13
Es hatte mich voll erwischt. Fast fünf Tage lang lag ich im Bett und fühlte mich elend. Nachts plagten mich Albträume, in denen ich endlose Zäune ziehen und Berge verschieben musste.
Arne rief mehrmals an. Er erzählte, dass die beiden Umzugswagen mit den eingelagerten Möbeln gekommen waren, und beruhigte mich wegen des Koppelzauns.
»Ich hab alles im Griff!«, sagte er. »Die Herbstkoppel ist fertig. Als der Regen aufgehört hat, sind die Goldlöffel aus ihren Löchern gekrochen und haben mitgeholfen. Und wenn die beiden was tun, packt natürlich auch Elisa der Eifer.«
Diesmal war ich zu schlapp und angeschlagen, um mich ausgeschlossen zu fühlen. Ich war nur froh, dass Arne nicht all die Arbeit allein bewältigen musste. Schließlich war er auch noch mit dem Einzug und dem Auspacken der Umzugskartons beschäftigt.
Er versicherte mir, dass es Lara gut ging. »Du brauchst dir keine Sorgen um sie zu machen, sie ist total okay. Ich glaube nur, sie vermisst dich. Nachmittags, um die Zeit, zu der du meistens kommst, steht sie in der Nähe des Gatters, und ich könnte schwören, dass sie auf dich wartet. Soll ich ihr Grüße von dir bestellen?«
»Ja«, krächzte ich. »Und streichle sie von mir. Sag ihr, dass ich bald wiederkomme.«
»Möchtest du, dass ich dich besuche?«
Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. »Nein, lieber nicht! Es ist besser, ich gebe meine Viren oder Bazillen nicht an dich weiter. Meinen Vater hab ich schon angesteckt. Aber er schleppt sich wie der große Zorro in seinen Laden und behauptet, dass er es sich nicht leisten kann, krank zu sein.«
Fast eine Woche verging, bis ich zum ersten Mal wieder das Haus verließ. Es war Herbst geworden in dieser kurzen Zeit. Die Blätter hatten sich golden verfärbt, der wilde Wein an unserer Garagenmauer leuchtete rot und der Himmel über dem Städtchen hatte das klare, tiefe Blau des Herbstes.
Dr. Hofmann, unser Hausarzt, hatte mich die ganze Woche krankgeschrieben, sodass ich an diesem Freitag noch nicht in die Schule musste. Mein erster Weg an diesem Vormittag war nach Eulenbrook, zu Lara.
Sie standen jetzt auf der tiefer gelegenen Herbstkoppel, Lara, Fee, Robin und Jago. Bei meinem Auftauchen hoben sie die Köpfe und Fee stieß ein unterdrücktes Wiehern aus.
Lara hatte die Ohren gespitzt und witterte mit geblähten Nüstern. Dann schnaubte sie und setzte sich in Bewegung.
Während sie auf mich zukam, bemerkte ich plötzlich, dass sie sich verändert hatte. Ihr geschmeidiger Hals und die leicht gebogene Nase, ihr Fell, das kupferrot in der Sonne glänzte, die Haltung ihres Kopfes mit der leuchtenden Blesse - das alles strahlte eine verhaltene Schönheit aus, die durch den Kontrast zu Fees hellem Haar und silberblonder Mähne noch verstärkt wurde.
Tiefe Freude überkam mich. Obwohl meine Knie noch wacklig waren, rannte ich über die kahl gefressene Sommerweide und fühlte mich mit diesem seltsamen Wattenebel im Kopf, der von der Grippe zurückgeblieben war, seltsam leicht, als würde ich fliegen.
Sie kamen zum neuen Gatter, Lara, Fee und Robin, dann sogar Jago, und ich hatte nicht genug Hände, um sie alle zu streicheln und die Apfelschnitze zu verteilen.
Laras Augen waren blank und schimmerten und ihre weichen Nüstern beschnupperten meine Handgelenke. Die schorfigen, haarlosen Stellen der Glatzflechte, an der sie noch zu Anfang des Sommers gelitten hatte, waren verschwunden.
Die neue Koppel wirkte größer als die alte Nachbarweide, begrenzt vom Bachlauf, einem Hügel und dem Wald. Noch hingen Fetzen von Morgendunst über den Baumwipfeln. Es roch nach feuchter Erde, nach Laub und Gras und Pferdeäpfeln. Ein goldener Schimmer lag über den Buchen und ich sah Eulenbrooks Dach grau zwischen den Baumwipfeln aufragen.
Rauch kräuselte sich aus einem der drei Kamine in die klare Luft. Kein Windhauch ging. Der Bach gluckste zwischen den Steinen und ein Habicht oder Falke schwebte mit klagendem Schrei über die angrenzenden Felder.
Nachmittags, als ich mit Laras Kräutertee in der Thermoskanne wiederkam, waren Arne und Bonnie da. Arne nagelte neue Bretter an die Wetterseite der Schutzhütte. Sein Gesicht hellte sich auf und er lächelte sein sanftes Lächeln.
»Fünf Tage war der Frosch so krank …«, deklamierte er. »Schön, dass du wieder da bist, Rikke. Wir haben dich vermisst.«
Bonnie sprang an mir hoch, jaulte und versuchte, mir das Gesicht abzulecken und mich zu küssen. Ich kniete neben ihr nieder und schlang die Arme um ihren semmelblonden Hals.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte ich.
»Nein danke. Du bist noch ziemlich grün im Gesicht. Ich kann das hier auch allein, es ist ganz easy. Ein paar von den alten Brettern sind vergammelt und müssen ausgetauscht werden. Wie fühlt es sich an, wieder unter den Lebenden zu sein?«
»Wunderbar«, sagte ich. »Man merkt erst, wie schön das Leben ist, wenn man einige Zeit auf der Nase gelegen hat.«
Arne legte den Hammer ins Gras. Die Sonne schien ihm in die Augen und brachte die goldenen Sprenkel in den Pupillen zum Leuchten.
»Lara sieht gut aus, nicht? Wenn ihr alter Besitzer sie jetzt zu Gesicht bekäme, würde er sie bestimmt nicht mehr so billig verkaufen. Übrigens, wir sind mit dem Umbau und dem Einzug fast fertig. Am nächsten Samstag steigt unsere House Warming Party, wie Elisa das nennt. Mein Vater hat’s dir ja schon gesagt, du bist natürlich eingeladen. Ich hatte fast Angst, du könntest nicht kommen, aber bis dahin bist du wohl wieder fit.«
Ich nickte. »Klar. Kommen viele Leute?«
»Nein, es wird nur ein kleines Fest. Ein Geschäftsfreund meines Vaters kommt mit seiner Frau, der Architekt, der den Umbau geleitet hat, vielleicht ein Typ aus meinem Leistungskurs und Frau Friedrun. Elisa wird sicher die Goldlöffel mitbringen, möglicherweise auch noch jemanden aus dem Reitklub. Jeder soll irgendwas zum Futtern mitbringen. Für die Getränke sorgen wir.«
Ich grübelte tagelang darüber nach, was ich zu Eulenbrooks Einweihung anziehen sollte. In meinem Kleiderschrank war nichts, was mir besonders gefiel, und ich hatte auch kein Geld, mir etwas Neues zu kaufen. Mama versuchte, mir ihre rosafarbene Seidenbluse aufzuschwatzen, die sie manchmal in Konzerten trug. Sie behauptete, sie wäre ihr zu klein geworden und würde gut zu schwarzen Jeans passen, doch ich fand, dass sie tantig aussah.
»Dann gehen wir los und kaufen dir was Hübsches«, sagte sie. »Du hast außer Jeans schon lange nichts Neues mehr bekommen und für deine Kleidung sind immer noch wir zuständig. Dafür brauchst du dein sauer verdientes Geld nicht auszugeben.«
Ich ahnte Schreckliches. Wenn meine Mutter beim Klamottenkauf dabei war, bekamen wir meistens Streit, weil unser Geschmack total unterschiedlich war. Doch diesmal nahm sie sich zusammen und war offenbar entschlossen, mich selbst wählen zu lassen.
Wir wanderten durch zwei Kaufhäuser und nichts gefiel mir. Mama seufzte. »Herrje, du bist wirklich ein schwieriger Fall! Ich versteh nicht, wieso du immer an allem etwas auszusetzen hast …«
Schließlich fanden wir in einer Seitengasse eine kleine, versteckte Secondhandboutique, in der es neben edlen Designerklamotten auch noch richtige »Oldies« gab - Petticoats, Ballkleider aus den Sechzigerjahren, schwarze Samtmäntel, Blumenhüte, Lederkluft aus der Rockerzeit und James-Dean-Wildlederjacken.
Ich kramte ein naturweißes, taillenkurzes Leinenjäckchen mit Blumenstickereien aus einem Wühltisch. Es passte zu Jeans und Röcken und ich konnte T-Shirts darunter tragen. Diesmal waren Mama und ich ausnahmsweise einer Meinung.
»Das steht dir großartig!«, versicherte sie. »Süß siehst du damit aus! Richtig zum Anbeißen.«
Weil es nicht viel kostete, bekam ich auch noch einen Rock, der aus alten Jeans genäht war. Dann saßen wir in einer Eisdiele, aßen Vanilleeis mit heißen Himbeeren und tranken Cappuccino. Wir waren beide müde und zufrieden, und meine Mutter schlug vor, für das Fest Käseplätzchen zu backen und Antipasti zu machen - einen italienischen Vorspeisenteller aus gebratenen Zucchini und Auberginen.
»Das bringt bestimmt sonst keiner mit«, sagte sie. »Ich helfe dir.«
Einerseits freute ich mich auf das Fest. Andererseits war mir beim Gedanken daran aber auch mulmig zumute, und dieses Gefühl verstärkte sich, je näher das Wochenende rückte.
Zum Glück war am Samstag so viel zu tun, dass ich kaum zum Nachdenken kam. Vormittags musste ich meinem Vater im Laden helfen, nachmittags stand ich mit Mama in der Küche, um das Gebäck und die Antipasti vorzubereiten. Danach radelte ich zur Koppel, versorgte mit Arne die Pferde und fuhr wieder nach Hause, um zu duschen und mir den Pferdegeruch aus den Haaren zu waschen.
Kurz nach acht fuhr mich meine Mutter bis vors Tor von Eulenbrook, denn die Antipasti lagen auf einer Platte und konnten schlecht mit dem Rad transportiert werden. Farbige Glühlämpchen hingen am Gitter und funkelten im Zwielicht.
Mama gab mir einen Kuss. »Viel Spaß!«, sagte sie. »Amüsier dich gut. Und versprich mir, nachts nicht allein nach Hause zu gehen. Ruf uns an, falls Arne dich nicht begleitet.«
Es war mein erstes Fest seit Ronjas Unfall. Früher waren wir immer zusammen auf Partys gewesen und ich hatte mich mit ihr sicher gefühlt. Einen Augenblick lang war mir, als ginge sie wieder neben mir her, während ich wie Rotkäppchen mit meinem Korb über die Auffahrt wanderte.
Herr Theisen hatte zu beiden Seiten des Weges Lampen im Gebüsch anbringen lassen, die aufflammten, wenn sich etwas bewegte. Wie von Geisterhand eingeschaltet, ging ein Licht nach dem anderen an, und Buchsbaumhecken, Eiben, Brennnesseln und Rhododendronsträucher tauchten vor mir in der Dunkelheit auf. Blassrosa und weiße Rosen leuchteten im gelben Schein und versanken wieder und die Äste der alten Obstbäume warfen ihre Schatten über den Kies.
Vor mir schwirrte eine Fledermaus ins Licht und schwang sich in den Himmel, der sich wie ein Baldachin aus violettblauem Samt über den alten Garten spannte. Schon begannen die ersten Sterne zu funkeln. Die Mondsichel hing silbrig zwischen Eulenbrooks Kaminen. Es knackte geheimnisvoll im Gebüsch.
Das Vordach über der kleinen Freitreppe war mit bunten Glühbirnen geschmückt, die sacht im Abendwind schaukelten. Das Gerüst, das die Fassade so viele Wochen umgeben hatte, war verschwunden. Klaviermusik drang aus den geöffneten, hell erleuchteten Fenstern.
Ich blieb stehen und sah auf das Haus, das ich seit meinen Kindertagen kannte. Wieder fiel mir der Vergleich mit dem Dornröschenschloss ein, das nach hundert Jahren aus dem Schlaf erwacht.
Alle Spuren der Vernachlässigung waren verschwunden. Die Vorderfront mit den beiden Säulen und dem dreieckigen Vordach, das Herr Theisen »Portikus« nannte, war zartgelb gestrichen, die Fensterrahmen weiß. Die bröckelnden Treppenstufen waren ausgebessert, das morsche Holz des Balkons erneuert. Rechts und links des Aufgangs standen Lorbeerbäumchen in großen Terrakottatöpfen auf dem Vorplatz. Der Geruch nach Farbe und frischem Holz mischte sich mit den Düften des verwilderten Gartens.
Neben dem Wohnwagen der Theisens parkten vier Autos vor dem Haus. Die Eingangstür stand offen. Als ich näher kam, verstummte die Musik. Dann tauchte eine Gestalt unter dem Vordach auf. Es war Arne.
An seiner Seite fiel es mir leichter, in die Halle zu gehen, in der schon die meisten Gäste versammelt waren. Neben Herrn Theisen standen zwei Männer und eine Frau, auf einem der Fensterbretter saß ein Typ in Arnes Alter, den ich flüchtig aus der Schule kannte.
Natürlich waren auch Lily und Erik gekommen. Sie lehnten mit Elisa und zwei Mädchen, die nach Reitklub aussahen, malerisch am Klavier.
Bonnie trug zur Feier des Tages eine rote Schleife am Halsband. »Ist Frau Friedrun noch nicht da?«, fragte ich, während ich sie streichelte und aufpasste, dass sie ihre Nase nicht in meinen Korb versenkte.
»Sie ist zu einem Pferd gerufen worden, das Kolik hat, und kommt erst später.«
Herr Theisen begrüßte mich und nahm mir den Korb ab. »Was sagst du?«, fragte er. »Gefällt es dir?«
Die große Eingangshalle, die ich als düsteren, fast unheimlichen Raum kannte, hatte sich auf wunderbare Weise verwandelt. Die Wände waren aprikosenfarben gestrichen, der offene Kamin hatte eine neue Einfassung aus hellem Stein bekommen, der morsche Parkettboden war erneuert und glänzte honigfarben, die hohen Fenster blitzten im Licht der Kerzen.
Außer dem Flügel und einem langen dunklen Tisch mit sechs Stühlen gab es kaum Möbel, nur mehrere Bilder und einen mannshohen Spiegel. Unter der Treppe, die nach oben führte, stand eine alte Kommode mit zierlichen Beschlägen.
»Es ist wirklich schön geworden«, sagte ich etwas steif. »Ich hätte nie gedacht, dass es je so werden könnte.«
»Ich hoffe, du bist nicht mehr böse, dass wir das Haus aus seinem Dornröschenschlaf gerissen haben.« Ein Lächeln stand in Herrn Theisens Augen. Arne hatte ihm also erzählt, wie schwer es mir anfangs gefallen war, mich an die Veränderungen in Eulenbrook zu gewöhnen.
»Du hast eine stärkere Beziehung zu diesem Haus als wir«, sagte er. »Wir müssen es wohl erst zähmen, wie es in der Geschichte vom Kleinen Prinzen heißt.«
Auf dem Tisch standen bereits mehrere Schüsseln mit Salaten, eine Platte mit Lachs und eine mit einem Hummer, dazu ein prächtiger Henkelkorb voll exotischer Früchte, vermutlich von den Goldlöffeln. Mein Blick fiel auf Elisa. Sie sah sehr erwachsen aus mit ihren hochgesteckten Haaren und dem eng anliegenden schwarzen Kleid. Jetzt setzte sie sich an den Flügel und begann, einen Walzer zu spielen.
Herr Theisen stellte mich der älteren Frau und den beiden Männern vor.
»Das ist Rikke, die Freundin meines Sohnes«, sagte er. »Sie ist das geborene Pferdemädchen. Sie weiß es nur noch nicht.«
Ich errötete ein bisschen, freute mich aber. Bonnie saß vor dem Tisch und sah sehnsüchtig zu all den guten Sachen auf. Ich nahm mir vor, ihr später, wenn keiner hinsah, etwas vom Parmaschinken zu geben, der zwischen Melonenscheiben auf einer silbernen Platte lag.
Arne winkte mir vom Fenster her zu. Wir unterhielten uns eine Weile mit Jonas, dem Jungen aus unserer Schule, der ziemlich schüchtern war und den Eindruck machte, als hätte er sich am liebsten hinter den bodenlangen Vorhängen verkrochen.
»Bist du nicht eine von den Wagner-Zwillingen?«, fragte er, verstummte dann jäh und machte ein verlegenes Gesicht.
»Ja«, sagte ich. »Der Teil, der übrig geblieben ist.«
Er senkte den Blick. »Tut mir leid.«
Jetzt kam Lily und hakte sich bei Arne unter. »Hi!«, sagte sie zu mir. »Ich dachte, du bist krank.«
Es klang wie: Du solltest eigentlich nicht hier sein. Sie versuchte, Arne mit sich fortzuziehen, doch er blieb stehen und sagte auf seine sanfte, aber bestimmte Art: »Wir sehen uns dann gleich.«
Sie warf den Kopf zurück, eine Bewegung, die mich an ein trotziges Kind erinnerte. Ihre Haare waren teils gelockt, teils zu dünnen Zöpfchen geflochten. Sie trug eine braune Seidenhose mit einem engen Oberteil aus pinkfarbenem Samt.
Plötzlich kam ich mir in meiner Jeans und dem alten bestickten Leinenjäckchen schäbig vor. Der Blick, mit dem sie mich musterte, ehe sie wieder zum Flügel ging, bestärkte mich noch in meinem Aschenputtelgefühl.
»Ey, Mann, ist das ein scharfer Hase!«, flüsterte Jonas beeindruckt. »Woher kennt ihr die?«
»Aus dem Reitklub. Sie ist mit meiner Schwester befreundet.« Arne sah mich an. »Was möchtest du trinken? Sekt mit Orangensaft? Mineralwasser? Cola mit Schuss?«
»Nur Orangensaft, danke«, sagte ich.
Jonas wollte Sekt und Arne verschwand und kam mit drei Gläsern auf einem Tablett zurück. Bonnie trabte hinterdrein; die Schleife an ihrem Halsband hüpfte auf und ab. Elisa hatte inzwischen zu spielen aufgehört. Aus der Stereoanlage kam Barockmusik, die den Raum mit heiteren Tönen füllte.
Verstohlen musterte ich Arne. Er sah richtig gut aus, fand ich. Zu einem hellen Hemd trug er eine Wildlederweste, die ziemlich abgeschabt war und vielleicht einmal seinem Vater gehört hatte. In seinem linken Ohr hing ein kleiner goldener Ring. Seine schlanken, aber kräftigen Hände waren zerkratzt, mehrere Fingernägel abgebrochen.
Als er meinen Blick bemerkte, steckte er die Hände in die Hosentaschen. »Ich hab versucht, meine Fingernägel sauber zu kriegen, aber alle Schrubberei hat nichts genützt«, murmelte er entschuldigend. »Meine Hände sehen immer abartig aus. Ich vergesse meistens, Arbeitshandschuhe zu tragen.«
Wenn Jonas nicht dabei gewesen wäre, hätte ich ihm vielleicht gesagt, dass ich gerade seine Hände besonders an ihm mochte und dass er sich für sie nicht zu schämen brauchte.
Jonas fragte nach den Pferden. Wir erzählten von Lara. Zu meiner Überraschung schien es ihn wirklich zu interessieren, denn er hörte aufmerksam zu, bis Elisa plötzlich einen Dixieland auf dem Klavier spielte, so laut, dass wir schreien mussten, um uns zu verständigen.
Dann war auch Frau Friedrun da, ungewohnt elegant in einem blauen Seidenkleid und baumelnden Perlohrringen, mit einer Art Suppenterrine im Arm. Sie stand einige Zeit bei Herrn Theisen und seinen älteren Gästen und kam dann zu uns ans Fenster.
»Wie geht’s Lara?«, fragte sie. »Es ist meistens ein gutes Zeichen, wenn sich die Leute nicht bei mir melden.«
»Von Tag zu Tag besser«, sagte ich, ohne zu wissen, ob sie mich auch verstanden hatte, denn jetzt spielte Elisa einen Tusch auf dem Klavier und verkündete, das Büfett wäre eröffnet. Bonnie war als Erste am Tisch, worüber alle lachten.
Nur Arne und ich blieben mit unseren Gläsern zurück. Arne fragte: »Magst du nichts essen?«
»Doch, aber nicht jetzt, wenn alle mit ihren Gabeln zustechen.«
Er lachte. »Ich möchte deine Käseplätzchen probieren. Sie sehen gut aus. Hast du sie gebacken oder deine Mutter?«
»Wir beide.« Wir standen jetzt dicht nebeneinander am offenen Fenster und sahen in den dunklen Garten hinaus, in dem die letzten Zikaden dieses Sommers zirpten.
»Der Garten gehört uns nicht.« Arne sagte es leise, als antwortete er auf eine unausgesprochene Frage. »Er gehört sich selbst und den Tieren, die darin leben. Eigentlich sind wir hier nur Eindringlinge.«
»Es kommt darauf an, wie ihr mit ihm umgeht.«
Plötzlich wandte er sich mir zu, hob die Hand und strich mir mit dem Zeigefinger eine Haarsträhne hinters Ohr.
»Du trägst die Ohrringe!«, sagte er leise. »Schön. Sie passen zu dir.«
Besser als zu Ronja, dachte ich unwillkürlich. Eigentlich hatten die Hängeohrringe mit den kleinen Opalen einst Ronja gehört. Sie hatte sie mir geschenkt, weil sie fand, dass sie mir besser standen als ihr. Die Ohrringe hatten ihre eigene Geschichte. Vielleicht waren sie sogar der Grund dafür, dass ich heute hier neben Arne stand, der Ursprung unserer Freundschaft - denn ich hatte einen von beiden in Eulenbrooks Garten verloren, und Arne hatte ihn gefunden. Das war am Anfang dieses Sommers gewesen.
Jemand hatte eine neue Kassette mit Walzermusik eingelegt. Flüchtig dachte ich, wie gut diese Musik hierher passte, in dieses alte, versponnene Gemäuer, das plötzlich in neuem Glanz erstrahlte.
»Ich würde gern mit dir tanzen«, sagte Arne. »Draußen vor dem Haus. Das hab ich mir schon oft vorgestellt, dass wir hier im Garten miteinander tanzen.«
Ein seltsames Gefühl, wie ein süßer Schauer, durchfuhr mich wie ein kleiner Blitz. Einen Moment lang erwiderte ich seinen Blick, ehe ich wieder aus dem Fenster sah und murmelte: »Ich kann keinen Walzer.«
»Ich auch nicht. Versuchen wir’s trotzdem?« Ich nickte. Gleichzeitig, wie auf ein geheimes Zeichen, nahmen wir uns an der Hand und gingen auf die Tür zu. Lily musste uns beobachtet haben, denn sie vertrat uns den Weg und sagte: »Ihr wollt euch doch nicht klammheimlich verdrücken? Kommt und probiert den Hummer, er schmeckt echt köstlich.«
»Ich esse keinen Hummer«, erwiderte Arne. »Weißt du eigentlich, wie sie sterben? Sie werden bei lebendigem Leib in siedendes Wasser geworfen. Es dauert ziemlich lange, bis die Quälerei vorbei ist und sie tot sind.«
Lily schnitt eine leichte Grimasse. »Okay, dann nimm dir was von den Früchten. Oder tun dir die auch leid?« Ihr Blick glitt von Arnes Gesicht zu unseren ineinander verschränkten Fingern, und ihre Augen verengten sich zu einem Spalt.
»Später«, sagte Arne. »Jetzt wollen wir tanzen.«
»Na, dann viel Spaß!« Unvermittelt wandte sie sich ab, und ich dachte, dass Menschen wie sie bestimmt schlechter mit Frust umgehen konnten als andere, die nicht daran gewöhnt waren, immer all ihre Wünsche erfüllt zu bekommen. Ihr Bruder Erik rief etwas Unverständliches. Er stand neben Elisa und winkte mit einer Hähnchenkeule.
Draußen ging ein leichter, warmer Wind, der in den Bäumen raunte und die Glühlämpchen zum Schaukeln brachte, sodass blaue, grüne und goldene Lichtpunkte über die Treppenstufen und den Kies sprühten. Die Klänge des Kaiserwalzers drangen durch die offene Tür und die Fenster ins Freie und erfüllten den Garten. In aller Beschwingtheit hatten sie auch etwas Wehmütiges, wie ein Hauch aus längst vergangenen Tagen.
Arne legte einen Arm um meinen Rücken, und wir machten die ersten ungeschickten Schritte, lachend und ein bisschen verlegen. Der Kies knirschte unter unseren Sohlen, bis wir die Schuhe abstreiften und im Gras weitertanzten.
Mit einem Mal war es leicht, die richtigen Bewegungen zu finden. Wie ein Funke sprang die Melodie auf uns über und lenkte auf geheimnisvolle Weise unsere Schritte. Eine Art Zauber ging von ihr aus, der uns erfasste und uns trug.
Wir drehten uns und hielten uns gegenseitig fest, und ich spürte Arnes Gesicht an dem meinen, seine Wärme und seinen Atem, der über meine Wange strich. Der Wind roch nach Blüten und Pferden und dem Wasser des alten Teiches und das Gras unter unseren Füßen war weich und kühl.
Ich hörte Arne leise lachen, als Bonnie aus dem Haus kam und übermütig um uns herumsprang, als wollte sie mit uns tanzen. Am liebsten hätte ich diese Minuten festgehalten und mich ewig weiter so gedreht, doch die Musik endete viel zu früh, und wir tanzten noch eine Weile langsam weiter, als hätte die Melodie ein Echo in unseren Köpfen hinterlassen.
Später erinnerte ich mich noch oft daran, dass ein Käuzchen in der Tiefe des alten Gartens schrie, als wir uns zum ersten Mal küssten.