13
Es hatte mich voll erwischt. Fast fünf Tage lang
lag ich im Bett und fühlte mich elend. Nachts plagten mich
Albträume, in denen ich endlose Zäune ziehen und Berge verschieben
musste.
Arne rief mehrmals an. Er erzählte, dass die beiden
Umzugswagen mit den eingelagerten Möbeln gekommen waren, und
beruhigte mich wegen des Koppelzauns.
»Ich hab alles im Griff!«, sagte er. »Die
Herbstkoppel ist fertig. Als der Regen aufgehört hat, sind die
Goldlöffel aus ihren Löchern gekrochen und haben mitgeholfen. Und
wenn die beiden was tun, packt natürlich auch Elisa der
Eifer.«
Diesmal war ich zu schlapp und angeschlagen, um
mich ausgeschlossen zu fühlen. Ich war nur froh, dass Arne nicht
all die Arbeit allein bewältigen musste. Schließlich war er auch
noch mit dem Einzug und dem Auspacken der Umzugskartons
beschäftigt.
Er versicherte mir, dass es Lara gut ging. »Du
brauchst dir keine Sorgen um sie zu machen, sie ist total okay. Ich
glaube nur, sie vermisst dich. Nachmittags, um die Zeit, zu der du
meistens kommst, steht sie in der Nähe des Gatters, und ich könnte
schwören, dass sie auf dich wartet. Soll ich ihr Grüße von dir
bestellen?«
»Ja«, krächzte ich. »Und streichle sie von mir. Sag
ihr, dass ich bald wiederkomme.«
»Möchtest du, dass ich dich besuche?«
Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. »Nein,
lieber nicht! Es ist besser, ich gebe meine Viren oder Bazillen
nicht an dich weiter. Meinen Vater hab ich schon angesteckt. Aber
er schleppt sich wie der große Zorro in seinen Laden und behauptet,
dass er es sich nicht leisten kann, krank zu sein.«
Fast eine Woche verging, bis ich zum ersten Mal
wieder das Haus verließ. Es war Herbst geworden in dieser kurzen
Zeit. Die Blätter hatten sich golden verfärbt, der wilde Wein an
unserer Garagenmauer leuchtete rot und der Himmel über dem
Städtchen hatte das klare, tiefe Blau des Herbstes.
Dr. Hofmann, unser Hausarzt, hatte mich die ganze
Woche krankgeschrieben, sodass ich an diesem Freitag noch nicht in
die Schule musste. Mein erster Weg an diesem Vormittag war nach
Eulenbrook, zu Lara.
Sie standen jetzt auf der tiefer gelegenen
Herbstkoppel, Lara, Fee, Robin und Jago. Bei meinem Auftauchen
hoben sie die Köpfe und Fee stieß ein unterdrücktes Wiehern
aus.
Lara hatte die Ohren gespitzt und witterte mit
geblähten Nüstern. Dann schnaubte sie und setzte sich in
Bewegung.
Während sie auf mich zukam, bemerkte ich plötzlich,
dass sie sich verändert hatte. Ihr geschmeidiger Hals und die
leicht gebogene Nase, ihr Fell, das kupferrot in der Sonne glänzte,
die Haltung ihres Kopfes mit der leuchtenden Blesse - das alles
strahlte eine verhaltene Schönheit aus, die durch den Kontrast zu
Fees hellem Haar und silberblonder Mähne noch verstärkt
wurde.
Tiefe Freude überkam mich. Obwohl meine Knie noch
wacklig waren, rannte ich über die kahl gefressene Sommerweide und
fühlte mich mit diesem seltsamen Wattenebel im Kopf, der von der
Grippe zurückgeblieben war, seltsam leicht, als würde ich
fliegen.
Sie kamen zum neuen Gatter, Lara, Fee und Robin,
dann sogar Jago, und ich hatte nicht genug Hände, um sie alle zu
streicheln und die Apfelschnitze zu verteilen.
Laras Augen waren blank und schimmerten und ihre
weichen Nüstern beschnupperten meine Handgelenke. Die schorfigen,
haarlosen Stellen der Glatzflechte, an der sie noch zu Anfang des
Sommers gelitten hatte, waren verschwunden.
Die neue Koppel wirkte größer als die alte
Nachbarweide, begrenzt vom Bachlauf, einem Hügel und dem Wald. Noch
hingen Fetzen von Morgendunst über den Baumwipfeln. Es roch nach
feuchter Erde, nach Laub und Gras und Pferdeäpfeln. Ein goldener
Schimmer lag über den Buchen und ich sah Eulenbrooks Dach grau
zwischen den Baumwipfeln aufragen.
Rauch kräuselte sich aus einem der drei Kamine in
die klare Luft. Kein Windhauch ging. Der Bach gluckste zwischen den
Steinen und ein Habicht oder Falke schwebte mit klagendem Schrei
über die angrenzenden Felder.
Nachmittags, als ich mit Laras Kräutertee in der
Thermoskanne wiederkam, waren Arne und Bonnie da. Arne nagelte neue
Bretter an die Wetterseite der Schutzhütte. Sein Gesicht hellte
sich auf und er lächelte sein sanftes Lächeln.
»Fünf Tage war der Frosch so krank …«, deklamierte
er. »Schön, dass du wieder da bist, Rikke. Wir haben dich
vermisst.«
Bonnie sprang an mir hoch, jaulte und versuchte,
mir das Gesicht abzulecken und mich zu küssen. Ich kniete neben ihr
nieder und schlang die Arme um ihren semmelblonden Hals.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte ich.
»Nein danke. Du bist noch ziemlich grün im Gesicht.
Ich kann das hier auch allein, es ist ganz easy. Ein paar von den
alten Brettern sind vergammelt und müssen ausgetauscht werden. Wie
fühlt es sich an, wieder unter den Lebenden zu sein?«
»Wunderbar«, sagte ich. »Man merkt erst, wie schön
das Leben ist, wenn man einige Zeit auf der Nase gelegen
hat.«
Arne legte den Hammer ins Gras. Die Sonne schien
ihm in die Augen und brachte die goldenen Sprenkel in den Pupillen
zum Leuchten.
»Lara sieht gut aus, nicht? Wenn ihr alter Besitzer
sie jetzt zu Gesicht bekäme, würde er sie bestimmt nicht mehr so
billig verkaufen. Übrigens, wir sind mit dem Umbau und dem Einzug
fast fertig. Am nächsten Samstag steigt unsere House Warming
Party, wie Elisa das nennt. Mein Vater hat’s dir ja schon
gesagt, du bist natürlich eingeladen. Ich hatte fast Angst, du
könntest nicht kommen, aber bis dahin bist du wohl wieder
fit.«
Ich nickte. »Klar. Kommen viele Leute?«
»Nein, es wird nur ein kleines Fest. Ein
Geschäftsfreund meines Vaters kommt mit seiner Frau, der Architekt,
der den Umbau geleitet hat, vielleicht ein Typ aus meinem
Leistungskurs und Frau Friedrun. Elisa wird sicher die Goldlöffel
mitbringen, möglicherweise auch noch jemanden aus dem Reitklub.
Jeder soll irgendwas zum Futtern mitbringen. Für die Getränke
sorgen wir.«
Ich grübelte tagelang darüber nach, was ich zu
Eulenbrooks Einweihung anziehen sollte. In meinem Kleiderschrank
war nichts, was mir besonders gefiel, und ich hatte auch kein Geld,
mir etwas Neues zu kaufen. Mama versuchte, mir ihre rosafarbene
Seidenbluse aufzuschwatzen, die sie manchmal in Konzerten trug. Sie
behauptete, sie wäre ihr zu klein geworden und würde gut zu
schwarzen Jeans passen, doch ich fand, dass sie tantig
aussah.
»Dann gehen wir los und kaufen dir was Hübsches«,
sagte sie. »Du hast außer Jeans schon lange nichts Neues mehr
bekommen und für deine Kleidung sind immer noch wir zuständig.
Dafür brauchst du dein sauer verdientes Geld nicht
auszugeben.«
Ich ahnte Schreckliches. Wenn meine Mutter beim
Klamottenkauf dabei war, bekamen wir meistens Streit, weil unser
Geschmack total unterschiedlich war. Doch diesmal nahm sie sich
zusammen und war offenbar entschlossen, mich selbst wählen zu
lassen.
Wir wanderten durch zwei Kaufhäuser und nichts
gefiel mir. Mama seufzte. »Herrje, du bist wirklich ein schwieriger
Fall! Ich versteh nicht, wieso du immer an allem etwas auszusetzen
hast …«
Schließlich fanden wir in einer Seitengasse eine
kleine, versteckte Secondhandboutique, in der es neben edlen
Designerklamotten auch noch richtige »Oldies« gab - Petticoats,
Ballkleider aus den Sechzigerjahren, schwarze Samtmäntel,
Blumenhüte, Lederkluft aus der Rockerzeit und
James-Dean-Wildlederjacken.
Ich kramte ein naturweißes, taillenkurzes
Leinenjäckchen mit Blumenstickereien aus einem Wühltisch. Es passte
zu Jeans und Röcken und ich konnte T-Shirts darunter tragen.
Diesmal waren Mama und ich ausnahmsweise einer Meinung.
»Das steht dir großartig!«, versicherte sie. »Süß
siehst du damit aus! Richtig zum Anbeißen.«
Weil es nicht viel kostete, bekam ich auch noch
einen Rock, der aus alten Jeans genäht war. Dann saßen wir in einer
Eisdiele, aßen Vanilleeis mit heißen Himbeeren und tranken
Cappuccino. Wir waren beide müde und zufrieden, und meine Mutter
schlug vor, für das Fest Käseplätzchen zu backen und Antipasti zu
machen - einen italienischen Vorspeisenteller aus gebratenen
Zucchini und Auberginen.
»Das bringt bestimmt sonst keiner mit«, sagte sie.
»Ich helfe dir.«
Einerseits freute ich mich auf das Fest.
Andererseits war mir beim Gedanken daran aber auch mulmig zumute,
und dieses Gefühl verstärkte sich, je näher das Wochenende
rückte.
Zum Glück war am Samstag so viel zu tun, dass ich
kaum zum Nachdenken kam. Vormittags musste ich meinem Vater im
Laden helfen, nachmittags stand ich mit Mama in der Küche, um das
Gebäck und die Antipasti vorzubereiten. Danach radelte ich zur
Koppel, versorgte mit Arne die Pferde und fuhr wieder nach Hause,
um zu duschen und mir den Pferdegeruch aus den Haaren zu
waschen.
Kurz nach acht fuhr mich meine Mutter bis vors Tor
von Eulenbrook, denn die Antipasti lagen auf einer Platte und
konnten schlecht mit dem Rad transportiert werden. Farbige
Glühlämpchen hingen am Gitter und funkelten im Zwielicht.
Mama gab mir einen Kuss. »Viel Spaß!«, sagte sie.
»Amüsier dich gut. Und versprich mir, nachts nicht allein nach
Hause zu gehen. Ruf uns an, falls Arne dich nicht begleitet.«
Es war mein erstes Fest seit Ronjas Unfall. Früher
waren wir immer zusammen auf Partys gewesen und ich hatte mich mit
ihr sicher gefühlt. Einen Augenblick lang war mir, als ginge sie
wieder neben mir her, während ich wie Rotkäppchen mit meinem Korb
über die Auffahrt wanderte.
Herr Theisen hatte zu beiden Seiten des Weges
Lampen im Gebüsch anbringen lassen, die aufflammten, wenn sich
etwas bewegte. Wie von Geisterhand eingeschaltet, ging ein Licht
nach dem anderen an, und Buchsbaumhecken, Eiben, Brennnesseln und
Rhododendronsträucher tauchten vor mir in der Dunkelheit auf.
Blassrosa und weiße Rosen leuchteten im gelben Schein und versanken
wieder und die Äste der alten Obstbäume warfen ihre Schatten über
den Kies.
Vor mir schwirrte eine Fledermaus ins Licht und
schwang sich in den Himmel, der sich wie ein Baldachin aus
violettblauem Samt über den alten Garten spannte. Schon begannen
die ersten Sterne zu funkeln. Die Mondsichel hing silbrig zwischen
Eulenbrooks Kaminen. Es knackte geheimnisvoll im Gebüsch.
Das Vordach über der kleinen Freitreppe war mit
bunten Glühbirnen geschmückt, die sacht im Abendwind schaukelten.
Das Gerüst, das die Fassade so viele Wochen umgeben hatte, war
verschwunden. Klaviermusik drang aus den geöffneten, hell
erleuchteten Fenstern.
Ich blieb stehen und sah auf das Haus, das ich seit
meinen Kindertagen kannte. Wieder fiel mir der Vergleich mit dem
Dornröschenschloss ein, das nach hundert Jahren aus dem Schlaf
erwacht.
Alle Spuren der Vernachlässigung waren
verschwunden. Die Vorderfront mit den beiden Säulen und dem
dreieckigen Vordach, das Herr Theisen »Portikus« nannte, war
zartgelb gestrichen, die Fensterrahmen weiß. Die bröckelnden
Treppenstufen waren ausgebessert, das morsche Holz des Balkons
erneuert. Rechts und links des Aufgangs standen Lorbeerbäumchen in
großen Terrakottatöpfen auf dem Vorplatz. Der Geruch nach Farbe und
frischem Holz mischte sich mit den Düften des verwilderten
Gartens.
Neben dem Wohnwagen der Theisens parkten vier Autos
vor dem Haus. Die Eingangstür stand offen. Als ich näher kam,
verstummte die Musik. Dann tauchte eine Gestalt unter dem Vordach
auf. Es war Arne.
An seiner Seite fiel es mir leichter, in die Halle
zu gehen, in der schon die meisten Gäste versammelt waren. Neben
Herrn Theisen standen zwei Männer und eine Frau, auf einem der
Fensterbretter saß ein Typ in Arnes Alter, den ich flüchtig aus der
Schule kannte.
Natürlich waren auch Lily und Erik gekommen. Sie
lehnten mit Elisa und zwei Mädchen, die nach Reitklub aussahen,
malerisch am Klavier.
Bonnie trug zur Feier des Tages eine rote Schleife
am Halsband. »Ist Frau Friedrun noch nicht da?«, fragte ich,
während ich sie streichelte und aufpasste, dass sie ihre Nase nicht
in meinen Korb versenkte.
»Sie ist zu einem Pferd gerufen worden, das Kolik
hat, und kommt erst später.«
Herr Theisen begrüßte mich und nahm mir den Korb
ab. »Was sagst du?«, fragte er. »Gefällt es dir?«
Die große Eingangshalle, die ich als düsteren, fast
unheimlichen Raum kannte, hatte sich auf wunderbare Weise
verwandelt. Die Wände waren aprikosenfarben gestrichen, der offene
Kamin hatte eine neue Einfassung aus hellem Stein bekommen, der
morsche Parkettboden war erneuert und glänzte honigfarben, die
hohen Fenster blitzten im Licht der Kerzen.
Außer dem Flügel und einem langen dunklen Tisch mit
sechs Stühlen gab es kaum Möbel, nur mehrere Bilder und einen
mannshohen Spiegel. Unter der Treppe, die nach oben führte, stand
eine alte Kommode mit zierlichen Beschlägen.
»Es ist wirklich schön geworden«, sagte ich etwas
steif. »Ich hätte nie gedacht, dass es je so werden könnte.«
»Ich hoffe, du bist nicht mehr böse, dass wir das
Haus aus seinem Dornröschenschlaf gerissen haben.« Ein Lächeln
stand in Herrn Theisens Augen. Arne hatte ihm also erzählt, wie
schwer es mir anfangs gefallen war, mich an die Veränderungen in
Eulenbrook zu gewöhnen.
»Du hast eine stärkere Beziehung zu diesem Haus als
wir«, sagte er. »Wir müssen es wohl erst zähmen, wie es in der
Geschichte vom Kleinen Prinzen heißt.«
Auf dem Tisch standen bereits mehrere Schüsseln mit
Salaten, eine Platte mit Lachs und eine mit einem Hummer, dazu ein
prächtiger Henkelkorb voll exotischer Früchte, vermutlich von den
Goldlöffeln. Mein Blick fiel auf Elisa. Sie sah sehr erwachsen aus
mit ihren hochgesteckten Haaren und dem eng anliegenden schwarzen
Kleid. Jetzt setzte sie sich an den Flügel und begann, einen Walzer
zu spielen.
Herr Theisen stellte mich der älteren Frau und den
beiden Männern vor.
»Das ist Rikke, die Freundin meines Sohnes«, sagte
er. »Sie ist das geborene Pferdemädchen. Sie weiß es nur noch
nicht.«
Ich errötete ein bisschen, freute mich aber. Bonnie
saß vor dem Tisch und sah sehnsüchtig zu all den guten Sachen auf.
Ich nahm mir vor, ihr später, wenn keiner hinsah, etwas vom
Parmaschinken zu geben, der zwischen Melonenscheiben auf einer
silbernen Platte lag.
Arne winkte mir vom Fenster her zu. Wir
unterhielten uns eine Weile mit Jonas, dem Jungen aus unserer
Schule, der ziemlich schüchtern war und den Eindruck machte, als
hätte er sich am liebsten hinter den bodenlangen Vorhängen
verkrochen.
»Bist du nicht eine von den Wagner-Zwillingen?«,
fragte er, verstummte dann jäh und machte ein verlegenes
Gesicht.
»Ja«, sagte ich. »Der Teil, der übrig geblieben
ist.«
Er senkte den Blick. »Tut mir leid.«
Jetzt kam Lily und hakte sich bei Arne unter.
»Hi!«, sagte sie zu mir. »Ich dachte, du bist krank.«
Es klang wie: Du solltest eigentlich nicht hier
sein. Sie versuchte, Arne mit sich fortzuziehen, doch er blieb
stehen und sagte auf seine sanfte, aber bestimmte Art: »Wir sehen
uns dann gleich.«
Sie warf den Kopf zurück, eine Bewegung, die mich
an ein trotziges Kind erinnerte. Ihre Haare waren teils gelockt,
teils zu dünnen Zöpfchen geflochten. Sie trug eine braune
Seidenhose mit einem engen Oberteil aus pinkfarbenem Samt.
Plötzlich kam ich mir in meiner Jeans und dem alten
bestickten Leinenjäckchen schäbig vor. Der Blick, mit dem sie mich
musterte, ehe sie wieder zum Flügel ging, bestärkte mich noch in
meinem Aschenputtelgefühl.
»Ey, Mann, ist das ein scharfer Hase!«, flüsterte
Jonas beeindruckt. »Woher kennt ihr die?«
»Aus dem Reitklub. Sie ist mit meiner Schwester
befreundet.« Arne sah mich an. »Was möchtest du trinken? Sekt mit
Orangensaft? Mineralwasser? Cola mit Schuss?«
»Nur Orangensaft, danke«, sagte ich.
Jonas wollte Sekt und Arne verschwand und kam mit
drei Gläsern auf einem Tablett zurück. Bonnie trabte hinterdrein;
die Schleife an ihrem Halsband hüpfte auf und ab. Elisa hatte
inzwischen zu spielen aufgehört. Aus der Stereoanlage kam
Barockmusik, die den Raum mit heiteren Tönen füllte.
Verstohlen musterte ich Arne. Er sah richtig gut
aus, fand ich. Zu einem hellen Hemd trug er eine Wildlederweste,
die ziemlich abgeschabt war und vielleicht einmal seinem Vater
gehört hatte. In seinem linken Ohr hing ein kleiner goldener Ring.
Seine schlanken, aber kräftigen Hände waren zerkratzt, mehrere
Fingernägel abgebrochen.
Als er meinen Blick bemerkte, steckte er die Hände
in die Hosentaschen. »Ich hab versucht, meine Fingernägel sauber zu
kriegen, aber alle Schrubberei hat nichts genützt«, murmelte er
entschuldigend. »Meine Hände sehen immer abartig aus. Ich vergesse
meistens, Arbeitshandschuhe zu tragen.«
Wenn Jonas nicht dabei gewesen wäre, hätte ich ihm
vielleicht gesagt, dass ich gerade seine Hände besonders an ihm
mochte und dass er sich für sie nicht zu schämen brauchte.
Jonas fragte nach den Pferden. Wir erzählten von
Lara. Zu meiner Überraschung schien es ihn wirklich zu
interessieren, denn er hörte aufmerksam zu, bis Elisa plötzlich
einen Dixieland auf dem Klavier spielte, so laut, dass wir schreien
mussten, um uns zu verständigen.
Dann war auch Frau Friedrun da, ungewohnt elegant
in einem blauen Seidenkleid und baumelnden Perlohrringen, mit einer
Art Suppenterrine im Arm. Sie stand einige Zeit bei Herrn Theisen
und seinen älteren Gästen und kam dann zu uns ans Fenster.
»Wie geht’s Lara?«, fragte sie. »Es ist meistens
ein gutes Zeichen, wenn sich die Leute nicht bei mir melden.«
»Von Tag zu Tag besser«, sagte ich, ohne zu wissen,
ob sie mich auch verstanden hatte, denn jetzt spielte Elisa einen
Tusch auf dem Klavier und verkündete, das Büfett wäre eröffnet.
Bonnie war als Erste am Tisch, worüber alle lachten.
Nur Arne und ich blieben mit unseren Gläsern
zurück. Arne fragte: »Magst du nichts essen?«
»Doch, aber nicht jetzt, wenn alle mit ihren Gabeln
zustechen.«
Er lachte. »Ich möchte deine Käseplätzchen
probieren. Sie sehen gut aus. Hast du sie gebacken oder deine
Mutter?«
»Wir beide.« Wir standen jetzt dicht nebeneinander
am offenen Fenster und sahen in den dunklen Garten hinaus, in dem
die letzten Zikaden dieses Sommers zirpten.
»Der Garten gehört uns nicht.« Arne sagte es leise,
als antwortete er auf eine unausgesprochene Frage. »Er gehört sich
selbst und den Tieren, die darin leben. Eigentlich sind wir hier
nur Eindringlinge.«
»Es kommt darauf an, wie ihr mit ihm umgeht.«
Plötzlich wandte er sich mir zu, hob die Hand und
strich mir mit dem Zeigefinger eine Haarsträhne hinters Ohr.
»Du trägst die Ohrringe!«, sagte er leise. »Schön.
Sie passen zu dir.«
Besser als zu Ronja, dachte ich unwillkürlich.
Eigentlich hatten die Hängeohrringe mit den kleinen Opalen einst
Ronja gehört. Sie hatte sie mir geschenkt, weil sie fand, dass sie
mir besser standen als ihr. Die Ohrringe hatten ihre eigene
Geschichte. Vielleicht waren sie sogar der Grund dafür, dass ich
heute hier neben Arne stand, der Ursprung unserer Freundschaft -
denn ich hatte einen von beiden in Eulenbrooks Garten verloren, und
Arne hatte ihn gefunden. Das war am Anfang dieses Sommers
gewesen.
Jemand hatte eine neue Kassette mit Walzermusik
eingelegt. Flüchtig dachte ich, wie gut diese Musik hierher passte,
in dieses alte, versponnene Gemäuer, das plötzlich in neuem Glanz
erstrahlte.
»Ich würde gern mit dir tanzen«, sagte Arne.
»Draußen vor dem Haus. Das hab ich mir schon oft vorgestellt, dass
wir hier im Garten miteinander tanzen.«
Ein seltsames Gefühl, wie ein süßer Schauer,
durchfuhr mich wie ein kleiner Blitz. Einen Moment lang erwiderte
ich seinen Blick, ehe ich wieder aus dem Fenster sah und murmelte:
»Ich kann keinen Walzer.«
»Ich auch nicht. Versuchen wir’s trotzdem?« Ich
nickte. Gleichzeitig, wie auf ein geheimes Zeichen, nahmen wir uns
an der Hand und gingen auf die Tür zu. Lily musste uns beobachtet
haben, denn sie vertrat uns den Weg und sagte: »Ihr wollt euch doch
nicht klammheimlich verdrücken? Kommt und probiert den Hummer, er
schmeckt echt köstlich.«
»Ich esse keinen Hummer«, erwiderte Arne. »Weißt du
eigentlich, wie sie sterben? Sie werden bei lebendigem Leib in
siedendes Wasser geworfen. Es dauert ziemlich lange, bis die
Quälerei vorbei ist und sie tot sind.«
Lily schnitt eine leichte Grimasse. »Okay, dann
nimm dir was von den Früchten. Oder tun dir die auch leid?« Ihr
Blick glitt von Arnes Gesicht zu unseren ineinander verschränkten
Fingern, und ihre Augen verengten sich zu einem Spalt.
»Später«, sagte Arne. »Jetzt wollen wir
tanzen.«
»Na, dann viel Spaß!« Unvermittelt wandte sie sich
ab, und ich dachte, dass Menschen wie sie bestimmt schlechter mit
Frust umgehen konnten als andere, die nicht daran gewöhnt waren,
immer all ihre Wünsche erfüllt zu bekommen. Ihr Bruder Erik rief
etwas Unverständliches. Er stand neben Elisa und winkte mit einer
Hähnchenkeule.
Draußen ging ein leichter, warmer Wind, der in den
Bäumen raunte und die Glühlämpchen zum Schaukeln brachte, sodass
blaue, grüne und goldene Lichtpunkte über die Treppenstufen und den
Kies sprühten. Die Klänge des Kaiserwalzers drangen durch die
offene Tür und die Fenster ins Freie und erfüllten den Garten. In
aller Beschwingtheit hatten sie auch etwas Wehmütiges, wie ein
Hauch aus längst vergangenen Tagen.
Arne legte einen Arm um meinen Rücken, und wir
machten die ersten ungeschickten Schritte, lachend und ein bisschen
verlegen. Der Kies knirschte unter unseren Sohlen, bis wir die
Schuhe abstreiften und im Gras weitertanzten.
Mit einem Mal war es leicht, die richtigen
Bewegungen zu finden. Wie ein Funke sprang die Melodie auf uns über
und lenkte auf geheimnisvolle Weise unsere Schritte. Eine Art
Zauber ging von ihr aus, der uns erfasste und uns trug.
Wir drehten uns und hielten uns gegenseitig fest,
und ich spürte Arnes Gesicht an dem meinen, seine Wärme und seinen
Atem, der über meine Wange strich. Der Wind roch nach Blüten und
Pferden und dem Wasser des alten Teiches und das Gras unter unseren
Füßen war weich und kühl.
Ich hörte Arne leise lachen, als Bonnie aus dem
Haus kam und übermütig um uns herumsprang, als wollte sie mit uns
tanzen. Am liebsten hätte ich diese Minuten festgehalten und mich
ewig weiter so gedreht, doch die Musik endete viel zu früh, und wir
tanzten noch eine Weile langsam weiter, als hätte die Melodie ein
Echo in unseren Köpfen hinterlassen.
Später erinnerte ich mich noch oft daran, dass ein
Käuzchen in der Tiefe des alten Gartens schrie, als wir uns zum
ersten Mal küssten.