12
Am nächsten Morgen fiel mir ein, dass Arne nichts
über den Kaufpreis für Lara gesagt hatte.
Doch wahrscheinlich war es besser, wenn ich ihn
nicht danach fragte. Er würde sich nur Hoffnungen machen, dass ich
die Stute vielleicht doch nahm. Dabei war es völlig unmöglich. Es
war einfach nicht machbar, wie ich es auch drehte und
wendete.
Trotzdem dachte ich die ganze Zeit an Lara, die
jetzt wohl in ihrer engen Box stand, schlecht versorgt, krank und
einsam. Vielleicht lag ihr Schicksal in meiner Hand.
Wenn ich sie nicht wollte, wurde sie womöglich noch
in diesem Sommer abgeholt und zusammen mit anderen unglücklichen
Pferden in einen Lastwagen gepfercht, viele Tage und Nächte ohne
Wasser und Futter durch die Gegend gekarrt und schließlich unter
Schlägen in ein fernes Schlachthaus getrieben, falls sie nicht
schon vorher an den Strapazen der Fahrt elend zugrunde gegangen
war.
Wenn das geschah, war ich dann verantwortlich, weil
ich sie nicht gerettet hatte? Der Gedanke setzte sich in mir fest
und ließ mir keine Ruhe.
Eines wusste ich: Ronja hätte keinen Augenblick
lang überlegt. Sie hätte alle Hindernisse überwunden und es
irgendwie fertiggebracht, Lara aus ihrem Unglück
herauszuholen.
Beim Frühstück war es, als würde Ronja wie einst
neben mir sitzen und mir zuflüstern: Los doch, geh’s an! Du kannst
es schaffen, Rikke, wenn du nur willst!
Hatte Arne nicht etwas Ähnliches gesagt, gestern
beim Abschied? Bestimmt würde er enttäuscht von mir sein, wenn ich
endgültig Nein sagte. Schlimmer als diese Gewissheit aber war die
Vorstellung von Lara, der Stute, die ich doch noch gar nicht kannte
- wie sie da in ihrer Box stand, hilflos und ausgeliefert, und
wartete, was mit ihr geschehen würde.
Ich konnte wieder nichts essen und spürte den Blick
meiner Mutter, der verstohlen und ängstlich auf mir ruhte.
Plötzlich, als hätte mich jemand von hinten gestoßen, sagte
ich:
»Ich wünsch mir ein Pferd.«
Als es heraus war, wunderte ich mich über mich
selbst. Hatte ich das eben gesagt? Es war einfach so aus mir
herausgesprudelt. Selbst meine Stimme kam mir fremd vor, gepresst
und unnatürlich laut.
Mein Vater verschluckte sich am Kaffee und hustete
krampfhaft. Mama starrte mich an, als hätte ich eben verkündet,
dass ich Zwillinge erwartete.
»Wie bitte?«, murmelte sie.
»Ich wünsche mir ein Pferd, und zwar ein ganz
bestimmtes.«
Schlagartig war ich total ruhig. Es war die gleiche
Ruhe, die mich manchmal kurz vor Prüfungen überkam, eine Art
Schicksalsergebenheit. Jetzt ist es passiert, dachte ich, jetzt
muss ich da durch …
Mein Vater hielt sich die Serviette vor den Mund
und sagte undeutlich: »Ach, nur ein Pferd, weiter nichts? Nicht
vielleicht einen Sportwagen oder eine Weltreise?«
Sein Spott machte mir nichts aus. »Nein«, erwiderte
ich. »Ein Pferd, nicht mehr und nicht weniger. Und es ist keine
Spinnerei, falls du das denkst. Es ist mein voller Ernst.«
Mama starrte mich immer noch an, doch jetzt war
etwas anderes in ihrem Blick. Erleichterung vielleicht? Oder so
etwas wie Hoffnung? Möglicherweise war sie ja froh, dass ich mir
endlich wieder etwas wünschte, seit es Ronja nicht mehr gab.
»Lass Rikke doch erst mal erklären«, sagte sie zu
meinem Vater.
Er schüttelte den Kopf. »Wo willst du es halten? In
unserem Vorgarten?«
Ich sah ihm direkt in die Augen, so lange, bis er
wegschaute. »Dafür ist schon gesorgt. Ich hätte einen Stallplatz,
der nichts kostet. Und auch eine Koppel, auf der sie weiden
könnte.«
»Sie?«, fragte Mama.
»Ja, es ist eine Stute. Und sie braucht dringend
Hilfe. Wenn ich sie nicht nehme, wird sie wahrscheinlich nicht mehr
lange leben.«
»Das ist doch Unsinn!« Mein Vater wurde laut, wie
immer, wenn er unsicher war. »Weshalb sollte dieses Tier
ausgerechnet auf dich angewiesen sein? Pferde finden ihre Käufer,
wenn sie nicht gerade alt und lahm sind. Oder ist es irgend so ein
ausgedienter Droschkengaul, den keiner mehr haben will? Wer hat dir
überhaupt diese Idee eingeredet? Dein neuer Freund, dieser Junge
von Eulenbrook?«
Mama hüstelte warnend. »Wir wollen in aller Ruhe
darüber reden«, sagte sie. »Hör dir an, was Rikke zu sagen hat. So
unvernünftig ist sie nicht, dass sie sich irgendein krankes Pferd
aufhalsen würde.«
Doch, so unvernünftig war ich. Aber das würde ich
ihnen nicht sagen, sie hätten es nicht verstanden. Mein Vater stand
auf.
»Du kannst noch nicht mal richtig im Sattel sitzen
und willst schon ein Pferd. Das ist typisch für euch jungen Leute.
Tut mir leid, ich muss jetzt in den Laden. Wir unterhalten uns
heute Abend noch mal darüber. Aber ich finde wirklich, du solltest
dir das aus dem Kopf schlagen, Rikke. Auch wenn du einen Stallplatz
und eine Weide umsonst hättest, kostet es doch jeden Monat eine
Stange Geld, ein Pferd zu halten. Von deinem Taschengeld kannst du
das jedenfalls nicht bezahlen.«
Als er gegangen war, half ich meiner Mutter, den
Tisch abzudecken und das Geschirr in die Spülmaschine zu stellen.
Wir arbeiteten schweigend, bis sie schließlich sagte: »Es ist dir
sehr wichtig, nicht?«
Stumm nickte ich.
»Vielleicht finden wir ja einen Weg«, murmelte sie.
»Ich mache mir immer noch solche Vorwürfe, dass wir es damals nicht
geschafft haben, euch den Reitunterricht zu ermöglichen. Ronja
wollte es so gern.«
Ihre Stimme zitterte. Ich nahm sie in den Arm,
drückte sie an mich und streichelte ihren Rücken. So hatten wir uns
lange nicht mehr gehalten. Plötzlich wurde mir klar, dass ich mich
während der letzten beiden Jahre immer nur um mich selbst und
meinen eigenen Kummer über den Verlust meiner Schwester gekümmert
hatte. Daran, dass auch meine Eltern darunter litten, besonders
meine Mutter, hatte ich kaum jemals gedacht.
»Sie hat es verstanden«, sagte ich tröstend. »Sie
wusste doch, dass ihr euch damals dauernd mit Geldproblemen
herumgeschlagen habt.«
Dann saßen wir Arm in Arm auf dem Sofa, und ich
erzählte ihr, was ich von Arne über Lara erfahren hatte. Warum sie
keiner kaufen wollte, verschwieg ich, aber Mama ahnte sofort, was
dahintersteckte.
»Dann ist sie also krank?«
Sie hatte es erraten. Dazu gehörte wohl auch nicht
besonders viel Scharfsinn. »Sie hat keine schlimme Krankheit«,
versicherte ich. »Sie ist einfach nur total vernachlässigt.
Jahrelang hatte sie zu wenig Bewegung, steht immer nur in einer
engen Box und keiner kümmert sich richtig um sie.«
»Was für eine Krankheit ist es denn?«
Ich erklärte es ihr. Nachdenklich sagte sie: »Tiere
reagieren auf schlechte Behandlung genauso mit körperlichen Leiden
wie wir Menschen. Gerade Hautkrankheiten haben viel mit seelischen
Problemen zu tun. Wenn die Stute einen guten Platz hätte, würde sie
bestimmt wieder gesund werden. Du weißt also nicht, welchen Preis
der jetzige Besitzer für sie verlangt?«
»Nein«, erwiderte ich. »Aber ich kann es
herausfinden.«
Mama streichelte meine Hand. Im Sonnenlicht sah ich
die feinen Linien um ihre Augen, die Falten zwischen Mund und Nase.
Ihr Gesicht hatte sich verändert, wirkte älter und irgendwie
verhärmt.
Ich hörte, wie sie sagte: »Es geht ja auch um die
monatliche Belastung. Ich bin nicht sicher, ob es wirklich bei
achtzig Euro bleibt, wie dieser Arne meint. Wir wissen auch nicht,
wie hoch die Tierarztkosten wären, bis die Stute wieder ganz in
Ordnung ist.«
Darauf konnte ich keine Antwort geben. Trotzdem kam
mir die Sache schon nicht mehr so unmöglich vor, seit ich mit
meiner Mutter darüber redete.
Unvermittelt sagte sie: »Könntest du dir
vorstellen, deinem Vater gelegentlich im Laden zu helfen? Ich
glaube, er würde sich freuen, wenn du ihm das anbieten würdest. Du
bekämst natürlich den gleichen Stundenlohn wie Frau Lindner.«
Frau Lindner war unsere Aushilfskraft, die jetzt
ein Baby erwartete. »Damit könntest du dir das Geld für den
Unterhalt der Stute verdienen.« Mama überlegte. »Zehn Stunden im
Monat vielleicht - meinst du, du schaffst das neben der
Schule?«
Die Idee war gut, wieso hatte ich nicht selbst
schon daran gedacht? Allerdings war es nicht einfach, für meinen
Vater zu arbeiten. Alles musste genau nach seinem Kopf gehen.
»Ich könnte es versuchen«, erwiderte ich. »Du weißt
ja, wir kriegen leicht Stress miteinander.«
Mama nickte. »Ja, leider. Aber er ist nicht so
schwierig, wie du denkst. Eigentlich ist er unsicher, gerade dir
gegenüber. Er weiß nicht, wie er mit dir umgehen soll.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit.«
»Mit Ronja …« Sie verstummte, aber ich ahnte, was
sie sagen wollte. Mit Ronja war es anders gewesen. Sie hatte nie
Probleme mit unserem Vater gehabt. Ronja war immer sein Liebling
gewesen und hatte ihn um den Finger wickeln können, wenn sie ihn
nur anlächelte und ihm ein bisschen schmeichelte. Das konnte ich
nicht.
»Ich rede mit ihm«, versprach Mama. »Am besten erst
mal allein. Ich hole ihn nachher vom Laden ab. Einfach wird es
sicher nicht werden. Versuch, heute Abend diplomatisch zu sein, ja?
Ihr zwei geratet so leicht aneinander.«
Sie stand auf. »Möchtest du jetzt frühstücken? Du
hast doch vorher keinen Bissen gegessen.«
Ich trank eine Tasse Tee und aß ein Honigbrot. Es
schmeckte ausnahmsweise recht gut. In Gedanken war ich noch immer
bei Lara und dem Kaufpreis, von dem ich nicht wusste, wie hoch er
war.
»Wenn ich in den nächsten Jahren auf meine
Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke verzichte, könntet ihr mir
doch vielleicht das Geld leihen, das ich brauche, um Lara zu
kaufen«, sagte ich. »Und Großvater wollte mir ein neues Fahrrad
schenken. Mein altes wird aber noch einige Zeit halten. Ich könnte
ihn überreden, mir stattdessen das Geld zu geben.«
Mama sah von ihrer Einkaufsliste auf, an der sie
gerade schrieb, und lächelte ein bisschen. »Warten wir’s ab. Wir
wollen nichts überstürzen. Du darfst deinen Vater nicht unter Druck
setzen.«
Doch ich dachte, dass uns nicht viel Zeit blieb.
Tief innen spürte ich, dass die Gnadenfrist, die Lara gewährt war,
bald ablaufen würde und dass die Entscheidung rasch fallen musste.
In einer Woche konnte es schon zu spät sein.