haben mochte. Es half alles nichts, ich mußte mich gedulden.
Rastlos schwang ich mich schließlich vom Bett und suchte die Bibliothek auf, wo ein großer Brandfleck auf dem Boden von den Verwüstungen zeugte. Um mich abzulenken, wollte ich meinem Onkel helfen, seine Bü-
cher einzuordnen. Auf dem Lesetisch und dem Fußboden türmten sich mehrere Stapel, die darauf warteten, in die neu errichteten Regale gestellt zu werden. Ich kannte Onkels Jeans System, die Bücher wurden nach Wissensgebieten und dem Jahr der Erstveröffentlichung sortiert.
Bei einem schon recht abgewetzten braunen Leder-band machte mich der Titel stutzig: Über die Legende und Geschichte christlicher Reliquien. Eine Stelle in dem 1789 erschienenen Buch war mit einem Lesezei-chen markiert, einem Ausriß aus einer Zeitung. Neugierig geworden, schlug ich die betreffende Seite auf. Tatsächlich, es ging um das Wahre Kreuz! Ich begann zu lesen:
Der Verbleib des Wahren Kreuzes nach der Schlacht bei Hattin ist umstritten. Die meisten Historiker behaupten, es sei dem Sultan Saladin in die Hände gefallen, der es als Zeichen seines Sieges gut verwahrt habe.
Ab diesem Zeitpunkt jedoch gehen die Berichte stark auseinander. Wohl soll Saladin dem französischen Kö-
nig Phillipp II. und dem englischen König Richard Lö-
wenherz anläßlich des dritten Kreuzzugs eine Rückgabe des Kreuzes zugesichert haben, aber nach Überprüfung der überwiegenden und verläßlichsten Quellen läßt sich feststellen, daß die Rückgabe unterblieben ist. Überwiegend wird behauptet, das Wahre Kreuz sei seitdem verschollen. Es gibt aber eine Legende in der arabischen Literatur, wonach Saladin nicht das Kreuz Jesu erbeutet hat, sondern eine Fälschung. Das Wahre Kreuz sei ein paar ausgesuchten Rittern mit dem Auftrag übergeben worden, es vor den Truppen Saladins zu retten. Diese Ritter sollen in der Wüste Aufnahme bei einem Beduinenstamm gefunden haben, bei dem, so die Legende, das Kreuz noch heute in Verwahrung ist.
Verwirrt hielt ich inne und ließ mich auf einen der von Nafi reparierten Stühle sinken. Was ich eben gelesen hatte, enthielt nichts, was mir neu gewesen wäre. Mich irritierte der Umstand, daß es überhaupt dort niedergeschrieben war. Bislang hatte ich das Schicksal des Wahren Kreuzes für ein Geheimnis gehalten, und jetzt fand ich es in einem französischen Buch niedergeschrieben, nur vage zwar, aber insgesamt doch im Einklang mit dem, was ich in den vergangenen Tagen erfahren hatte. Hatte Onkel Jean die Stelle erst kürzlich entdeckt und nur noch keine Zeit gefunden, mit mir darüber zu sprechen?
Ich betrachtete den Zeitungsausriß, der als Lese-zeichen diente. Es war ein Fetzen aus einer französischen Zeitung. Der Tag war nicht mehr zu erkennen, aber Monat und Jahr konnte ich lesen: September 1797. Ungläubig starrte ich auf das Datum und las es zehn- oder zwölfmal. September 1797!
Demnach mußte mein Onkel die Geschichte über die Rettung des Wahren Kreuzes längst gekannt haben, als ich sie ihm drei Nächte zuvor erzählte. Das erschien mir unglaublich – es ergab keinen Sinn!
Natürlich, da fiel es mir ein: Die Zeitung war schon alt gewesen, als Onkel Jean die Stelle markierte. Nach unserem nächtlichen Gespräch selbstverständlich. Aber als ich erneut in das Buch sah, bemerkte ich einen fetten schwarzen Fleck genau dort, wo der Ausriß gelegen hatte. Die Druckerschwärze mußte ihn hinterlassen haben; darum war der Tag auf dem Ausriß verwischt. Die Zeitung war also druckfrisch gewesen, als mein Onkel die Buchseite markierte.
Sosehr ich mich auch dagegen sträubte, ich mußte doch schlucken, daß Onkel Jean schon viel länger wußte als ich, daß das Wahre Kreuz bei einem Beduinenstamm zu suchen war!
Ich legte den Ausriß wieder in das Buch und das Buch zurück auf den Stapel. Anschließend nahm ich alle Bände, die ich einsortiert hatte, wieder aus den Regalen und legte auch sie zurück auf Tisch und Boden. Das tat ich ganz mechanisch, und hätte man mich nach einer Erklärung gefragt, wäre ich die Antwort schuldig geblieben.
Mein Onkel sollte nicht merken, daß ich hinter sein Geheimnis gekommen war, sicher, aber warum nicht?
Ich wußte es nicht. Er mochte gute Gründe für sein Schweigen haben, so wie ich gute Gründe gehabt hatte, ihm erst spät von dem zu berichten, was ich im Tal der Abnaa Al Salieb erfahren hatte. Obwohl auch ich nicht immer offen zu ihm gewesen war, konnte ich das Ge-fühl nicht abschütteln, betrogen worden zu sein. Von dem einzigen Menschen, dem ich seit meiner Kindheit vertraute.
Ich lief hinaus in den Garten, hatte aber kein Auge für die Schönheit der Natur. Ruhelos wanderte ich umher und wäre um ein Haar auf einen Igel getreten, der träge mitten auf dem Weg hockte.
Meine Gedanken kreisten um das eben Gelesene: Das Wahre Kreuz sei ein paar ausgesuchten Rittern mit dem Auftrag übergeben worden, es vor den Truppen Saladins zu retten. Diese Ritter sollen in der Wüste Aufnahme bei einem Beduinenstamm gefunden haben, bei dem, so die Legende, das Kreuz noch heute in Verwahrung ist.
Das waren die Kernsätze, die das Geheimnis des Wahren Kreuzes – Ouridas Geheimnis – beinhalteten.
Hatte Onkel Jean es schlichtweg vergessen?
Nein, er verfügte über ein ausgezeichnetes Gedäch-tnis und wußte noch nach Jahren, was in welchem Buch stand. Es war ungefähr ein Jahr her, daß er diese Textstelle gelesen und eigens markiert hatte. Sie mußte ihm also etwas bedeutet haben.
Soviel ich auch hin und her überlegte, eine Frage drängte sich immer wieder in den Vordergrund: Hatte Onkel Jean schon nach dem Wahren Kreuz gesucht, lange bevor wir in Ägypten an Land gingen?
Pferdegetrappel und das Rattern eines Wagens rissen mich aus meinen Gedanken, die sich fruchtlos im Kreis drehten. Ich lief zur Straße und sah eine geschlossene Kutsche vor Maruf ibn Saads Haus halten, begleitet von sechs oder sieben Dragonern. Auch der Mann auf dem Kutschbock trug die französische Uniform. Einer der Dragoner stieg ab und öffnete den Verschlag. Mein Onkel stieg aus und dann eine verschleierte Frau. Es konnte niemand anderes sein als Aflah.
Ich straffte mich, ordnete mein zerwühltes Haar und beschloß, mir nichts von meiner Verwirrung anmerken zu lassen. Ich ging zu den beiden hinüber.
»Wie ich sehe, sind Sie erfolgreich gewesen, Onkel«, rief ich schon von weitem.
Er lächelte gequält. »Es war nicht einfach. Bonaparte stand kurz vor einem Tobsuchtsanfall, aber dann ließ er sich doch dazu bewegen, Aflah in die Obhut ihres Vaters zu entlassen. Das ist mehr, als ich erwartet hatte.«
»Also sieht er von einer Hinrichtung ab?«
Onkel Jean nickte.
»Zu welchem Preis?«
»Ich mußte ihn in alles einweihen. Es ließ sich nicht umgehen. Daß er sich in Kairo noch unbeliebter machen würde, wenn er die Tochter des allseits geachteten Maruf ibn Saad hinrichten ließe, hat er zwar eingese-hen, aber sein Drang nach Vergeltung war übermächtig.«
So leise, daß nur mein Onkel es verstand, fragte ich:
»Will Bonaparte das Wahre Kreuz haben? Immerhin hält die Republik nichts von der Kirche und ihren Reliquien.«
Onkel Jean zuckte mit den Schultern. »Laß uns erst einmal Aflah zu ihrem Vater bringen!«
Während die Kutsche und die Dragoner umkehrten, gingen wir mit Aflah zu dem großen, noch immer wie verlassen daliegenden Haus. Mir war, als trüge das ganze Anwesen Trauer.
Der Hausherr selbst öffnete uns, sobald wir den überdachten Eingang erreichten. Offenbar hatte er uns bereits kommen sehen. Hinter ihm standen zwei ältere Dienerinnen. Falls ich ein rührendes Wiedersehen erwartet hatte, wurde ich enttäuscht. Keine Regung in Marufs Gesicht ließ erkennen, was er empfand.
Aflah nahm ihren Schleier ab und sah ihren Vater an. Die geröteten Wangen verrieten, daß sie geweint hatte.
»Verzeih mir, Vater!« bat sie mit zitternder Stimme.
» Uskut! – Schweig!« erwiderte er. »Wenn ich etwas von dir hören will, werde ich dich fragen. Du wirst jetzt mit Miluda und Sebha gehen und tun, was sie dir sagen!«
Die beiden Dienerinnen nahmen Aflah in ihre Mitte.
Bevor die drei im rückwärtigen Teil des Hauses verschwanden, sah Aflah sich noch einmal zu mir um. In ihrem Blick lag kein Haß mehr, sondern etwas anderes, die Bitte um Verständnis. Ich hätte ihr gern etwas Ver-bindliches gesagt, aber da entfernten sich die Dienerinnen schon mit ihr. Bedauern erfüllte mich, als hätte ich da schon gewußt, daß ich Aflah nicht wiedersehen würde.
»Was geschieht mit ihr?« fragte ich Maruf ibn Saad, auch wenn diese Neugier ungehörig sein mochte. »Ich werde sie zu Verwandten nach Alexandria bringen, die es mit den Geboten des Korans genauer nehmen als ich.
Dort wird sie lernen, wie eine Frau sich zu benehmen hat. Meine Erziehung war falsch. Aflah wird ein anderer Mensch werden und lernen, ihrem Vater zu gehor-chen. Nur dann wird sie eines Tages vielleicht auch einen Mann finden.«
»Und wenn sie es nicht lernt?«
»Dann wird sie nie wieder einen Fuß vor die Tür setzen!« Maruf ibn Saads Einstellung zu seiner Tochter schien sich von Grund auf gewandelt zu haben. Wie stolz war er auf sie gewesen, als wir zum ersten Mal in seinem Haus waren! Stolz und voller Liebe. Jetzt wirkte er kalt. Bestrafte er am Ende sich selbst mehr als Aflah, um seine Tochter vor größerem Unheil zu bewahren?
»Ich habe Ihnen eine Belohnung versprochen«, sagte er. »Folgen Sie mir, bitte!«
Er führte uns in den großen Salon, in dem er uns schon bei unserem ersten Besuch empfangen hatte. Als wir auf den Sitzkissen Platz genommen hatten, fragte er: »Verzichten wir auf alle Höflichkeiten und kommen gleich zum Wesentlichen?«
»Das wäre mir lieb«, antwortete Onkel Jean. »Gut.
Nach unserem letzten Gespräch habe ich aus Forscherdrang die Bibliotheken und Buchhandlungen Kairos nach Informationen über jenen Ritterorden durchfor-stet. Dabei habe ich etwas gefunden, von dem ich damals noch nicht ahnen konnte, daß das Leben meiner Tochter davon abhängt.« Maruf öffnete einen schmalen Holzkasten und entnahm ihm eine zusammengerollte Karte, die er vor uns auf dem Boden ausbreitete. Es war eine mit arabischen Schriftzeichen versehene Landkarte Ägyptens. Außer den Städten waren noch andere Punkte markiert, und zwar jeweils durch einen Turm.
Einige dieser Türme waren schwarz ausgemalt, andere schraffiert.
»Sehen Sie die vielen Türme?« fragte Maruf.
»Ja«, sagte mein Onkel. »Was bedeuten sie?«
Bevor Maruf noch antworten konnte, rief ich: »Festungen! Auf der Karte sind Festungen eingezeichnet!«
»Richtig«, bestätigte Maruf. »Es handelt sich um ei-ne militärische Karte aus dem zwölften Jahrhundert. In dieser Zeit wurden, wie die Karte zeigt, in Ägypten verstärkt Befestigungsanlagen gebaut. Wahrscheinlich, weil man befürchtete, die Kreuzfahrer könnten vom Heiligen Land aus nach Westen vordringen. Die bereits fertiggestellten Festungen sind schwarz ausgemalt, die noch im Bau befindlichen schraffiert.«
Er nahm eine zweite Karte aus dem Kasten und legte sie neben die erste. »Diese Karte ist hundert bis hundertfünfzig Jahre später entstanden. Auch hier sind alle Festungen eingezeichnet, und zwar als Gebäude mit gekreuzten Schwertern. Fällt Ihnen, wenn Sie die Karten miteinander vergleichen, etwas auf?«
Onkel Jean und ich sahen genau hin. Die zweite Karte war in einem größeren Maßstab gezeichnet, aber trotzdem ließen sich beide gut miteinander vergleichen.
»Auf der zweiten Karte sind alle Festungen als vollendet dargestellt«, sagte mein Onkel schließlich. »Ist es das, was Sie meinen, Maruf ibn Saad?«
»Nein.«
Onkel Jean klopfte mir auf die Schulter. »Bastien, du hast doch ein Auge für graphische Darstellungen. Was ist das Geheimnis der zweiten Karte?«
Ich ließ mir Zeit, um die Karten Stück für Stück miteinander zu vergleichen, und dann sah ich es: »Das Geheimnis ist nicht das, was auf der zweiten Karte verzeichnet ist, sondern das, was fehlt. Diese Festung!« Ich zeigte auf eine der schraffierten, also noch im Bau befindlichen Festungen auf der ersten Karte, südwestlich von Kairo. »Sie kommt auf der zweiten Karte nicht vor.«
»Dann ist der Bau wohl nicht vollendet worden«, meinte Onkel Jean.
Unser Gastgeber klatschte in die Hände wie ein zufriedener Lehrer. »Sie haben es herausgefunden! Auch ich habe einige Zeit gebraucht, um dahinterzukom-men.«
»Na schön«, brummte Onkel Jean. »Aber was hat eine unvollendete arabische Festung mit den Kreuzrittern zu tun?«
»Sie wäre ein perfekter Unterschlupf«, sagte Maruf.
»Ich habe keine andere Karte gefunden, auf der sie verzeichnet ist. Eine vergessene Festung, von Kairo vielleicht zwei Tagesritte entfernt. Und nach allem, was Sie mir erzählt haben, müßte die Entfernung von dieser Festung zu dem geheimnisvollen Wüstentempel ungefähr ebenso groß sein. Einen geeigneteren Ausgangs-punkt für ihre Unternehmungen hätten die Kreuzritter kaum finden können. Dies muß ihr Versteck sein!«
Mein Onkel beugte sich noch einmal über die Karten und sah dann den Ägypter an. »Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr neige ich dazu, Ihnen recht zu geben.«
»Heißt das, ich habe meine Schuld beglichen?«
»Das haben Sie, Maruf ibn Saad.«
Maruf schien erleichtert, aber nur für einen Augenblick. Als er die Karten zusammenrollte und zurück in den Kasten legte, trug er wieder eine unbewegte Miene zur Schau. Er reichte uns den Kasten mit den Worten:
»Mein Abschiedsgeschenk!«
Ich nahm den Kasten entgegen. »Wieso Abschied?
Wir sind Nachbarn und sehen uns bestimmt noch häufig.«
»Nehmen Sie es nicht persönlich und schon gar nicht als Beleidigung, aber nach allem, was geschehen ist, möchte ich von nun an keine Europäer mehr in meinem Haus haben!«
Er begleitete uns noch zur Tür, und ich sagte: »Viel Glück bei allem, was Sie vorhaben, Maruf ibn Saad!«
Leise erwiderte er: »Das Glück hat mein Haus verlassen.«