19. KAPITEL
Das Wahre Kreuz
ur sehr langsam fand ich ins Hier und Jetzt zu-N rück, begriff, daß ich mich nicht bei den Hörnern von Hattin befand, belagert von vielen tausend Feinden, sondern im friedlichen Tal der Abnaa Al Salieb. Neben mir saß, wie auch ich mit dem Rücken gegen den Stamm einer Dattelpalme gelehnt, Jussuf und blickte mich abwartend an.
Ich sagte erst einmal nichts, sondern beugte mich über das Rinnsal zu unseren Füßen, weil mich ein quä-
lender Durst plagte. Als sei es nicht mein Durst, sondern der von Roland de Giraud. Die Schlacht stand mir noch so deutlich vor Augen, als hätte ich nicht nur in die Vergangenheit geschaut; es war, als hätte ich die Strapazen am eigenen Leib gespürt.
Als ich meinen Durst gelöscht hatte, wandte ich mich wieder Jussuf zu. Er hatte etwas Ähnliches mit mir gemacht wie Ourida. Wenn ich mir in ihrem Fall nicht sicher war, ob das absichtlich geschehen war, beim Scheik der Abnaa Al Salieb war ich mir dessen ganz sicher. Ich hatte ihn um Antworten gebeten, und er hatte dazu nicht seinen Mund benutzt, sondern …
Was eigentlich war es, das die Schranken von Zeit und Raum aufhob? Seine Augen, in die ich versunken war? Oder doch eher sein Geist?
Was es auch war, das Vorkommnis beunruhigte mich, obwohl ich so etwas schon in Ouridas Beisein erlebt hatte. Aber da war der Sprung in die Vergangenheit, wie ich es bei mir nannte, nur kurz gewesen und bei weitem nicht so intensiv.
»Du siehst mitgenommen aus, Musâfir. Ich fürchte, ich habe dir zuviel zugemutet.«
»Eher das Gegenteil«, murmelte ich. »Statt schlauer als vorher bin ich jetzt nur noch verwirrter.«
»Weil du erst einen Teil des Ganzen gesehen hast.
Wer einen einzigen Flötenton hört, kennt noch nicht das ganze Lied. Aber mit der Schlacht, die du erlebt hast, begann die Blutfeindschaft zwischen den Kreuzrittern und den Abnaa Al Salieb.«
»Die Schlacht von Hattin«, sagte ich leise und kramte in meiner Erinnerung nach allem, was ich darüber wuß-
te.
1187 war der zwei Jahre zuvor geschlossene und auf vier Jahre angelegte Waffenstillstand zwischen Kreuzfahrern und Muslimen von Sultan Saladin aufgekündigt worden. Die genauen Umstände waren nicht bekannt.
Vermutlich entbrannte der Konflikt erneut, weil Renaud de Châtillon, der den Muslimen ablehnend gegenüberstand, anno 1186 eine ihrer Karawanen überfallen hatte.
Vielleicht nur, um Beute zu machen. Möglicherweise hatte er aber auch durch den bewaffneten Geleitschutz der Karawane den Waffenstillstand verletzt gesehen.
Jedenfalls kam es im Juli des Jahres 1187 zur zweitä-
gigen Schlacht bei Hattin, an deren Ende die fast vollständige Vernichtung des christlichen Heeres stand. Was um so schwerer wog, als König Guido von Jerusalem den Heerbann ausgerufen und so gut wie jeden verfügbaren Mann zu den Waffen gerufen hatte. In den Städten und befestigten Plätzen waren kaum Verteidiger zu-rückgeblieben. Nach seinem Sieg bei Hattin mußte Saladin kaum noch mit nennenswertem Widerstand rechnen und konnte eine Stadt nach der anderen einnehmen.
Auch Jerusalem, wo der aus der Schlacht bei Hattin zu-rückgekehrte Balian d’Ibelin den Oberbefehl über die Verteidiger erhielt, mußte sich schließlich ergeben.
»Blutig und gnadenlos, wie fast alle Schlachten sind«, faßte Jussuf meine Gedanken in Worte. »An die zwanzigtausend Christen haben dabei ihr Leben verloren oder sind gefangengenommen und als Sklaven verkauft worden. Es war die Strafe dafür, daß sie in ein fremdes Land eingefallen waren.«
Die letzten Worte erregten meinen Widerspruch:
»Auch Sultan Saladin war nicht nur ein Freiheitsheld.
Die meisten seiner Kriege führte er gegen andere islamische Herrscher.«
»Um die Gläubigen im Kampf gegen die Christen zu einen.«
»Vielleicht. Vielleicht war der Kampf gegen die Christen aber auch nur ein guter Vorwand, um seinen Herrschaftsbereich auszudehnen. Jedenfalls hat sich sein geeintes Reich nicht lange gehalten. Wenige Jahre nach der Schlacht von Hattin starb Saladin, und sein Reich zerfiel.«
»Da hast du recht, Musâfir. Der Krieg verändert die Welt und die Menschen, aber selten bringt er etwas Gutes hervor. Vielleicht nur eins, mit etwas Glück, und auch das nur auf Zeit: den Frieden.«
Ich nickte und fragte: »Die Schlacht bei Hattin, was hat sie hervorgebracht? Warum ist sie so wichtig, daß du mich durch den Strom der Zeit zu ihr zurückgeführt hast?«
»In dieser Schlacht ging etwas verloren, das viele seitdem suchen. Und bei der Suche haben nicht wenige ihr Leben gelassen, gute und schlechte, aufrechte und verblendete. Auch meine Brüder und Schwestern in der Zuflucht sind dieser Suche zum Opfer gefallen.«
Ich dachte an die Szene aus der Vergangenheit zu-rück, die ich mit Ourida erlebt hatte. Als ich mich Gilbert und seinen Männern zum Kampf gestellt hatte, um Ourida die Flucht zu ermöglichen. Denn sie mußte es in Sicherheit bringen, das Kreuz!
»Ja, das Kreuz!« Erst als ich Jussufs Stimme hörte, wurde mir bewußt, daß auch ich es laut ausgesprochen hatte. » Salieb-Yassou – das Wahre Kreuz, wie ihr Christen es nennt. Das Kreuz, an dem euer Messias gestorben ist und das die christlichen Ritter wiederfanden, als sie auf dem ersten Kreuzzug Jerusalem eroberten. Um genau zu sein, haben sie nicht das ganze Kreuz gefunden, sondern einen Teil davon. Als König Guido sein Heer zusammenrief, bat er den Patriarchen von Jerusalem, ihm das Kreuz als Zeichen des göttlichen Beistands zur Verfügung zu stellen. Die Reliquie war sehr wertvoll.
Daß der christliche König sie der Gefahr aussetzte, in Feindeshand zu fallen, zeigt, wie ernst die Lage für die Christen war. Das Wahre Kreuz, so wurde den christlichen Soldaten gesagt, sollte sie unbesiegbar machen.«
»Wenn es diese Kraft besitzt, hat es bei Hattin versagt.«
»Das weiß man nicht sicher«, erwiderte Jussuf zu meiner Überraschung. »Als die Christen sich Saladin ergaben, hatten sie das Kreuz nicht mehr bei sich. Vielleicht hätte es ihnen durch eine unerwartete Wendung doch noch zum Sieg verholfen, hätten sie nur mehr auf seine Kraft vertraut.«
»Nicht mehr bei sich? Aber es heißt doch, das Kreuz sei Saladin in die Hände gefallen! Seitdem gilt es als verschollen.«
»Es ist Saladin in die Hände gefallen, und es ist ihm nicht in die Hände gefallen. Es ist seit diesem Tag verschollen, und es ist auch nicht verschollen.«
»Willst du mich Rätsel lösen lassen, Jussuf?«
»Für viele ist es ein Rätsel, und das ist gut so. Du aber sollst die Wahrheit erfahren. Fühlst du dich stark genug, noch einmal ein vergangenes Leben zu leben?«
In mir war wieder jene leise Furcht, die ich gespürt hatte, als mein Verstand in die Gegenwart zurückgekehrt war. Die Furcht, so sehr mit der Vergangenheit zu verschmelzen, daß ich nicht mehr den Weg zurück-fand. Daß mein Leib nicht mehr war als die Hülle eines verwirrten Geistes. Und doch wußte ich, daß ich den eingeschlagenen Weg weitergehen mußte. Es war mein Schicksal, und dem konnte ich mich nicht entziehen.
»Ich bin stark genug«, sagte ich und blickte in Jussufs Augen.