13. KAPITEL

Der tödliche Wind

as Zeltlager am Wüstentempel bot nur wenige D der Annehmlichkeiten, die wir Kinder der Zivi-lisation so sehr schätzen, aber am späten Nachmittag des folgenden Tages wünschte ich mir sehnlichst, wieder dort zu sein – oder bereits in Kairo, das noch etwa eine Tagesreise entfernt war.

Einen Brief meines Onkels an General Bonaparte und eine Liste dringend benötigter Dinge im Gepäck, war ich bei Sonnenaufgang in Richtung Kairo aufgebrochen, begleitet von jenen zwölf Husaren, die schon auf dem Hinweg meine Eskorte gebildet hatten. Wir waren ein gutes Stück vorangekommen und hatten während der heißen Mittagsstunden, ganz nach dem Vorbild der Einheimischen, eine Rast eingelegt. Als wir unseren Weg am Nachmittag fortsetzten, warteten wir vergebens auf ein Absinken der Temperaturen. Im Gegenteil, ein heißer, von Süden kommender Wind schien immer mehr Hitze über das Land zu bringen.

Stärker und stärker werdend, nahm uns der Wind fast die Luft zum Atmen.

Der kleine, wendige Leutnant, der meine Eskorte befehligte, ein gewisser Ernest Dumont aus dem Elsässi-schen, hielt seinen Braunen an, richtete sich im Sattel auf, schirmte seine Au gen mit der Rechten ab und blickte sich um. »Verfluchter Wüstendreck, weit und breit nichts in Sicht, was uns Schutz bieten könnte!«

Ich lenkte meinen Schimmel an seine Seite. »Glauben Sie, es wird so schlimm?«

»Schlimmer, Bürger Topart. Ich wette einen Mo-natssold darauf, daß wir hier das Vorspiel zu einem ausgewachsenen Sandsturm erleben. Chamsin nennen die Leute ihn hier, und sie sprechen den Namen nur im Flüsterton aus. Wir täten gut daran, uns möglichst rasch einen Unterschlupf zu suchen. Geben wir unseren Pferden die Sporen, solange wir es noch können!«

Er hatte so laut gesprochen, daß auch die übrigen Männer ihn verstanden hatten. Allen schien die Gefahr, in der wir schwebten, bewußt; ich las es auf ihren versteinerten Gesichtern.

Wir ritten weiter, so schnell der Geröllboden es erlaubte. Obwohl es mir kaum möglich schien, stieg die Hitze noch an, und im Süden begann der Himmel sich zu verfinstern. Angst erfaßte mich, und ich begriff, warum die Einheimischen einen solchen Respekt vor dem Chamsin hegten, den sie auch den tödlichen Wind nannten.

Dumont, der sich unentwegt umgesehen hatte, deutete nach links. »Da ist eine Senke, nicht der beste Unterschlupf, aber einen besseren werden wir in der Eile nicht finden. Also dort hinüber, Kameraden!«

Noch einmal spornten wir die Tiere an. Am Rande der Senke saßen wir ab, weil es zu gefährlich war, über das lose Geröll nach unten zu reiten. Statt dessen führten wir die Pferde am Zügel. Unwillkürlich hielten wir die Köpfe gesenkt, um uns gegen den glühendheißen Wüstenwind zu schützen. Er trieb mehr und mehr Sandkörner vor sich her, die schmerzhaft in unsere Gesichter schnitten.

War ich der erste, der die fremden Gestalten bemerkte? Sie kamen aus Südosten und schienen mit dem Wind zu reiten. Waren es französische Soldaten oder Beduinen? Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.

Weite Mäntel flatterten im Wind, schwarz auf der rechten Seite und weiß auf der linken.

»Alarm!« brüllte ich. »Wir werden angegriffen!«

Dabei faßte ich Leutnant Dumont am Arm und deutete in die Richtung, aus der nicht nur der tödliche Wind kam, sondern auch die Ritter mit dem doppelten Kreuz.

Er begriff rasch, wandte sich an seine Leute und rief ihnen ein paar knappe Befehle zu.

Zwei Husaren führten die Pferde tiefer in die Senke hinein, die übrigen Männer gingen neben Dumont und mir in Deckung und brachten ihre Karabiner in Anschlag.

Dumont starrte den Rittern entgegen und knurrte:

»Sie kommen mit diesem verdammten Wind, als hätten sie ihn eigens zu diesem Zweck herbeigezaubert.

Möchte wissen, wie lange sie uns schon folgen.«

»Vielleicht sind sie gar nicht hinter uns her, sondern reiten nur zufällig in unsere Richtung«, sagte ich vage.

Der Husarenleutnant schüttelte entschieden den Kopf. »Einen Jahressold darauf, daß Sie sich irren!«

Er sollte recht behalten. Die Ritter wurden immer schneller, je näher sie der Senke kamen, und legten ihre wimpelgeschmückten Lanzen zum Angriff an. Die Visiere waren geschlossen, und statt ihrer Augen sah man nur schmale Schlitze, als seien sie keine Menschen, sondern gesichtslose Geister.

Ich erinnerte mich an jene Wüstennacht in ferner Vergangenheit. Sollte ich nun ein zweites Mal durch ihre Klingen sterben? Hatte Ourida gemeint, daß wir uns im Jenseits wiedersehen würden?

»Feuer!« rief Dumont, als die Ritter uns fast erreicht hatten, aber nur die wenigsten Karabiner verschossen ihre todbringenden Kugeln. Der feine Sand, den der Sturm aufwirbelte, war in die Waffen eingedrungen und hatte sie unbrauchbar gemacht. Das zeigte sich auch, als die Husaren nach ihren Pistolen griffen. Wieder lösten sich nur vereinzelte Schüsse, und kein einziger Ritter stürzte vom Pferd. Der Chamsin schien sie mit einer schützenden Mauer zu umgeben.

Jetzt waren sie heran! Ihre Lanzen und Schwerter kreuzten sich unter lautem Klirren mit den gekrümmten Säbelklingen der Husaren. Mehrere von Dumonts Männern wurden von der Wucht des Angriffs umgerissen, aber ich sah auch zwei oder drei Ritter auf dem abschüssigen Boden der Senke straucheln.

Dicht hinter mir knickte ein Pferd ein und warf seinen Reiter im hohen Bogen aus dem Sattel. Ich wandte mich um und griff nach der Lanze, die er verloren hatte, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Wurde der Zeichner Bastien Topart in diesem Augenblick wieder zu Ritter Roland? Der Wimpel unter der Lanzenspitze flatterte aufgeregt im Wüstenwind, und ich erblickte auf der einen Seite das rote und auf der anderen das schwarze Kreuz.

Der gestürzte Ritter erhob sich schwankend. Seinen Schild mit dem doppelten Kreuz hatte er beim Sturz verloren, und er suchte gar nicht erst danach. Vielmehr zog er sein gewaltiges Schwert und kam auf mich zu.

Doch er schien noch unsicher auf den Beinen, und diese Unsicherheit galt es auszunutzen. Eine Stimme tief in mir ermahnte mich, daß es falsch sei, anderen nach dem Leben zu trachten. Als Onkel Jean mir Absolution erteilte, hatte ich geschworen, nie wieder einen Menschen zu töten. Aber mein eigenes Leben war in Gefahr, und zudem war ich in diesem Augenblick ein anderer.

Der, der ich einmal gewesen war, hatte die Oberhand gewonnen. Der Ritter in mir war stärker als der Klosterschüler.

Mit einem wütenden Schrei stürmte ich los und rammte meinem Gegenüber die Lanzenspitze in die Magengegend, mit solcher Macht, daß sein Kettenhemd ihn nicht zu schützen vermochte. Die Lanze brach dicht unterhalb der Spitze ab, und ich hielt nur noch einen Holzschaft mit zersplittertem Ende in Händen.

Der Ritter ging in die Knie und starrte auf die Lanzenspitze in seinem Körper. Der Wimpel, der noch daran hing, färbte sich rot. Als ich das sah, fühlte ich mich seltsam erleichtert. Vielleicht, weil dies der Beweis da-für war, daß ich es nicht mit Geistern zu tun hatte, sondern mit Sterblichen, mit Menschen.

Der Mann ließ das Schwert fallen und umfaßte mit beiden Händen das blutige Holzstück, das aus seinem Leib ragte wie ein abgebrochener Riesenstachel. Er wollte es herausziehen, erwischte aber nur den Wimpel, der sogleich vom Sturmwind davongeweht wurde.

Dann fiel er vornüber, zuckte noch zwei-, dreimal heftig und lag endlich still.

Ich zweifelte nicht daran, daß er tot war. Wieder hatte ich einen Menschen getötet, aber meine Erschütterung darüber währte nur wenige Sekunden. Würde die Reue später kommen, oder war ich wirklich ein anderer geworden? Eine Frage, die in diesem Moment nicht zu beantworten war und die ich deshalb verdrängte.

Als ich das Schwert des Getöteten aufgehoben hatte und mich umwandte, bot sich mir ein schrecklicher Anblick. Die meisten Husaren waren gefallen. Ihre zusammengekrümmten Leichname in den farbenfrohen Uniformen lagen wie Fremdkörper in der eintönigen Wüstenei. Sie waren dazu ausgebildet worden, Europas Wälder und Hügel zu durchstreifen, den Feind auszu-kundschaften, seinen Nachschub zu behindern und Nachzügler oder Spähtrupps in Scharmützel zu verwik-keln. Die Ritter und der Chamsin waren Feinde, denen sie nichts entgegenzusetzen hatten.

Den Rittern dagegen schien der Sandsturm nicht viel anhaben zu können. Vielleicht, schoß es mir durch den Kopf, hatten sie Jahrhunderte Zeit, sich an ihn zu ge-wöhnen. Nicht weit von mir erblickte ich Leutnant Dumont. Er verteidigte sich mit dem Säbel gegen einen Ritter, der ihn mit Schwert und Schild angriff. Dumont, der aus mehreren Wunden blutete, wich allmählich zurück. Lange würde er sich des Feindes nicht mehr erwehren können. Ich wollte ihm zu Hilfe eilen, doch ein Ritter auf einem rabenschwarzen Pferd war schneller als ich und trennte mit einem kräftigen Schwerthieb den Kopf des Leutnants vom Rumpf.

Mir stockte der Atem, als ich sah, wie Dumonts Haupt den abschüssigen Boden der Senke hinabrollte.

Der Leib, obwohl ohne Kopf, hielt noch den Säbel in der Hand und schien die Waffe zu seinem letzten Streich heben zu wollen, brach dann aber kraftlos zusammen.

Der Ritter auf dem schwarzen Pferd hatte mich erspäht, hielt auf mich zu und schwang sein blutiges Schwert. Ein zweiter Ritter, ebenfalls zu Pferd, sprengte von links auf mich zu, die Lanze zum Stoß angelegt.

Gegen einen hätte ich mich vielleicht verteidigen können, aber nicht gegen beide zugleich. Ich machte auf dem Absatz kehrt und lief in die Senke hinein.

Auf ebenem, festem Boden hätten die Reiter mich innerhalb kürzester Zeit eingeholt. Auf dem steinigen Untergrund aber mußten sie höllisch achtgeben, wollten sie nicht ihre Pferde verlieren. Deshalb konnte ich den Abstand zu ihnen eine ganze Weile halten, während es um mich herum immer schwärzer wurde. Ich bekam kaum noch Luft. Meine Augen, die Nase und der Mund waren mit Sand verklebt. Ich spuckte, hustete und keuchte, aber ich lief weiter, beseelt von der vielleicht wahnwitzigen Hoffnung, die Dunkelheit des Sturms könnte mich vor meinen Verfolgern verbergen.

Dann aber stolperte ich über einen großen Stein und fiel zu Boden. Als ich wieder aufstand, war der Ritter mit der Lanze schon heran und stieß zu. Der Lanzenspitze konnte ich im letzten Moment ausweichen, aber der Schaft streifte meinen Kopf, und ein heftiger, übel-keiterregender Schmerz durchfuhr mich. Ich stand noch aufrecht, doch meine Glieder schienen wie gelähmt, und das erbeutete Schwert entglitt meiner kraftlosen Hand.

Der zweite Verfolger preschte heran und hob seine Waffe, an der noch Dumonts Blut klebte, zum tödlichen Hieb. Er trug keinen Helm mehr. Entweder hatte er ihn verloren, oder er hatte ihn abgestreift, um besser sehen zu können. Ich blickte in ein hageres, narbiges, mitleidloses Antlitz – das Gesicht meines Henkers.

Oder doch nicht? Plötzlich strauchelte er und fiel neben mir aus dem Sattel. In seinem linken Auge steckte ein gefiederter Pfeil.

Ich sah mich nach dem Lanzenreiter um, der gerade sein Pferd wendete. Aber noch bevor er mich erreichen konnte, waren andere Reiter bei ihm, ebenfalls in we-hende Gewänder gekleidet und, wie es schien, mit Schwertern und Lanzen bewaffnet. Ein heftiger Kampf entspann sich, dessen Ende ich nicht mitbekam. Der stechende Schmerz kehrte zurück, und mir wurde schwarz vor Augen. Ich sank zu Boden. Als ich wieder zu mir kam, wütete noch immer der Chamsin. Ich kauerte am Boden und sah mehrere Reiter in weiten Mänteln auf mich zuhalten. Ich wollte mich erheben, doch meine Glieder versagten mir den Dienst. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Reiter zu erwarten.