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Ich machte Fortschritte beim Reiten. Plötzlich war
es, als hätte sich ein Knoten gelöst. Mit dem Leichttraben ging es
zunehmend besser. Ich schaffte es sogar, mich beim Galoppieren
recht ordentlich im Sattel zu halten.
»Jetzt hat’s bei dir geschnackelt!«, sagte Arne.
»Ich hab’s ja gewusst, dass du es über kurz oder lang schaffst. Wir
können bald ausreiten, Rikke.«
Der erste Ausritt war mein großes Ziel, auf das ich
seit Langem wartete. Im Grunde hatte ich keinen besonderen
reiterlichen Ehrgeiz, wollte keine Glanzleistungen vollbringen und
träumte auch nicht davon, irgendwann an einem Turnier teilzunehmen.
Mir ging es nur darum, dass ich mit Fee - und später natürlich auch
mit Lara - spazieren reiten konnte, am liebsten zusammen mit Arne:
an den Waldsee, durch die Wälder und Felder und übers Moor.
»Wann?«, fragte ich, während ich Fee
absattelte.
Er lachte. »Mal sehen. In zwei bis drei Wochen
vielleicht. Reibst du Fee trocken? Frische Strohwische liegen beim
Futterschuppen. Ich hab meinem Vater versprochen, Jago heute
wenigstens eine Viertelstunde lang zu bewegen. Und vielleicht
könnten wir später schon mal damit anfangen, ein paar von den
Pfosten einzuschlagen. Die Koppel ist ziemlich abgegrast.«
Ja, die Pferde brauchten eine frische Weide für den
Herbst. Land gab es auf Eulenbrook genug, doch wir mussten neue
Zäune ziehen, jenseits des Baches und am Waldrand entlang. Einen
Teil des alten Koppelzauns konnten wir benutzen, aber an drei
Seiten musste alles neu eingegrenzt werden. Wir wollten auch einen
Zugang zur Schutzhütte schaffen, was bedeutete, dass um sie herum
noch Pfosten eingeschlagen und Drähte gespannt werden
mussten.
»Die Drahtrollen bringt der Schreiner morgen aus
dem Baumarkt mit«, sagte Arne später, als die Pferde versorgt waren
und zufrieden an ihren Rüben kauten. »Er besorgt sowieso noch einen
Schwung Fußbodenleisten und sein Lieferwagen ist groß genug. Der
Draht ist längst bestellt. Zum Glück gab’s vor Kurzem ein
Sonderangebot. Ich hab immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich
meinen Vater um Geld bitten muss. Die Renovierungskosten fürs Haus
sind fast dreißig Prozent höher, als wir anfangs dachten, und diese
Halsabschneider von der Bank verlangen abartig hohe Zinsen für das
Geld, das sie uns geliehen haben.«
Ich dachte an meine Eltern, die für unser Haus und
den Laden jahrelang Schulden an die Bank zurückbezahlt
hatten.
»Ich versteh bloß nicht, wieso man so wenig Zinsen
kriegt, wenn man Geld auf der Bank anlegt«, sagte ich. »Kannst du
mir mal erklären, warum sie nur zwei oder drei Prozent zahlen, aber
dann das Drei- oder Vierfache verlangen, wenn man sich Geld
leiht?«
Arne schnitt eine Grimasse. »Sie verdienen einfach
an jedem einen fetten Batzen. Falls ich irgendwann zu Geld komme,
bringe ich es auf die Ökobank, die legen es wenigstens sinnvoll an,
in Windkraft oder Sonnenenergie, und stecken es nicht in die
Rüstung oder sonst irgendwelche miesen Geschäfte.«
Lara, Fee und Jago standen am Bach und
beobachteten, wie wir die ersten Pfosten für die Herbstkoppel
einschlugen. Arne hatte ein altes Kofferradio mitgebracht und legte
eine Kassette mit Händels Feuerwerksmusik ein, weil er
hoffte, sie würde uns beim Arbeiten »beflügeln«.
Es funktionierte wirklich. Die Musik war wunderbar.
Ich wurde richtig beschwingt davon und hatte das Gefühl, dass alles
um uns herum - der Wind, der in den Bäumen rauschte, die ziehenden
Wolken am Horizont, der Gesang der Vögel und das Schnauben der
Pferde - im gleichen Rhythmus mitschwang.
Elisa war mit Robin unterwegs; wahrscheinlich hatte
sie sich mit den Vandammes getroffen. Beim dritten oder vierten
Pfosten ging mir flüchtig der Gedanke durch den Sinn, dass sie
eigentlich nie da war, wenn es Arbeit gab und wenn Arne sie
gebraucht hätte.
Doch diesmal hatte ich mich getäuscht - nicht nur
in Elisa. Nachdem wir ungefähr eine Stunde lang gewerkelt hatten,
unterstützt von Feuerwerksmusik und Wassermusik, kam
Bonnie hechelnd den Abhang heruntergerannt. Hufgetrappel erklang
und Fee und Jago trabten zum Gatter hinauf und wieherten
durchdringend. Sofort erklang mehrstimmiges Gewieher als Antwort,
angeführt von Robins schriller Stimme.
Arne ließ den Hammer sinken. Wir sahen uns über den
dreizehnten Pfosten hinweg an.
»Sie hat die beiden mitgebracht!«, sagte er. »Aber
die bleiben nicht lange, wenn sie sehen, dass wir hier schuften.
Und Elisa hat versprochen mitzuhelfen.«
Jetzt erschienen sie auf der kleinen Anhöhe und
diesmal konnte ich ihnen nicht ausweichen. Elisa sattelte Robin ab
und rieb ihn trocken, während Lily und Erik hinter uns standen und
zusahen, wie wir den vierzehnten Pfosten einschlugen.
»Wie viele von der Sorte braucht ihr?«, fragte
Lily.
»So sechzig bis siebzig Stück, würde ich sagen«,
erwiderte Arne in kühlem Ton.
»Habt ihr noch einen Hammer? Ich helfe euch«, sagte
Erik.
Ich richtete mich auf und starrte ihn an. Arne
lachte leicht. »In diesen Klamotten?«, fragte er.
»Warum nicht?« Erik zog das maßgeschneiderte
Reitjackett aus und krempelte die Ärmel seines Poloshirts hoch.
Arne zuckte mit den Schultern. »Okay, wie du willst. Elisa gibt dir
einen Hammer. Die Abstände kannst du mit der Schnur abmessen, die
dort liegt.«
Dass Erik mit anpacken und sich die Hände schmutzig
machen wollte, war so ziemlich das Letzte, was ich erwartet hatte.
Noch geplätteter war ich, als auch Lily Anstalten machte
mitzuhelfen, und das alles in ihrem filmreifen Reit-Outfit.
Elisa tauchte mit dem schweren Hammer auf und Erik
ging ihr entgegen und nahm ihn ihr ab. Gemeinsam begannen die drei,
einen neuen Pfosten einzuschlagen. Sie stellten sich nicht
besonders geschickt an, aber das hatte ich anfangs auch nicht
getan.
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder!«, flüsterte
mir Arne zu.
Ich wurde den unfreundlichen Gedanken nicht los,
dass Lily nur mithalf, um Arne zu gefallen. Wahrscheinlich hätte
sie mich am liebsten weggeschubst und an meiner Stelle die Pfosten
für ihn gehalten. Trotzdem waren sie und auch ihr Bruder an diesem
Tag erstaunlich huldvoll zu mir; sie fragten mich sogar nach Lara,
als wir uns unter einen Baum setzten und Cola tranken.
»Wie sieht’s aus, wirst du sie irgendwann auch mal
reiten können?«
»Ich hoffe es«, sagte ich. »Ihre Hufe sind noch
nicht ganz in Ordnung.«
»Insgesamt macht sie jetzt aber schon einen
besseren Eindruck.«
Das kam von Erik, der sich auf den Daumen gehämmert
hatte und mir ausnahmsweise richtig menschlich vorkam. »Ich denke,
dass noch ein ganz passables Reitpferd aus ihr werden kann.«
Das grenzte aus seinem Mund bestimmt an eine
Lobeshymne. Elisa machte viel Wirbel um Eriks blau angelaufenen
Daumen. Sie wollte zum Wohnwagen gehen, um Arnikatinktur für ihn zu
holen, aber er versicherte, es wäre wirklich nicht der Rede wert.
Offensichtlich war es ihm peinlich, dass er sich so ungeschickt
angestellt hatte.
»Es gibt Schlimmeres«, sagte er in seiner etwas
gestelzten Art. »Im Frühling hat Duke mich getreten. Ich hatte
wochenlang einen dicken Klumpfuß. Der Hufabdruck sah fast wie ein
Tatoo aus und schillerte in allen Regenbogenfarben.«
Auf Lilys sahnefarbener Bluse waren Grasflecken.
Ihr Lidschatten und die Wimperntusche waren zerlaufen und bildeten
blauschwarze Ränder unter ihren Augen. Sie sah wie ein Clown aus,
aber zum ersten Mal auch lebendig und nicht so perfekt wie eine
Schaufensterpuppe.
»Wie groß soll die Koppel werden?«, fragte
sie.
Arne kraulte mit der einen Hand Bonnies Ohr und
beschrieb mit der anderen einen weiten Bogen. »Vom Bach nach Westen
bis zum Wald und dann noch um die Schutzhütte herum. Morgen wird
der Draht geliefert. Ich hoffe, dass wir’s bis Ende der Woche
geschafft haben. Die Pferde brauchen frisches Gras.«
»Sollen wir morgen wiederkommen und helfen?«
Ich traute meinen Ohren kaum. Wenn Arne überrascht
war, ließ er es sich nicht anmerken. »Klar«, sagte er. »Wenn ihr
wollt, gern. Aber bringt Arbeitshandschuhe mit, man kann sich mit
dem Draht und der Zange die Hände ziemlich ruinieren.«
Elisa nickte. »Erik kann die von Paps haben. Und
ich gebe dir mein Reservepaar, Lily.«
»Arbeitsklamotten wären auch nicht schlecht.« Arnes
Blick glitt über die hellen Reithosen der beiden, die inzwischen
nicht mehr ganz so edel aussahen, und ihre Reitstiefel, an denen
Erdklumpen und Pferdemist klebten.
»Nehmt ihr Stacheldraht?«, fragte Lily.
»Auf keinen Fall!«, sagte Elisa. »An dem Mistzeug
können sich die Pferde die schlimmsten Verletzungen holen.«
»Besonders wenn Rost an den Stacheln ist«, fügte
Arne hinzu. »Da kann schon die kleinste Wunde höllisch gefährlich
werden - nicht nur für die Pferde, auch für uns.«
Lily begann, weitschweifig von einer Großtante zu
erzählen, die einen Konsul geheiratet hatte. Der Konsul hatte mit
der Geschichte eigentlich nichts zu tun, wie sich dann
herausstellte, aber sie fand wohl, dass er sich gut machte und auf
sie und ihre Familie einen gewissen Glanz warf. Diese Großtante
hatte also einen Unfall mit einem ihrer Reitpferde gehabt. Das
Pferd war durchgegangen und in einem Stacheldraht hängen geblieben
und hatte sich die Brust aufgerissen. Die Großtante war mit beiden
Beinen in den Stacheldraht gefallen. Obwohl sie nicht schlimm
verletzt war, bekam sie eine Blutvergiftung und starb, während das
Pferd genäht wurde und sich wieder erholte.
»Sie war eine schöne Frau, ungefähr so wie Meryl
Streep in Jenseits von Afrika«, sagte Lily schwärmerisch, so
als wäre ihr Tod ein besonderes Unglück, weil sie schön gewesen
war.
»Sie ist gestorben, ehe wir geboren wurden«, fügte
Erik hinzu. »Wir kennen sie nur von Fotos. Ihr Mann hat später noch
einmal geheiratet - eine ungarische Prinzessin.«
Elisa machte ein beeindrucktes Gesicht. Verstohlen
sah ich zu Arne hinüber und merkte, dass er sich das Lachen
verbiss. Da musste ich aufpassen, dass ich nicht zu kichern anfing,
obwohl die Geschichte ja eigentlich nicht besonders lustig
war.
Die meisten Pfosten, die Elisa, Erik und Lily
einschlugen, steckten etwas schief im Boden. Trotzdem kamen wir mit
der Arbeit rascher voran, als wir geglaubt hatten. Gegen drei
hatten wir die beiden Längsseiten fertig vorbereitet, sowohl am
Bach entlang als auch über den Hügel, der ans freie Feld des
benachbarten Bauern grenzte.
Jago hatte die ganze Zeit am Gatter gestanden und
die Pferde der Vandammes beobachtet. Als ich zu meinem Fahrrad
ging, sah ich, dass er die Ohren angelegt hatte und die Zähne
bleckte, während Duke und Earl unter den Bäumen standen und dösten.
Irgendetwas an den beiden schien ihn wütend zu machen. Ich hatte
den sonst so scheuen Wallach noch nie so aggressiv erlebt.
Elisa und Arne standen noch mit Erik und Lily bei
der Schutzhütte. Im Zurückblicken sah ich, wie Lily sich gegen Arne
lehnte und ihn am Arm fasste. Erik schleuderte einen Stock über die
Koppel. Bonnie rannte hinterher, fing ihn in der Luft auf und
brachte ihn mit freudigen Sprüngen zurück.
Ich kam mir plötzlich ausgeschlossen vor.