40. KAPITEL
Das Versteck
m wilden Galopp, weit über den Hals seines Rap-I pen gebeugt, kehrte der Beduine, der als Späher vorausgeritten war, zu uns zurück.
Es war der zweite Nachmittag, seit wir die alte Rö-
merfestung verlassen hatten, und wir rechneten damit, bald den Wüstentempel zu erreichen, das Versteck des Wahren Kreuzes. Bislang waren wir ohne jeden Zwi-schenfall vorangekommen, aber jetzt ließen die Eile und die angespannte Miene des Spähers das Schlimmste befürchten.
Belkassim zügelte sein Pferd erst im letzten Augenblick und deutete aufgeregt nach Nordosten. Dort lag Kairo.
»Viele Soldaten kommen von dort, Frankensoldaten!«
Wir blickten in die Richtung, in die er zeigte, konnten aber nichts erkennen, weil sich parallel zu unserer Marschrichtung eine Kette hoher Sanddünen erstreckte.
Murad, auf dessen Wort die letzten Krieger der Abnaa Al Salieb hörten, Ourida, Onkel Jean und ich trieben unsere Pferde an und ritten auf die Dünen zu.
Bevor wir den höchsten Punkt erreicht hatten, stiegen wir ab und rammten die Holzpflöcke in den Boden, an denen wir die Pferde festbanden; eigens zu diesem Zweck hatte jeder Reiter einen solchen Pflock dabei.
Auf allen vieren krochen wir zur Kuppe der Sanddüne, spähten nach Nordosten und erblickten eine langgezogene Kette von Soldaten und Packtieren.
»Das ist eine kleine Armee«, sagte mein Onkel. Ich zog das Fernrohr hervor und blickte hindurch. An der Spitze der Kolonne ritt auf einem Schimmel ein drahtiger, kleiner Mann in einer vom langen Marsch ver-schmutzten Generalsuniform.
»Bonaparte selbst führt die Truppe an!« rief ich.
»Was will er mit den vielen Soldaten beim Tempel? Ich dachte, er würde auf direktem Weg zum Unterschlupf der Kreuzritter eilen.«
Auch Onkel Jean schaute durch das Fernrohr. »Ich sehe nur Infanterie und ein paar leichte Geschütze; bis auf einige Husaren für die Vorhut und die Flankensi-cherung keine Kavallerie. Vermutlich hat er, nachdem er Maruf ibn Saad zum Sprechen gebracht hat, die schnellere Kavallerie zu der alten Burg geschickt und ist selbst mit diesen Truppen zum Tempel aufgebrochen.«
»Aber warum?« fragte ich noch einmal.
»Darüber können wir nur spekulieren. General Bonaparte ist bekannt für seine Intuition. Vielleicht ist er ihr gefolgt, als er sich entschloß, mit einem größeren Trupp zum Tempel aufzubrechen. Vielleicht hat er auch etwas in Erfahrung gebracht, von dem wir nichts wissen. Sei’s drum, jedenfalls ist er hier! Zwar bewegen sich seine Soldaten langsamer als wir, aber selbst wenn wir uns beeilen, sind wir allenfalls eine halbe Stunde vor ihm beim Tempel. Es könnte knapp werden, besonders wenn er auf die Idee kommt, ein paar Husaren vorauszuschicken.«
Er reichte das Fernrohr an Ourida und Murad weiter, und Ourida sagte: »Wir müßten die Soldaten ab-lenken und sie dadurch von der Zuflucht fernhalten.«
»Das übernehmen meine Krieger und ich«, schlug Murad vor. »Die Frankensoldaten sollen sehen, daß die Abnaa Al Salieb noch nicht besiegt sind!«
Ourida warf ihm einen strengen, aber auch besorgten Blick zu. »Ihr dürft euer Leben nicht opfern! Die Letzten unseres Stammes brauchen dich und die anderen Krieger, Murad!« Ein grimmiger Ausdruck trat auf Murads Gesicht. »Diesmal überraschen wir sie und kämpfen nach unseren Regeln. Wir lassen es nicht zum offenen Gefecht kommen. Auf unseren Pferden sind wir schneller als die Fußsoldaten, und sie haben nur wenige Reiter. Die werden wir von den anderen fortlocken.
Dann werden die Fußsoldaten anhalten und sich auf den Kampf vorbereiten, weil sie nicht wissen, daß wir so wenige sind. So solltest du, Hüterin des Kreuzes, mit deinen Begleitern genügend Zeit haben.«
Der Plan wurde allseits befürwortet. Als Treffpunkt vereinbarten Ourida und Murad einen markanten Felsen südlich des Tempels, der Al-Himar – Esel – genannt wurde. Dorthin sollten alle so rasch wie möglich kommen. Der jüngste Beduinenkrieger erhielt den Auftrag, die Packpferde geradewegs zum Eselsfelsen zu bringen.
Er sträubte sich erst, denn er wäre lieber mit in den Kampf gezogen, aber schließlich fügte er sich.
Ourida, mein Onkel und ich blieben auf der Sanddüne zurück und beobachteten, wie die französischen Soldaten sich nicht eben schnell, aber beharrlich weiter in Richtung des Tempels bewegten. Murad und seine sieben Begleiter verschwanden hinter einer der sanft geschwungenen Dünen und tauchten einige Minuten später an Bonapartes rechter Flanke wieder auf. Die Zahl der französischen Soldaten betrug weit über tausend, vielleicht auch zweitausend. Es war ein atembe-raubender Anblick, als sich nur acht Beduinen ihnen entgegenwarfen.
Die Abnaa Al Salieb stießen gellende Kriegsschreie aus, um die Aufmerksamkeit ihrer Feinde zu wecken.
Durch das Fernrohr sah ich deutlich, wie Bonaparte sich im Sattel umdrehte und seinen Offizieren Befehle zurief. Hörner und Trommeln gaben die Alarmsignale weiter. Die Marschkolonne hielt an, und die Soldaten formierten sich zur Gegenwehr. Noch immer galoppierten Murad und seine Begleiter auf den Feind zu, und ich sah, wie besorgt Ourida das Schauspiel verfolgte.
Würden die Krieger sich von ihrem Haß auf die Franzosen, die Schlächter ihres Stammes, überwältigen lassen und einen tödlichen Angriff reiten?
Die Husaren auf der rechten Flanke, ungefähr fünfzehn Mann, hatten ihre Pferde herumgerissen und bereiteten sich auf einen Gegenangriff vor. Pfeile, von den Beduinen im Galopp abgeschossen, rissen zwei von ihnen aus dem Sattel. Jetzt drehten die Beduinen zu unserer Erleichterung nach links ab und ritten, von Husaren verfolgt, wieder in die Dünen hinein.
»Es verläuft nach Plan!« rief ich freudig. »Wir sollten jetzt aufbrechen!«
»Du hast recht«, sagte mein Onkel. »Bonaparte ist kein Dummkopf. Sobald er dahinterkommt, daß da nur eine Handvoll Reiter mit ihm ›Fang mich‹ spielt, wird er den Marsch zum Tempel fortsetzen.«
Wir krochen zurück zu den Pferden, führten sie zur Sicherheit noch ein Stück die Düne hinunter und stiegen dann auf, um im Galopp zu dem Ort zu reiten, an dem das Wahre Kreuz versteckt war.
Auf der letzten Erhebung vor dem Wüstentempel machten wir halt, um uns einen Eindruck von der Lage zu verschaffen.
Ein seltsames Gefühl beschlich mich, als ich den Felsen mit dem Eingang zur Zuflucht der Abnaa Al Salieb erblickte, eine Mischung aus gespannter innerer Erwartung und Ungewißheit, ob wir das Richtige taten und ob wir mit heiler Haut davonkommen würden.
Trotz der enormen Hitze, die der glühende Sonnenball über der Sahara verströmte, rieselte es mir kalt den Rücken hinunter. Ich dachte an die Legende vom Todesengel und fragte mich, was mit den Seelen aus dem goldenen Gefäß geschah, wenn sie ihren Auftrag erfüllt hatten. Blieben sie in dem Körper, in den Malaku’1-Maut sie gesandt hatte, und lebten fort? Oder rief er sie sogleich wieder zu sich? Ourida mußte meine Anspannung bemerkt haben. Sie faßte mich bei der Hand und lächelte mir aufmunternd zu. Ich bewunderte sie für die Ruhe, die sie ausstrahlte. Wieviel Kraft und Zuversicht sie hatte!
Meine Anspannung ließ etwas nach, und ich empfand einen Hauch von Wehmut. Ich erinnerte mich, wie ich zum ersten Mal vor dem steinernen Untier, halb Löwe und halb Adler, gestanden und mich gefragt hatte, welche Geheimnisse es bewachen mochte. Damals hatte ich an die Geheimnisse vergangener Zeit gedacht und mir nicht Dinge vorgestellt, die bis ins Heute hi-neinreichten.
Der Kampf um das Wahre Kreuz hatte vielen Menschen das Leben gekostet, in den vergangenen Jahrhunderten, aber auch in der kurzen Zeit, seit ich mit dem Geheimnis der Reliquie in Berührung gekommen war.
Wie gern hätte ich die Toten wieder zum Leben erweckt! Aber das konnte ich nicht, ich konnte nur das beenden, was Roland de Giraud sechshundert Jahre zuvor begonnen hatte.
Mit Tüchern wischten wir den Pferden den Schweiß ab, damit man ihnen nicht ansah, was für ein Gewaltritt hinter uns lag. Dann stiegen wir wieder in die Sättel und ritten eher gemächlich und scheinbar ohne Hast auf das französische Militärlager zu.
Den Befehl über die Grenadierkompanie hatte ein Hauptmann Laforce inne. Der kam uns mit einigen seiner Soldaten entgegen. In seinem Gefolge entdeckte ich auch Sergeant Kalfan, der uns freudig zuwinkte.
Laforce, dessen längliches Gesicht von einer Säbel-narbe auf der linken Wange gezeichnet war, begrüßte uns, nachdem wir abgestiegen waren, höflich und sagte zu meinem Onkel: »Schön, daß Sie wieder bei uns sind, Professor. Wollen Sie Ihre Arbeit im Tempel fortsetzen, sobald General Bonaparte eingetroffen ist?«
Also hatte Bonaparte sein Kommen bereits angekündigt; er mußte einen Kurier gesandt haben. Mein Onkel ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen.
»So ist es, Hauptmann«, sagte er. »Allerdings ist Bonaparte aufgehalten worden und wird erst später hier eintreffen. Er hat uns vorausgeschickt mit dem Auftrag, etwas aus dem Tempel zu holen.«
»Das ist seltsam«, brummte Laforce stirnrunzelnd.
»Ich habe von ihm den ausdrücklichen Befehl erhalten, niemanden in den Tempel zu lassen, bis er selbst hier ist.«
Onkel Jean lächelte. »Das gilt selbstverständlich nicht für uns. Schließlich leite ich die Arbeiten hier!«
Laforce schüttelte leicht den Kopf. »Bedauere, aber der Befehl des Generals ist eindeutig. Niemand darf in den Tempel. So ist der Wortlaut.«
Mein Onkel zog die Ermächtigung hervor, die Bonaparte ihm ausgestellt hatte, und reichte sie dem Hauptmann.
»Lesen Sie das, bitte! Der Wortlaut ist wohl auch eindeutig, oder? Dem Inhaber dieses Schreibens, dem Bürger Jean Cordelier, Mitglied des Instituts von Ägypten, ist es gestattet, sich jederzeit frei und ungehindert zu bewegen.«
»Ja, schon«, bestätigte Laforce, nachdem er das Papier studiert hatte. »Aber der Befehl, niemanden in den Tempel zu lassen, ist jüngeren Datums.«
Onkel Jean ließ sich das Dokument zurückgeben und sagte: »Dieses Schreiben, von Bonaparte unterzeichnet, ist damit aber nicht aufgehoben. Er selbst hat mich schließlich vor kurzem erst hergesandt. Hören Sie, Hauptmann, es geht um eine sehr wichtige Angelegenheit, die wir im Tempel für den General erledigen sollen. Wenn Sie uns daran hindern, wird ihm das gar nicht gefallen!«
Schweißtropfen traten auf Laforce’ hohe Stirn, und er nestelte an seinem Uniformkragen herum, als sei der ihm plötzlich zu eng geworden.
»Sie bringen mich da in eine verflucht schwierige Lage, Bürger Cordelier! Zwei einander widersprechen-de Befehle, das hat schon manchen Offizier die Laufbahn gekostet!«
Sergeant Kalfan strich über seinen martialischen Schnurrbart und sagte mit dröhnender Stimme: »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß der Professor nicht in den Tempel darf. Schließlich ist er Mitglied des Instituts von Ägypten, genauso wie General Bonaparte.«
»Schön, also gut«, rang der Hauptmann sich endlich durch. »Dann gehen Sie meinethalben hinein, Bürger Cordelier, aber nur Sie allein!«
»Das geht nicht«, entgegnete mein Onkel. »Mein Neffe muß mir zur Hand gehen, und die Wüstenrose hier muß uns bei den Büchern in der Bibliothek helfen.
Sie kennt nämlich die Schrift, in der sie verfaßt sind.«
Wieder runzelte Laforce die Stirn. »Ich dachte, sie kann nicht sprechen!«
»Sie ist sehr gerissen und hat uns etwas vorgemacht, aber inzwischen ist sie bereit, mit uns zusammenzuarbei-ten. Wir haben ein bisschen nachgeholfen, Sie verstehen?«
Laforce musterte Ouridas geschwollene Wange.
»Na, dann gehen Sie eben alle drei. Oder brauchen Sie auch noch Unterstützung von meinen Männern?«
»Nicht nötig, Hauptmann, wir kommen zurecht.
Und vielen Dank, das war die richtige Entscheidung.
Ich bin sicher, General Bonaparte wird Ihrer weiteren Laufbahn besondere Aufmerksamkeit widmen.«
Ich trug die Fackel und ging voran, als wir tief in das alte Bauwerk hinabstiegen. Wer es errichtet hatte und welchen Göttern hier gehuldigt worden war, bevor die Abnaa Al Salieb es zu ihrer Zuflucht erkoren, war uns nicht bekannt und würde vielleicht erst in ferner Zukunft erforscht werden, wenn es gelang, die seltsamen Zeichen überall an den Wänden zu lesen.
»Wohin gehen wir?« fragte ich, als wir unten angekommen waren.
»In die Bibliothek«, antwortete Ourida.
»Von der Jussuf angeblich nichts wußte!« sagte ich.
Onkel Jean sah Ourida fragend an. »Also braucht man wirklich die Bücher, um das Geheimnis zu lüften?«
Aber Ourida lächelte nur still in sich hinein. Wir setzten unseren Weg fort und blickten schließlich durch den Mauerdurchbruch in die geheime Bibliothek mit ihren drei Wänden voller Bücher. Hier schien alles unverändert.
»Ich kann die Schrift übrigens wirklich lesen«, sagte Ourida.
»Sie ist heute kaum noch gebräuchlich, aber unser Stamm pflegt alte Traditionen. Wir haben diese Bücher über viele Generationen zusammengetragen, und das Wissen, das sie bergen, ist von unschätzbarem Wert. Es ist sehr bedauerlich, daß wir sie nicht mitnehmen können.«
»Wir sind in der Tat nicht hier, um die Bücher zu retten«, sagte mein Onkel. »Uns geht es um das Geheimnis, das in ihnen verborgen ist.«
»In den Büchern steckt kein Geheimnis«, erwiderte Ourida zu unserer Verblüffung. »Sie haben nichts mit dem Wahren Kreuz zu tun.«
Mein Onkel hob die Hände, wie um sich die Haare zu raufen. »Warum sind wir dann hier?«
»Das Wahre Kreuz ist hier, aber es steht in keinem Zusammenhang mit den Büchern. Wir haben dieses Versteck gewählt, um ein Geheimnis durch das andere zu schützen.« Onkel Jeans Gesicht hellte sich auf. »Ah, ich verstehe! Wer die Bibliothek entdeckt, glaubt, der Raum sei zugemauert worden, damit niemand die Bü-
cher findet. Er würde nicht auf die Idee kommen, daß hier ein ganz anderes Geheimnis verborgen ist.«
»Zumindest ein oberflächlicher Mensch würde so denken«, pflichtete Ourida ihm bei. »Aber wenn der Sultan des Feuers den Raum genau untersucht, kommt er vielleicht doch dahinter. Deshalb sind wir hier.«
Sie kniete sich hin und drückte die ausgestreckte rechte Hand an verschiedenen Stellen auf den Boden.
Es sah aus, als folge sie einem bestimmten Muster.
Und dann, ganz unerwartet, öffnete sich mit einem knarrenden Geräusch der Boden. Wie von Geisterhand bewegt glitt ein Stück Fels zur Seite.
»Ein komplizierter Mechanismus«, sagte Ourida überflüssigerweise. »Mein Urgroßvater Harith hat ihn ersonnen.«
Sie holte einen länglichen Holzkasten aus der Öffnung und nahm den Deckel ab. Ich senkte die Fackel, um besser sehen zu können, was in dem Kasten lag: eine orientalische Streitaxt mit doppelter Klinge.
»Das ist die Axt, die der Bischof von Lydda einst Roland de Giraud zu treuen Händen übergeben hat«, sagte ich andächtig. Es war keine Frage, denn ich erkannte die Waffe wieder.
Mein Onkel deutete auf den Schaft. »Und der Splitter vom Kreuz Jesu ist da drin?«
Statt zu antworten, nahm Ourida den Verschluß ab und zog ein samtenes Tuch heraus, das sie auf den Boden legte und sorgsam auseinanderschlug. Darin befand sich ein Holzstück von Unterarmlänge, in meinen Augen – wie in denen Roland de Girauds damals – absolut unscheinbar.
»Enttäuscht?« fragte Ourida. »Was habt ihr erwartet? Daß ihr Allâhs Stimme vernehmt, sobald ihr das Holz seht? Allâh allein entscheidet, wann er zu den Menschen spricht.«
Sie wickelte das Holzstück wieder ein, schob es in den Schaft der Axt und legte die Axt zurück in den Kasten. Erneut drückte sie auf bestimmte Stellen des Bodens, und die Öffnung schloß sich wieder. Sosehr ich meine Augen auch anstrengte, im flackernden Schein der Fackel war das Versteck nicht mehr zu erkennen.
Ourida erhob sich und hielt mir den Kasten hin.
»Trag du es! Vor langer Zeit wurde das Wahre Kreuz dem, der du warst, anvertraut.«
Ich reichte die Fackel meinem Onkel und nahm zö-
gernd den Kasten an mich. Auch jetzt merkte ich keine Veränderung, spürte nicht, daß etwas anderes als ein gewöhnliches Stück Holz in der Axt steckte.
»Verlassen wir diesen Ort!« seufzte Ourida. »Einst lebte ich hier mit einigen Brüdern und Schwestern, um das Wahre Kreuz in diesen unruhigen Zeiten zu behü-
ten. Jetzt sind sie alle tot, und dies ist keine Zuflucht mehr, sondern ein Ort, der an ein grausames Gemetzel erinnert.«
Als wir ans Tageslicht zurückkehrten, übergab Onkel Jean die Fackel einem Grenadier.
Hauptmann Laforce warf einen neugierigen Blick auf den mit Schnitzereien verzierten Holzkasten in meinen Händen. »Sie haben gefunden, was Sie suchten?«
Onkel Jean nickte. »General Bonaparte wird sehr zufrieden sein. Wir reiten gleich zu ihm und bringen ihm unseren Fund.«
Laforce sah nach Westen, wo die Sonne schon knapp über dem Horizont stand. »Aber es wird bald Nacht, Bürger Cordelier. Wollen Sie nicht lieber hier im Lager bleiben und morgen früh, ausgeruht und gestärkt, den Ritt durch die Wüste wagen?«
»Bonapartes Lager ist nicht allzu weit von hier entfernt. Der General wird es uns danken, wenn wir ihm dies schon heute übergeben.« Onkel Jean zeigte auf den Kasten.
»Wie Sie meinen«, sagte der Hauptmann. »Darf man fragen, was da drin ist?«
»Sie dürfen fragen, aber ich darf nicht darauf antworten.« Mein Onkel setzte eine entschuldigende Miene auf. »So lautet der Befehl des Generals.«
Laforce ließ unsere Pferde bringen, die inzwischen versorgt worden waren, und wünschte uns einen guten Ritt. Besonders herzlich verabschiedete ich mich von dem treuen Kalfan, den ich wohl nicht wiedersehen würde. Wir ritten in die Richtung von Bonapartes Marschkolonne – jedenfalls so lange, wie man uns vom Lager aus sehen konnte. Dann wollten wir umschwen-ken, das Lager in einem weiten Bogen umgehen und nach Süden reiten, zum Eselsfelsen.
Doch Onkel Jean stieg plötzlich vom Pferd und verlangte nach meinem Klappmesser.
»Was ist?« fragte ich. »Hat Ihr Pferd einen Stein im Huf?«
»Nein. Leihst du mir jetzt dein Messer?«
Ich gab es ihm und sah verwundert zu, wie er von dem Holzpfahl, an dem er zuvor auf der Sanddüne sein Pferd angebunden hatte, einen langen Splitter abtrennte. Danach klappte er das Messer zusammen und gab es mir zurück.
»Und jetzt den Kasten, bitte!«
Verwirrt blickte ich auf den Holzkasten, den ich hinter mir auf dem Pferd festgeschnallt hatte.
»Wozu?«
»Mach schon, Junge, die Zeit drängt!«
Ich stieg ebenfalls ab, löste die Gurte und gab ihm den Kasten.
Er öffnete ihn und zog das Tuch mit dem heiligen Stück Holz aus der Axt. Nach kurzem Zögern reichte er es mir. »Paß gut darauf auf, Bastien!« Dann schob er den Splitter, den er eben von dem Pferdepflock gelöst hatte, in den Schaft der Axt und sagte erleichtert: »Es paßt!«
»Aha«, sagte ich nur, leicht verstimmt. »Und wozu das Ganze?«
»Ist das nicht offensichtlich? Ich will Bonaparte ab-lenken. Wenn der General zum Tempel kommt und von Laforce hört, was sich ereignet hat, wird er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um uns aufzuspü-
ren. Vielleicht sogar mit Erfolg. Deshalb werde ich zu ihm reiten und ihm dieses nicht ganz so Wahre Kreuz übergeben.«
Kopfschüttelnd sagte ich: »Er wird den Splitter untersuchen lassen und bald herausfinden, daß Sie ihn betrogen haben.«
»Möglich. Aber dann werdet ihr, Ourida und du, mit dem Kreuz Jesu längst in Sicherheit sein.«
Ich spürte einen Kloß in meinem Hals. »Und was wird aus Ihnen, Onkel?«
Er lächelte. »Das wird sich finden. Ich kann immer noch vorgeben, selbst betrogen worden zu sein. Von euch beiden. Ihr habt versucht, euch mit dem Kreuz abzusetzen, ich aber konnte es euch entreißen und bin mit meiner Beute auf dem schnellsten Weg zu Bonaparte geritten. Das ist die Geschichte, die ich ihm erzählen werde.«
Angst um Onkel Jean bemächtigte sich meiner. Ich wollte etwas sagen, ihn umstimmen, aber meine Gedanken waren wirr, und kein vernünftiger Satz kam mir über die Lippen. Ich atmete heftig und schien doch keine Luft zu kriegen. Hilflos starrte ich auf das Tuch mit dem heiligen Holz in meinen Händen, und plötzlich überkam mich ein tiefes Gefühl der Ruhe und Zuversicht. Ich konnte wieder durchatmen. Mir war, als sage mir eine sanfte, volltönende Stimme in meinem Kopf, daß der Plan meines Onkels genau richtig sei. Und dann dachte ich: Hat das Kreuz Jesu nicht auch vor Jahrhunderten Roland den rechten Weg gewiesen? Ourida stieg ab und trat neben mich.
»Er tut es aus Liebe zu dir, Bastien. Das ist es, was ein Vater für seinen Sohn tut. Du mußt es annehmen, denn es ist der rechte Weg!«
Ich reichte ihr das Wahre Kreuz und umarmte meinen Onkel, drückte ihn fest an mich. Tränen rannen mir übers Gesicht, auch dann noch, als er schon auf dem Pferd saß, den Kasten mit der Streitaxt hinter sich, und hinter der Kuppe einer Sanddüne verschwand. Unsere Wege, die seit meiner Kindheit gemeinsame gewesen waren, hatten sich getrennt. Wohl für immer.
Vor mir lag ein neuer Weg, der in ein neues Leben führte, ein Leben mit Ourida. Der Weg würde steinig sein, denn die Hüter des Kreuzes waren, wie die Geschichte zeigte, stets von Verfolgung und Gefahr bedroht. Aber zumindest gab es die Ritter vom Verlorenen Kreuz nicht mehr, und die Bedrohung durch Bonaparte würden wir ebenfalls meistern. Ich war voller Zuversicht, denn mit mir würde die beste Frau den Weg beschreiten, die ich mir wünschen konnte. Als ein Fremder war ich in dieses Land gekommen und als einer, der keine klare Vorstellung von seinem Lebensziel hatte. Nun aber, als ich an Ouridas Seite nach Süden ritt, wußte ich, daß ich zu ihr gehörte. Wir würden ein Heim für uns finden und eine neue Stätte für das Wahre Kreuz.
Epilog
eder habe ich meinen Onkel jemals wiedergese-W hen, noch habe ich etwas von ihm gehört. Ich kann nur rätseln, ob ein wütender General Bonaparte ihn gerichtet hat oder ob es ihm gelungen ist, sich abzusetzen und vielleicht unter falschem Namen unterzu-tauchen. Aber ich denke jeden Tag an ihn, und das stets mit der Liebe eines Sohnes zu seinem Vater.
Auch weiß ich nicht, was aus Maruf ibn Saad und seiner Tochter Aflah geworden ist. Ich bin nie wieder nach Kairo und auch nicht nach Alexandria gekommen, wo ich mich nach ihnen hätte erkundigen können.
Sind sie Bonapartes Vergeltung entgangen? Ich wünsche es ihnen und hoffe, daß aus Aflah doch noch eine glückliche Frau geworden ist. Ourida und ich stießen am Eselsfelsen auf den jungen Beduinen mit den Pack-pferden, und spät in der Nacht trafen auch Murad und die sieben anderen Krieger dort ein, allesamt erschöpft, aber unverletzt. Sie hatten die französischen Soldaten auf eine Weise an der Nase herumgeführt, wie es nur die Söhne der Wüste vermögen. Gemeinsam zogen wir zu der geheimen Wasserstelle, wo der traurige Rest des einst stolzen Stammes der Abnaa Al Salieb wartete.
Heute, da ich dies niederschreibe, zehn Jahre nach den geschilderten Ereignissen, leben wir alle friedlich in einer kleinen Oase, die wir mit unserer Hände Arbeit bewirtschaften und deren Früchte uns reichlich ernähren. Ich mache wohlweislich keine genaueren Ortsan-gaben, damit nicht jene, die dem Wahren Kreuz nach-jagen, den Frieden stören. Und ich bete zu Gott, daß die Zeit der Prüfungen für die Abnaa Al Salieb vorbei sein möge.
Bonaparte hat es auch ohne das Wahre Kreuz geschafft, ein mächtiger Mann zu werden. Kaiser der Franzosen nennt er sich jetzt, und halb Europa liegt ihm zu Füßen, die andere Hälfte aber haßt ihn ab-grundtief. Dieser Haß, so denke ich, wird ihm eines Tages zum Verhängnis werden. Aus Ägypten mußte er sich schon vor Jahren zurückziehen, und nie hat er die Vormachtstellung der Engländer im Nahen Osten ge-fährden können. Ob er mehr Erfolg gehabt hätte, hätte er das Wahre Kreuz bei sich getragen?
Ich weiß es nicht, und jetzt, nach all der Zeit, erscheint es mir auch nicht mehr wichtig.
Wichtig sind der Friede in unserer Oase und das Lä-
cheln auf dem Gesicht meiner Gemahlin Ourida, wenn wir abends vor unserem Haus stehen und unseren Töchtern beim Spielen zusehen: Ourida, der älteren, und ihrer Schwester Rabja.
ZEITTAFEL I
Die Zeit der Kreuzzüge
1095
Papst Urban II. ruft in Clermont zum 1. Kreuzzug auf.
1096-1099
1. Kreuzzug.
1099
Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer und Auf-findung des Wahren Kreuzes in der Grabeskirche.
Gründung des christlichen Königreiches Jerusalem.
Gründung des Johanniterordens.
1120
Gründung des Templerordens.
1147-1149
2. Kreuzzug, der für die Kreuzfahrer unrühmlich verläuft.
1171
Saladin, Sultan von Ägypten und Syrien, gelangt an die Macht.
1186
Guido von Lusignon wird König von Jerusalem.
1187
Das islamische Heer unter Saladin erringt bei Hattin einen vernichtenden Sieg über das christliche Heer unter Guido.
Verlust des Wahren Kreuzes an Saladin.
Saladin erobert Jerusalem.
1189-1192
3. Kreuzzug unter der Führung des englischen Königs Richard Löwenherz und des französischen Königs Philipp II.
1191
Die Belagerung Akkons durch die Kreuzfahrer führt zu Verhandlungen.
Saladin bietet im Gegenzug für die Verschonung der Stadt unter anderem die Rückgabe des Wahren Kreuzes an, hält aber nicht Wort.
1192
Nach erfolglosen Versuchen, Jerusalem zurückzuero-bern, wird ein Waffenstillstand auf fünf Jahre geschlossen. Richard Löwenherz verläßt das Heilige Land.
1193
Tod Saladins.
In den Folgejahren zerfällt sein Reich.
1201-1291
Vier weitere Kreuzzüge enden mit einem Rückzug der Christen aus dem Heiligen Land.
ZEITTAFEL II
Die Zeit Napoleons
1769
Napoleon wird auf Korsika geboren, das erst im Jahr zuvor französisch geworden ist.
1789
Ausbruch der Französischen Revolution.
1792-1797
1. Koalitionskrieg der europäischen Mächte gegen Frankreich.
1793
Napoleon zeichnet sich bei der Belagerung Toulons als Befehlshaber der Artillerie aus und wird zum Brigadegeneral befördert.
1795
Das aus fünf Direktoren bestehende Direktorium wird aufgrund der Verfassung von 1795 oberste Regierungs-behörde Frankreichs.
Napoleon ist maßgeblich an der Niederschlagung des Royalistenaufstands in Paris beteiligt und wird kommandierender General der Heimatarmee.
1796
Napoleon erhält den Oberbefehl über die Italienarmee und heiratet Joséphine de Beauharnais.
1797
Ende des Italienfeldzugs und Friedensvertrag von Campo Formio.
Napoleon kehrt nach Paris zurück.
1798
Aufnahme Napoleons in die Akademie der Wissenschaften. Im März billigt das Direktorium Napoleons Ägyptenfeldzug.
Im Mai sticht Napoleon mit 38000 Soldaten sowie 167
Wissenschaftlern und Künstlern in See. Im Juni erobert Napoleon Malta.
Im Juli erobert Napoleon Alexandria, schlägt das Mameluckenheer bei den Pyramiden und zieht in Kairo ein. Im August vernichtet der englische Admiral Nelson die französische Flotte bei Abukir. Napoleon beschließt die Gründung des »Instituts von Ägypten«.
Im Oktober schlägt Napoleon den Aufstand in Kairo nieder.
1799-1801/02
2. Koalitionskrieg.
1799
Im März erobert Napoleon Jaffa und belagert Akkon.
Im Mai zieht Napoleon sich nach erfolgloser Belagerung Akkons – seine erste Niederlage – zurück.
Im Juli besiegt Napoleon ein türkisches Heer, das unter englischem Flottenschutz bei Abukir an Land gegangen ist. Im August schifft Napoleon sich heimlich nach Frankreich ein und läßt seine Armee in Ägypten zu-rück. Im November stürzt Napoleon das Direktorium und errichtet das Konsulat; er selbst wird Erster Konsul mit der Gewalt über Heer, Flotte, Außenpolitik und Finanzen.
1800
General Kléber und die französische Ägyptenarmee schlagen im März ein türkisches Heer bei Heliopolis.
Im Juni wird Kléber in Kairo von einem Muslim ermordet.
1801
Der englische General Abercromby landet im März mit einem Heer bei Abukir und beendet in den Monaten darauf die französische Herrschaft in Ägypten.
1802
Napoleon wird durch eine Volksabstimmung Konsul auf Lebenszeit.
1804
Napoleon krönt sich selbst zum Kaiser der Franzosen.
1805
3. Koalitionskrieg.
Im Oktober besiegt Admiral Nelson die französisch-spanische Flotte bei Trafalgar.
Im Dezember besiegt Napoleon die Österreicher und Russen bei Austerlitz.
1812
Napoleons Rußlandfeldzug endet mit dem Verlust seiner Grande Armée.
1813-1814
In den Befreiungskriegen wenden sich die Völker Europas gegen Napoleon.
1814
Die Alliierten ziehen in Paris ein.
Napoleon dankt ab und geht auf die Insel Elba ins Exil.
1815
Napoleon übernimmt erneut die Macht in Frankreich, wird aber im Juni bei Waterloo von den Engländern und Preußen geschlagen.
Napoleon dankt erneut ab und wird auf die Atlantikin-sel St.
Helena verbannt.
1821
Napoleon stirbt auf St. Helena.
NACHWORT DES AUTORS
Napoleon in Ägypten
as sucht ein ehrgeiziger General im WüstenW sand?
So betitelte vor einigen Jahren ein Geschichtsmaga-zin seine Story über Napoleon Bonapartes Ägyptenfeldzug und stellte damit eine sehr berechtigte Frage, die die Historiker seit über zweihundert Jahren beschäftigt.
Die Antwort ist, wie bei fast allen großen historischen Fragen, vielschichtig. Die Motive, die zu Bonapartes großem Orientfeldzug geführt haben, können genannt werden, aber wie sie von Bonaparte selbst und seinen Zeitgenossen gewichtet wurden, ist weitaus schwieriger zu beurteilen. Ein abschließendes Wort darüber könnten nur die damals Handelnden selbst sprechen. Natürlich ging es, außenpolitisch und militärisch betrachtet, darum, den Erzfeind England empfindlich zu treffen.
Im sogenannten 1. Koalitionskrieg hatte sich das revolutionäre Frankreich gegen die Koalition der europä-
ischen Monarchien zu deren Entsetzen behauptet und unerwartete militärische Erfolge erzielt. Erfolge, an denen der junge General Bonaparte einen entscheidenden Anteil hatte. 1797 waren die Konflikte durch den Frieden von Campo Formio beendet worden.
Nur die Engländer, die ihre weltweiten Handels-interessen durch die revolutionäre Erschütterung des bisherigen Machtgefüges bedroht sahen, boten Frankreich weiterhin die Stirn und saßen, beschützt durch ihre scheinbar unbesiegbare Flotte, trotzig auf ihrer Insel. Der französische Plan, einen irischen Aufstand gegen England zu unterstützen, war gescheitert, und auch eine direkte Invasion Englands erwies sich als undurchführbar, solange die englische Flotte ungeschlagen war.
So sah es auch Napoleon Bonaparte, der im Dezember 1797 zum Oberbefehlshaber über die zur Durchführung der Invasion vorgesehene Englandarmee ernannt wurde. Er unterbreitete dem Direktorium den Vorschlag, Ägypten zu besetzen, Englands Landweg nach Indien. Auf diese Weise würde man den Feind von seinen indischen Kolonien abschneiden und ihm einen schweren wirtschaftlichen Schaden zufügen. Die eigent-liche Idee zu diesem Plan geht allerdings auf den französischen Außenminister Talleyrand zurück, und der wiederum ließ sich wohl von dem Philosophen Gott-fried Wilhelm Leibniz inspirieren, der schon 1671 dem französischen König Ludwig XIV. eine Eroberung Ägyptens vorgeschlagen hatte.
Für das Direktorium selbst, das den Plan absegnete, gab es dafür neben dem Ziel, die Ideale der Französischen Revolution auch auf den afrikanischen Kontinent zu tragen, einen wohl gewichtigeren innenpolitischen Grund. Als man Bonaparte das Kommando über die Italienarmee übertrug, war die militärische Lage verzweifelt gewesen. Durch seinen Siegeszug war zwar Frankreich militärisch gerettet worden, aber auch der siegreiche General selbst hatte daraus seinen Nutzen gezogen. Seine Popularität wuchs in ungeahnte Höhen, und er selbst sah sich zu Größerem berufen, erkannte in sich nicht nur militärische, sondern auch diplomatische und politische Fähigkeiten. Dem Direktorium war in ihm plötzlich ein ernsthafter Konkurrent um die Macht erwachsen, und diesen Mann im fernen Ägypten zu wissen hatte für die Direktoren etwas Beruhigendes.
Übrigens hatte Napoleon wenige Jahre zuvor, als seine militärische Karriere in Frankreich stagnierte, mit dem Gedanken gespielt, seine Dienste dem türkischen Sultan anzubieten. Welchen Gang hätte die Weltge-schichte dann wohl genommen? Ein hochinteressantes Gedankenspiel für alle, die sich gern mit alternativen Geschichtsverläufen beschäftigen. Jetzt aber sah der in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Beutefranzose Bonaparte (seine Heimatinsel Korsika wurde nur ein Jahr vor seiner Geburt von Genua an Frankreich verkauft) seine Zukunft in Frankreich. Als gelernter Militär kannte er nur den Weg des militärischen Erfolgs, um seinen Einfluß zu vergrößern. Als Oberbefehlshaber einer Englandarmee, die wegen mangelnder Seeunter-stützung niemals zum Einsatz kommen würde, würde er wenig Ruhm gewinnen. In Ägypten aber warteten Schlachten und Siege gegen ein mit veralteten Mitteln kämpfendes Mameluckenheer. Nach einem glanzvollen Sieg auf dem orientalischen Kriegsschauplatz wollte er
– das war von vornherein sein Plan – nach Frankreich zurückkehren und den Kampf in Europa fortsetzen, den gegen England auch, aber nicht weniger den um die Macht im eigenen Land.
Jahre später übrigens, als er bereits Kaiser der Franzosen war, sah er sich vor eine ähnliche Wahl gestellt.
1805 hatte er in Boulogne ein 150000 Mann starkes Heer zur Invasion Englands aufgestellt. Als aber die französisch-spanische Flotte, die Englands Flotte ablen-ken sollte, bei Trafalgar von Lord Nelson geschlagen wurde, erschien die Invasion erneut als ein sehr riskan-tes Unternehmen. Da kam es Napoleon nur gelegen, daß England die Länder Rußland, Österreich, Schwe-den und Neapel zur Bildung einer dritten Koalition gegen Frankreich gebracht hatte. Er ließ das Lager bei Boulogne abbrechen und führte seine Armee in Eilmärschen erst nach Süddeutschland, wo er den österreichischen General Mack in Ulm zur Kapitulation zwang, und dann nach Mähren, wo er in der Dreikaiser-schlacht von Austerlitz einen grandiosen Sieg – wohl den größten seiner Laufbahn – über das vereinigte österreichisch-russische Heer errang. Wieder einmal hatte sich der indirekte Weg im Kampf gegen England –
in diesem Fall der Kampf gegen seine Verbündeten – als erfolgreich erwiesen.
Erfolgreich verlief, zunächst, auch Bonapartes ägyptischer Feldzug. Auf dem Seeweg nach Ägypten wurde
– quasi im Vorübersegeln – die Insel Malta erobert und der Herrschaft des machtlosen Johanniterordens entrissen. Als Bonaparte dann endlich in Alexandria an Land ging, kam er offiziell, um die Bevölkerung von der Schreckensherrschaft der Mamelucken zu befreien.
Auch er wußte schon, daß ein Krieg gegen den Terror sich propagandistisch besser vermarkten läßt als ein Eroberungsfeldzug. Zugutehalten muß man ihm, daß er tatsächlich einiges unternahm, um die Lebensumstände der Bevölkerung zu verbessern. Schon auf Malta ließ er Schulen gründen und verfügte eine Gleichstellung der Juden mit den Christen, ordnete sogar den Bau einer Synagoge an. Nachdem er Alexandria und nach der siegreichen Schlacht bei den Pyramiden auch Kairo eingenommen hatte, behandelte er auch hier die Bevölkerung mit Respekt; ebenso respektierte er ihren Glauben. Im Gegensatz zu den Kreuzfahrern im Mittelalter machte er den Menschen ihren islamischen Glauben nicht streitig und verfügte in einer Proklamation an das ägyptische Volk, daß Gottesdienste und Gebete wie gewohnt stattfinden sollten. Der Sieg über das Mameluckenheer bei den Pyramiden und der Einzug in Kairo bilden aber auch schon den Höhepunkt von Bonapartes Orientabenteuer. Kurz darauf überraschte die englische Flotte unter Nelson die bei Abukir ankernde französische und versenkte elf der dreizehn französischen Li-nienschiffe. Damit war das Expeditionsheer von Frankreich abgeschnitten, sein Kampf auf lange Sicht einer auf verlorenem Posten. Ungeachtet einiger weiterer militärischer Siege erkannte das auch Bonaparte, späte-stens, als er sich im Mai 1799 nach zweimonatiger Belagerung von Akkon zurückziehen mußte. Es war die erste militärische Niederlage seiner Laufbahn. Die Türken hatten nicht, wie erhofft, gemeinsam mit den Franzosen Front gegen die englischen Kolonien gemacht, sondern Frankreich den Krieg erklärt. Bei Akkon been-deten sie mit englischer Unterstützung Bonapartes Marsch nach Syrien.
Im Juli erfocht Bonaparte einen Sieg über ein mit englischer Flottenunterstützung bei Abukir gelandetes türkisches Heer, und kurz darauf schiffte er sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Frankreich ein. Dort konnte er sich dank des letzten Sieges als Rächer der ein Jahr zuvor bei Abukir versenkten Flotte feiern lassen. Noch galt der Orientfeldzug als Erfolg, und seine Popularität ebnete Bonaparte den Weg zum Rang des Ersten Konsuls von Frankreich. Das zurückgelassene, vom Nachschub abgeschnittene Expeditionsheer hielt sich noch zwei Jahre lang, mußte aber nach der Lan-dung eines englischen Heeres im August 1801 kapitu-lieren. War der Orientfeldzug also ein Erfolg oder ein Fehlschlag? Für Frankeich war er außenpolitisch und militärisch ein Fehlschlag, da er trotz vieler gewonnener Schlachten den englischen Überseehandel zu keinem Zeitpunkt gefährdet hatte. Für das Direktorium war er aus innenpolitischer Sicht ein Fehlschlag, da es zwar gelungen war, Bonaparte zeitweilig abzuschieben, seine Rückkehr als siegreicher Eroberer Ägyptens aber letztlich zum Sturz des Direktoriums führte. Womit fest-steht, daß das Unternehmen für Bonaparte selbst aus karrierestrategischer Sicht ein voller Erfolg gewesen ist.
Seinem Aufstieg zum Ersten Konsul folgte die Krönung zum Kaiser der Franzosen; beides hätte – vielleicht –
ohne den Ägyptenfeldzug nicht stattgefunden.
Den größten Erfolg aber konnte die Wissenschaft vermelden. Napoleon gab der Expedition von vornherein einen wissenschaftlichen und kulturorientierten Beigeschmack, indem er 167 (nach anderen Angaben 175) Wissenschaftler und Künstler der verschiedensten Disziplinen mitnahm. Verstärkt wurde der wissenschaftliche Aspekt der Unternehmung durch die Gründung des Instituts von Ägypten, das die Erforschung des Landes und den Fortschritt vorantreiben sollte.
Unter den zweiten Punkt fielen so praktische Dinge wie die Verbesserung der Ernährung durch modernere Öfen, die Errichtung von Mühlen und die Reinigung des Nilwassers. Auch der 1869 eröffnete Suezkanal fußt auf Vermessungen, die während des Ägyptenfeldzugs vorgenommen wurden. Bonapartes Abenteuer im Wüstensand hat keine bleibende Kolonie begründet, wohl aber eine allgemeine Ägyptenbegeisterung und die moderne Ägyptologie. So fanden die Franzosen bei Rosette eine Granitplatte, die, wie viele der wissenschaftlichen Funde, ein Beutestück der Engländer wurde. Der sogenannte Stein von Rosette wurde im Britischen Mu-seum ausgestellt, aber in Frankreich verbliebene Kopien seiner Inschrift ermöglichten es zwanzig Jahre später dem Gelehrten Jean François Champollion, die Hierog-lyphen zu entziffern.
Und der Schauplatz all dieser Ereignisse, Ägypten?
Die jahrhundertelange Mameluckenherrschaft war gebrochen und konnte trotz mehrfacher Versuche in den Jahren nach dem französischen Rückzug nicht wieder-errichtet werden. In dieser Zeit kämpften verschiedene Gruppen um die Herrschaft im Land. Als Sieger ging aus diesen Kämpfen letztlich Muhammad Ali Pascha hervor, der Ägypten als türkischer Statthalter verwaltete, es aber, ähnlich den Mamelucken, fast im Alleingang regierte. Er versuchte sich an einer Industrialisierung des Landes nach europäischem Muster und stellte eine schlagkräftige Armee nach französischem Vorbild auf, mit der er sich schließlich sogar gegen den türkischen Sultan wandte. Die europäischen Großmächte dämpften seinen Eroberungsdrang und zwangen Muhammad Ali, Ägypten der europäischen Wirtschaft zu öffnen. Im Gegenzug mußten die Osmanen ihn als erblichen Vizekönig von Ägypten anerkennen, womit die ägyptische Königs-dynastie begründet wurde.