32. KAPITEL

Nacht über Kairo

urida blieb verschwunden, auch nachdem Fran-O vals Dragoner Bonapartes Palast und das gesamte umliegende Gelände akribisch durchsucht hatten.

Der Tote ohne Zunge war der einzige Hinweis auf das, was ihr widerfahren war.

Ob sie noch in Kairo war oder schon außerhalb der Stadt, konnte niemand sagen. Wir wußten nicht einmal, ob sie noch lebte.

Die Sorge um Ourida fraß mich fast auf, aber wo sollte ich Hilfe suchen? General Bonaparte und seine Truppen waren mit der Niederschlagung des Aufstands vollauf beschäftigt. Noch während des ganzen Tages, der Nacht und des darauffolgenden Tages dauerte der Kampf an. Erbittert wurde um jeden Straßenzug gerun-gen, und die Schreiber der Kriegstagebücher verzeichne-ten manche glorreiche Tat. Bonapartes Generaladjutant Sulkowski, ein Pole von großen Fähigkeiten und Mitglied des Instituts von Ägypten, hielt mit zweihundert Reitern eine vielfache Übermacht rebellischer Beduinen davon ab, in die Stadt einzudringen und den hiesigen Aufständischen zu Hilfe zu kommen. Sulkowski selbst starb dabei, von zehn Lanzenstichen getroffen.

Am Morgen des zweiten Tages nahm General Dommartin mit einer Batterie die Al-Azhar-Moschee unter Feuer, wo sich viele Anführer des Aufstands verschanzt hatten, und wies einen Ausfall von sieben- oder achttausend Rebellen durch den Einsatz von Kavallerie und einen Infanterieangriff zurück. Darauf hatte Bonaparte nur gewartet. Jetzt führte er vier Infanteriekolon-nen zum Gegenangriff und eroberte die Moschee. Das war der entscheidende Schlag. In den Abendstunden verebbten die letzten Kämpfe, und auch die vereinzelten Schüsse, die noch eine Zeitlang zu hören waren, erstar-ben.

Nur von zwei Dragonern begleitet, ritten Onkel Jean und ich durch verwüstete Straßen zu unserem Haus, im Flammenschein der Feuer, die in mehreren Stadtvierteln ausgebrochen waren. Ein Bote von General Lannes hatte uns mitgeteilt, daß wir unser Heim jetzt gefahrlos aufsuchen könnten. Es lag ebenso dunkel da wie auf der anderen Seite der Straße das Anwesen von Maruf ibn Saad.

Niemand, der uns empfangen hätte, kein Wachtposten und auch kein Diener. Hatten Malik, Zeineb und Nafi sich den Aufständischen angeschlossen? Das traute ich ihnen nicht zu. Eher hatten sie sich verkrochen aus Angst, als Diener von Franzosen dieselbe Behandlung zu erfahren wie ihre Herren.

Als wir näher kamen, mußte ich zugestehen, daß die Diener klug gehandelt hatten. Zerstörte Fenster und eine eingeschlagene Eingangstür waren Vorboten einer Verwüstung, deren ganzes Ausmaß sich erst im Innern zeigte. Möbel waren umgestürzt und mit Äxten zerlegt, die Wände mit Unrat beschmiert. Am schlimmsten hatten die Plünderer in der Bibliothek gewütet.

Schränke waren umgeworfen, etliche Bücher zerfled-dert, einige gar verbrannt. Es sah aus, als hätten sie versucht, die ganze Bibliothek in Brand zu setzen. Daß das Feuer sich nicht weiter ausgebreitet hatte, war reines Glück. Einige der Bücher hatten wir aus Frankreich mitgebracht, der größere Teil stammte aus Häusern derjenigen Europäer, die vor Bonapartes Truppen geflohen waren. Ich erinnerte mich genau daran, mit welcher Sorgfalt Onkel Jean die Bände zusammengetragen hatte. Während wir in der Tür zur Bibliothek standen und auf das Chaos blickten, merkte ich, wie mein Onkel am ganzen Leib zu zittern begann. Ich wußte, was er empfand. Der Anblick versetzte ihn zurück in die zerstörte Klosterbibliothek, nachdem der Mob St. Jacques gestürmt hatte. Damals wie an diesem Abend war es unfaßbar für ihn, wie Menschen sich an Büchern und Kunstschätzen vergreifen konnten, an dem, was, wie er einmal gesagt hatte, ihre Kultur und ihr Wesen aus-machte. Tröstend legte ich einen Arm um seine Schultern und brachte ihn mit sanftem Druck dazu, den Blick von dem elenden Bild abzuwenden.

In der Küche fanden wir zwischen all den zerschla-genen Weinflaschen eine, die heil geblieben war, dazu kaltes Fleisch und einen Brotlaib, was man unter den gegebenen Umständen als fürstliche Mahlzeit bezeichnen konnte.

Einen Teil davon brachten wir unserer Eskorte: den beiden Dragonern, die uns für die Nacht auch als Wachtposten zugeteilt waren.

Der große Tisch im Salon stand nahezu unbeschadet an seinem gewohnten Platz, und auch zwei Stühle waren heil geblieben. Schweigend nahmen wir unsere Mahlzeit ein, und ich dachte an jenen Abend, an dem wir die Generäle Bonaparte, Berthier und Lannes hier bewirtet hatten und ich so ärgerlich gewesen war über Bonapartes Verhalten Ourida gegenüber. Wie gern hät-te ich jetzt wieder alles so gehabt wie an jenem Abend, selbst Bonapartes Avancen eingeschlossen. Dann hätte ich doch wenigstens gewußt, daß Ourida am Leben war!

Unvermittelt sprang ich auf, so heftig, daß der Tisch erzitterte.

»Was ist mit dir?« fragte Onkel Jean. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist erblickt!«

»Ich habe an Ourida gedacht, Onkel. Wissen Sie noch, wie wir sie schon einmal entführt glaubten? Und dabei hatte sie sich in meinem Zimmer verkrochen!«

»Wie könnte ich das vergessen? Schließlich haben wir alles nach ihr abgesucht und sogar …« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, so laut, daß es ein klatschendes Geräusch gab. »Maria und Josef, jetzt verstehe ich! Du meinst, sie könnte sich hierher geflüchtet haben?«

»Ja! Vielleicht konnte sie entkommen.«

»Aber wenn sie hier wäre, müßte sie uns gehört haben.«

»Und wenn sie uns für Aufrührer hält oder für jene, die hinter ihr her sind?«

Nun erhob sich auch mein Onkel und nahm die Laterne hoch, die wir auf den Tisch gestellt hatten. »Laß uns als erstes in deinem Zimmer suchen!«

Dort mußten wir enttäuscht feststellen, daß wir uns geirrt hatten. Anschließend nahmen wir uns der Reihe nach alle Räume vor, in denen wir seit unserer Rückkehr noch nicht gewesen waren, doch wir fanden sie nicht. Wir liefen hinaus in den Garten und riefen mehrmals Ouridas Namen, aber nicht Ourida lockten wir damit an, sondern die beiden Wachtposten, die halfen, den Rest des Geländes und die Stallungen abzu-suchen. Ourida blieb verschwunden.

»Verlier nicht den Mut!« sagte Onkel Jean, als wir wieder im Salon saßen. »Dein Einfall war gut. Und wer weiß, vielleicht kommt Ourida doch noch hierher.«

»Oder ich habe sie ganz verloren, wieder einmal.«

Mein Onkel stützte das Kinn auf die rechte Faust und musterte mich zweifelnd. »Wieder einmal? Was soll das heißen, Bastien?«

»Ach, nichts.«

Onkel Jean lächelte. »Du mußt mir nicht sagen, was du mir nicht sagen möchtest. Nein, nein, streite es nicht ab, mein Junge! Ich spüre schon seit geraumer Zeit, daß du etwas vor mir verheimlichst. Vergiß nicht, ich kenne dich von Kindheit an. Wenn du als Knabe im Kloster etwas ausgefressen hattest und es nicht zugeben wolltest, hattest du auch diesen verschleierten Blick, als wolltest du verhindern, daß dir jemand in die Seele schaut. Ich grolle dir nicht, Bastien. Ein erwachsener Mann soll seine Geheimnisse haben. Du sollst nur wissen, daß du dich mir anvertrauen kannst, wann immer du es möchtest.«

Diese Worte berührten mich tief, und sie beschämten mich. Onkel Jean war der einzige Mensch, dem ich seit meiner Kindheit bedingungslos vertrauen konnte, ich aber hatte mich vor ihm verschlossen.

Außerdem war er ein sehr kluger, gebildeter Mann, der sich in der Geschichte des Heiligen Landes hervorr-ragend auskannte. Ich hatte niemanden sonst, mit dem ich über Ourida und über all das, was mir im Tal der Abnaa Al Salieb widerfahren war, hätte sprechen können. Vielleicht konnte mein Onkel, wenn er die Fakten kannte, daraus einen Schluß ziehen, der uns auf Ouridas Spur brachte.

Ich erhob mich und verließ den Salon, um das Schwert zu holen, das ich hinter Bonapartes Palast erbeutet hatte. Zurück im Salon, legte ich es vor meinem Onkel auf den Tisch. »Sie haben recht wie immer, Onkel. Ich habe Ihnen etwas verschwiegen, und jetzt weiß ich, daß das ein Fehler war. Was ich eben gemeint ha-be, war, daß ich Ourida schon einmal verloren habe, vor sechshundert Jahren. Und wenn nicht ich, dann jemand, mit dem ich auf unheimliche Weise über die Zeit hinweg verbunden bin. Seit damals werden Ouridas Töchter, die wie sie heißen, von diesen Rittern verfolgt.« Ich legte eine Hand auf das Schwert. »Von den Rittern vom Verlorenen Kreuz!«

Es war weit nach Mitternacht, als ich meine Erzählung beendet und Onkel Jean in alles eingeweiht hatte. Nur selten hatte er mich unterbrochen, und jetzt schwieg er, im Stuhl zurückgelehnt und die Beine ausgestreckt, eine ganze Weile und schien über das Gehörte nachzudenken.

»Das ist eine wilde Geschichte«, sagte er endlich.

»Hätte ein anderer sie mir erzählt, ich hätte ihn ins Irrenhaus einweisen lassen.«

»Und mir glauben Sie, Onkel?«

»Ich habe gespürt, daß du mir etwas verheimlichst, und jetzt spüre ich, daß du die Wahrheit sagst.«

»Aber vielleicht glaube ich nur, daß es die Wahrheit ist. Ein Verrückter hält seine Wahnvorstellungen doch auch für wahr, oder? Dann hätte ich nicht gelogen, und doch wäre es nicht die Wahrheit.« Ich preßte die Hän-de gegen meine Schläfen. »Manchmal glaube ich wirklich, ich bin irre und bilde mir das alles nur ein. Vielleicht wache ich morgen früh in Frankreich auf und stelle fest, daß ich niemals in Ägypten gewesen bin.«

Mein Onkel betrachtete das Schwert auf dem Tisch.

»Ich weiß, daß ich in Ägypten bin. Das Schwert hier ist real, ist handfestes, todbringendes Eisen, keine Einbildung. Und die Ritter habe ich in dem Wüstentempel ebenso gesehen wie du, Bastien. Wenn du also verrückt bist, bin ich es genauso.«

»Sollte mich das trösten?«

»Zu wissen, daß man nicht allein ist, sollte immer tröstlich sein.«

»Das ist wahr«, sagte ich aus tiefstem Herzen und sah Onkel Jean dankbar an. »Ich bin froh, daß ich Ihnen alles erzählt habe.«

»Ich ebenfalls, auch wenn ich zugeben muß, daß ich im Augenblick noch etwas verwirrt bin.«

»Damit sind Sie nicht allein, Onkel.«

Wir blickten einander in die Augen und lachten im selben Moment los, ein wahrhaft befreiendes Lachen.

Zum ersten Mal seit dem Massaker an den Abnaa Al Salieb spürte ich, daß ich die heitere Seite meines Wesens nicht verloren hatte – daß ich noch ein ganzer Mensch war.

»Das Wahre Kreuz also«, murmelte Onkel Jean. »Es klingt unglaublich, und doch paßt es ins Bild.«

»In welches Bild?«

»Seit das Kreuz nach der Schlacht bei Hattin in Saladins Hände fiel, gilt es als verschollen. Kein Wunder, wenn Saladin nachträglich herausgefunden hat, daß er nur eine kostbare, aber dennoch leere Hülle besitzt.

Hätte er das bekannt werden lassen, wäre der Glauben der Muslime an ihn und damit seine Machtposition erschüttert worden. Seinen Gegnern unter den eigenen Glaubensgenossen hätte das Auftrieb gegeben, und die Moral seiner Truppen wäre gesunken. Er konnte also gar nichts anderes tun, als den Mantel des Schweigens über die Angelegenheit zu breiten. Das Wahre Kreuz in Vergessenheit geraten zu lassen war seine einzige Möglichkeit, nicht bloßgestellt zu werden.«

»Aber hat er überhaupt gewußt, daß das vor Gold und Silber glänzende Kreuz, das er erbeutet hatte, nur die Hülle des Wahren Kreuzes war?«

»Davon müssen wir ausgehen. Sicher hat er das Beutestück untersuchen lassen. Außerdem ist allgemein bekannt, daß das Kreuz Jesu nur aus Splittern besteht und nicht vollständig erhalten ist.«

»Wirklich?« fragte ich. »Da habe ich im Unterricht in St. Jacques wohl nicht richtig aufgepaßt.«

Onkel Jean beugte sich vor, teilte den Rest des Weins unter uns auf und sagte: »Die Legende des Wahren Kreuzes geht zurück auf Kaiserin Helena, die Mutter Konstantins des Großen. Wie du aus dem Unterricht sicher noch weißt, war sie eine sehr fromme Frau, die um das Jahr 325 eine Pilgerfahrt ins Heilige Land unternahm. Dort soll sie das Kreuz Christi, damals noch unversehrt, entdeckt haben. Über die genauen Umstän-de gibt es verschiedene Berichte, die aus wissenschaftlicher Sicht ebenso zweifelhaft sind wie die Frage, ob Helena wirklich das Kreuz Jesu fand.«

»Sie sind ein Mann der Kirche, Onkel«, sagte ich verblüfft.

»Glauben Sie nicht an das Wahre Kreuz?«

»Doch. Aber ich bin auch ein Mann der Wissenschaft. Unstrittig ist, daß ein Kreuz gefunden wurde, das man für das Kreuz Jesu hält. Vielleicht war sogar tatsächlich Helena diejenige, die es gefunden hat. Das würde erklären, warum Teile des Kreuzes nach Kon-stantinopel, der Residenz Konstantins, gebracht worden sind.«

»Warum hat man es in Einzelteile zerlegt?«

»Auch darüber gibt es viele Legenden. Die Gläubigen waren damals – und sind es auch heute noch – stets auf der Suche nach Reliquien, die sie verehren können.

Vielleicht ist das Kreuz Jesu aus der ganz praktischen Überlegung heraus geteilt worden, daß man dadurch mehr Reliquien zur Verfügung hatte. Möglicherweise war es aber auch, als es entdeckt wurde, schon so ver-rottet, daß es von selbst zerfiel.«

»Und ein Teil ist im Heiligen Land geblieben?«

»Ja, er wurde in der Grabkapelle ausgestellt und von allen Pilgern, die nach Jerusalem kamen, angebetet. Im siebten Jahrhundert wurde die Reliquie von den Persern geraubt, aber Kaiser Heraklios hat dafür gesorgt, daß sie wieder nach Jerusalem gebracht wurde.« Onkel Jean machte eine Pause, in der er seine Gedanken zu ordnen schien. »Überspringen wir die folgenden Jahrhunderte.

Es gibt so viele Geschichten über das Wahre Kreuz und die Wunder, die es vollbracht haben soll, daß eine Nacht nicht reichen würde, um sie alle zu erzählen. Für uns ist wichtig, daß die Kreuzfahrer, als sie Jerusalem im Jahr 1099 einnahmen, das Kreuz fanden. In einigen Berichten wird es tatsächlich als mit Gold und Silber beschlagen dargestellt. Vielleicht befand sich das Holz des Wahren Kreuzes damals schon in jener Umhüllung. Der Rest der Geschichte ist dir bekannt.«

Onkel Jean war ganz in seinem Element und sprach mit einer Begeisterung, die sich auf mich übertrug.

»Eins verstehe ich nicht«, sagte ich nach kurzem Überlegen. »Wenn es verschiedene Teile des ursprünglichen Kreuzes Jesu gibt, die als Reliquien verehrt werden, wieso wird dann ausgerechnet jenem Teil, den die Kreuzritter in der Schlacht bei Hattin mit sich führten, solch großer Wert beigemessen, daß noch heute Menschen dafür ihr Leben lassen müssen?«

»Um das zu verstehen, Bastien, mußt du das Wesen einer Reliquie begreifen.«

»Sie haben es eben selbst gesagt. Eine Reliquie ist der Überrest eines Heiligen oder eines ihm gehörenden Gegenstands, den die Gläubigen verehren.«

»Aber warum verehren sie ihn?«

»Weil sie sich von ihm und damit von Gott Hilfe er-hoffen, ein Wunder in großer Not vielleicht.«

Mein Onkel klatschte in die Hände. »Bravo, Bastien, du hast es erfaßt! Die Bedeutung einer Reliquie liegt nicht darin, daß ihr tatsächlich eine wundertätige Kraft innewohnt, sondern darin, daß man sich diese Kraft von ihr erhofft. Je größer die Hoffnung, desto fester der Glaube an ein mögliches Wunder und desto größer die Bedeutung, die der Reliquie zukommt.«

»Dann liegt die Bedeutung des Wahren Kreuzes von Hattin also darin, daß Ritter und Soldaten sich von ihr Unbesiegbarkeit im Kampf erhofften?«

»Ja, und diese Hoffnung hat sich offenbar über die Jahrhunderte erhalten. Vielleicht glauben die Ritter vom Verlorenen Kreuz, sie könnten mit Hilfe des Kreuzes das Heilige Land für die Christen zurücker-obern.«

»Wenn sie sich nicht beeilen, kommt Bonaparte ihnen zuvor.«

»Unterschätz diese Ritter nicht, Bastien, nur weil sie mit altertümlichen Waffen kämpfen. Sie haben ihre Gefährlichkeit mehr als einmal bewiesen. Noch gefährlicher als ihre Waffen sind vielleicht ihre Pläne, die wir nur erahnen können. Und jetzt, da Ourida in ihrer Gewalt ist, sind sie der Verwirklichung ihres Vorhabens womöglich ein Stück näher gerückt.«

»Sie glauben also tatsächlich, daß die Ritter Ourida haben?«

Onkel Jean sah mich mitfühlend an. »Ich wünschte, ich könnte dir etwas Beruhigenderes sagen, aber das Schwert, das du in Bonapartes Garten gefunden hast, läßt gar keinen anderen Schluß zu.«

»Ich habe es bei einem Muslim gefunden, einem stummen Muslim, wie auch der Mörder Abuls einer gewesen ist«, brachte ich ihm in Erinnerung. »Warum helfen die Anhänger Mohammeds den Kreuzrittern, die ihnen doch verhaßt sein sollten?«

»Wissen wir denn, ob sie Muslime sind? Wir schlie-

ßen es aus ihrer Kleidung und der Farbe ihrer Haut, doch wir können uns auch täuschen.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen, Onkel.«

»Warte einen Augenblick«, sagte er, nahm die Laterne vom Tisch und ging in die Bibliothek.

Während ich im Dunkeln saß und zuhörte, wie mein Onkel in den wild auf dem Boden verstreuten Büchern herumsuchte, dachte ich an Ourida. Und wie jedesmal in den vergangenen beiden Tagen schlich sich dabei Furcht in mein Herz. Bei unserer ersten Begegnung im Tempel hatten die Ritter sie töten wollen. Wenn wirklich sie hinter der Entführung steckten, konnte Ourida längst tot sein. Andererseits machte mir die Tatsache Hoffnung, daß die Entführer, wenn sie Ourida töten wollten, das gleich an Ort und Stelle hätten tun können. Onkel Jean kehrte zurück, stellte die Laterne wieder auf den Tisch und legte ein schweres Buch daneben, in dem er zu blättern begann. Ich erkannte, daß es sich um eine Geschichte der Kreuzzüge handelte.

»Ah, ja, das ist die Stelle«, sagte er und setzte seine Brille auf. »Hör zu, Bastien : Zur Vergrößerung ihrer militärischen Stärke und um sich den Gegebenheiten des Heiligen Landes anzupassen, warben die Templer eine leichte Reiterei aus Einheimischen an, Turkopolen genannt, weil jene ganz nach Art der türkischen Reiterei kämpfen sollten. Bedingung war, daß zumindest ein Elternteil eines jeden Turkopolen dem christlichen Glauben angehörte. Vermutlich wurde diese Regelung gelockert, als ein zunehmender Bedarf an Soldaten entstand. Ausrüstung, Bewaffnung und Kleidung der Turkopolen waren sehr nach orientalischer Art gehalten. «

Er klappte das Buch zu und nahm mit einer schwung-vollen Bewegung die Brille von seiner Nase. »Was sagst du jetzt?«

»Ich verstehe noch nicht ganz, was …«

»Aber denk doch mal nach! Wenn die Templer damals schon Muslime anwarben – und nichts anderes meint der Verfasser mit der Lockerung der Regeln –, wieso sollten das nicht auch die heutigen Ritter vom Verlorenen Kreuz tun? In unserem Fall setzen sie sie nicht als Reitertruppe ein, sondern als Spione und Mörder. Die Ritter können sich schlecht unter Menschen bewegen, ohne aufzufallen. Vielleicht sind diese heutigen Turkopolen, wie wir sie mal nennen wollen, Christen oder die Nachfahren von Christen wie damals ihre Vorgänger. Vielleicht sind es aber auch Muslime, die ihren Propheten für Geld oder was auch immer verraten haben. Zumindest können wir nicht ausschließen, daß Kreuzritter sich muslimischer Helfer bedienen!«

»Wie haben Sie doch neulich zu Maruf ibn Saad gesagt? Der Zweck heiligt die Mittel.« Ich seufzte. »Aber selbst wenn wir davon ausgehen, daß Ourida in der Gewalt der Ritter vom Verlorenen Kreuz ist, wie finden wir sie?«

»Im Augenblick weiß ich darauf leider keine Antwort, Bastien. Aber ich werde darüber nachdenken, das verspreche ich dir. Für heute allerdings haben wir unsere Köpfe mehr als genug angestrengt. Laß uns schlafen gehen und Kräfte sammeln für das, was vor uns liegt!«

Ich dankte meinem Onkel für sein geduldiges Zuhö-

ren und die Unterstützung, die ich von ihm erfuhr. »Ei-ne Bitte habe ich noch.«

»Ja?«

»Behalten Sie das, was ich Ihnen heute abend erzählt habe, für sich! Ich käme mir sonst Ourida und Jussuf gegenüber wie ein Verräter vor.«

»Du hast mein Wort darauf.«

Bevor ich in mein Zimmer ging, stand ich noch lange an der zerstörten Gartentür und starrte in den Nachthimmel über Kairo, der immer noch von einem Feuer-schein überzogen war. Mit jedem Atemzug nahm ich den Brandgeruch in mich auf – und noch viel mehr: den Geruch von Zerstörung und Tod.