11
Nachts träumte ich wieder von Ronja.
Ich sah sie nur von Weitem, wie hinter einem
Dunstschleier. Sie stand am jenseitigen Ufer eines Sees, und wir
waren durch das Wasser voneinander getrennt, genau wie in dem alten
Lied von den zwei Königskindern.
Ich kannte dieses Traumbild schon seit Langem. In
den ersten Wochen und Monaten nach dem Unfall hatte ich Ronja oft
so im Traum gesehen, verschwommen und fern, mit einem
unüberwindlichen Hindernis zwischen uns.
Diesmal aber war der Traum nicht wie sonst. Neben
Ronja stand, ebenso in grauen Dunst oder Nebel gehüllt wie sie, ein
Pferd. Die Umrisse der beiden verschmolzen fast ineinander, so
dicht standen sie beisammen.
Ich rief nach ihr, aber sie antwortete nicht. Um
mich her war ödes, verlassenes Land. Es gab kein Boot, mit dem ich
zu ihr rudern konnte, und der See war zu breit, um zu schwimmen.
Ich lief am Ufer entlang, lief und lief, bis ich müde wurde. Meine
Beine und Hände schmerzten, ich fühlte mich am ganzen Körper wie
zerschlagen.
Dann wachte ich auf. Meine Hände taten wirklich
weh, und meine Arme fühlten sich an, als wären sie zwischen eine
riesige Zange geraten.
Mit geschlossenen Augen lag ich da. Meine Gedanken
wanderten von Ronja zu Arne, als gäbe es eine geheime Verbindung
zwischen ihnen. Was hätte meine Schwester über Arne gedacht? Hätte
er ihr gefallen? Und hätte sie ihm gefallen?
Ronja war überall beliebt gewesen, jeder hatte sie
gemocht. Mit Arne wäre es sicher nicht anders gewesen. Eigentlich
hatte ich immer ein wenig in ihrem Schatten gestanden, aber es
hatte mir nichts ausgemacht.
Ich hatte schon einmal an dem Tisch in der Alten
Mühle gesessen, an dem Arne und ich die letzten beiden freien
Plätze fanden. Damals war ich mit Ronja und meinen Eltern zusammen
gewesen. Wir hatten den vierzigsten Geburtstag unseres Vaters
gefeiert - drei Wochen vor Ronjas Unfall.
Arne hatte Salat und Pommes bestellt. »Ich esse
keine Tiere«, sagte er, während er die Speisekarte durchsah, und
das junge Paar, das mit uns am Tisch saß, wechselte einen
erstaunten Blick.
Ich trank Unmengen Apfelsaftschorle, bis es in
meinem Bauch zu gluckern begann. Die Pommes, die Arne für mich
kommen ließ, vertilgte Bonnie bis auf drei oder vier. Trotzdem
sagte Arne nicht, dass ich mehr essen sollte, obwohl ich eigentlich
darauf wartete.
Er erzählte von sich und seinem bisherigen Leben.
»Wir waren eine ganz normale Familie«, sagte er. »Und dann ist
irgendwie alles auseinandergebrochen. Innerhalb von drei Monaten
hat sich mein ganzes Leben verändert. Meine Eltern ließen sich
scheiden, meine Mutter ging nach England und mein Vater erbte
Eulenbrook von einem uralten Großonkel, an den wir schon gar nicht
mehr gedacht hatten. Dann haben wir uns entschieden,
hierherzuziehen. Elisa war dagegen, aber mein Vater und ich haben
sie überstimmt.«
»Du wolltest es also?«
Eine Haarsträhne fiel ihm in die Stirn und er
strich sie mit einer ungeduldigen Bewegung zurück. Seine
sandfarbenen Augenbrauen trafen sich über der Nasenwurzel. Im
Sonnenlicht glänzten die goldenen Pünktchen in seinen
Pupillen.
»Ganz sicher war ich natürlich nicht. Einerseits
wollte ich nicht so kurz vor dem Abi die Schule wechseln. Und ich
hatte ein paar gute Freunde, die ich nicht verlieren wollte.
Andererseits hatte ich das Gefühl, dass einfach etwas Neues
angesagt ist. Du kennst das vielleicht. Und das Großstadtleben
nervte mich schon lange. Ich wollte sowieso lieber auf dem Land
leben. Es ging ja auch um die Tiere, Bonnie und die Pferde. Sie
waren jahrelang so eingesperrt, das hat mir immer leidgetan
…«
Mit einem Mal wusste ich, dass ich ihm Eulenbrook
gönnte, ihm und den Tieren. Bei Elisa war ich nicht so sicher und
seinen Vater kannte ich ja noch nicht. Doch das Haus, das immer
mehr verfallen war, würde jetzt bald wieder voller Leben sein und
den Zweck erfüllen, für den es bestimmt war.
Irgendwann fragte mich Arne, ob ich gern hier lebte
und ob ich Freunde hätte. Es wäre eine Gelegenheit gewesen, ihm von
Ronja zu erzählen, doch ich mochte nicht darüber reden - noch
nicht. So gab ich eine ausweichende Antwort, und er streifte mich
mit einem forschenden Blick, stellte aber keine weiteren Fragen.
Kurz darauf sagte er das mit dem Pferd:
»Rikke, ich wüsste ein Pferd für dich.«
Ich dachte, ich hätte mich verhört. »Was hast du
gesagt?«
Er schob seinen Teller zurück, stützte einen
Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Handfläche. Seine
Augen wirkten plötzlich traurig.
»Das ist eine lange, ziemlich düstere Geschichte.«
Er senkte die Stimme, wohl, damit die Leute an unserem Tisch nicht
mithören konnten. »In dem Reitstall, in dem wir Fee, Robin und Jago
untergestellt hatten, ist auch eine Stute, die ihr ganzes Leben
lang nur herumgeschubst wurde. Sie hatte in der Zeit, als unsere
Pferde dort waren, drei oder vier verschiedene Besitzer. Manche
Pferde haben dieses Schicksal, es ist wie eine Art Fluch. Keiner
will sie auf Dauer behalten, und es kümmert sich auch niemand
darum, wie der nächste Besitzer mit dem Tier umgeht. Ich hab das
nie verstehen können.«
Ich hörte Arne gern zu. Er hatte eine ruhige,
sanfte Stimme, und seine Miene drückte viel von dem aus, was er
empfand. Jetzt lag ein Schatten über seinem Gesicht.
»Lara - so heißt die Stute - erwischte es von Mal
zu Mal schlechter. Zuletzt wurde sie von einem Typen gekauft, der
sich überhaupt nicht um sie kümmerte. Warum er ein Reitpferd
wollte, hab ich nie kapiert. Sie war ein Sportgerät für ihn, nicht
mehr. Er kam nur ab und zu, ritt mit ihr aus, übergab sie wieder
dem Pferdepfleger und verschwand. Besonders gut ist er nicht mit
ihr umgegangen. Sie hatte Angst vor ihm, das war mir klar. Sonst
stand sie die ganze Zeit in ihrer engen Box, denn im Reitstall
hatte keiner Zeit, sie ins Freie zu führen. Ich hab sie ab und zu
herausgeholt, weil ich’s kaum mit ansehen konnte, wenn sie wie ein
verlassenes, eingesperrtes Kind über ihre Halbtür schaute.«
Seine Schilderung bedrückte mich. »Was ist aus ihr
geworden?«, fragte ich, als er schwieg.
»Sie wurde krank. Kein Wunder bei dem
Bewegungsmangel. Sie bekam eine Hautflechte und irgendwas ist mit
ihren Hufen nicht in Ordnung. Jetzt will der letzte Besitzer sie
loswerden, aber er findet keinen Käufer, weil sie durch ihre
Hautkrankheit nicht besonders attraktiv aussieht. Außerdem ist sie
total schreckhaft. Sie hat auch ziemlich abgenommen. Ich hab sie
nicht mehr gesehen, seit wir umgezogen sind, aber eine Freundin,
die im Reitstall eine Reitbeteiligung hat, hat mich gestern übers
Handy angerufen und mir von Lara erzählt.«
»Was ist, wenn keiner sie kauft?«
Arne biss sich auf die Unterlippe. Dann sagte er:
»Das wäre dann wohl ihr Todesurteil. Vermutlich landet sie auf
einem dieser grausamen Schlachttransporte. Ihr Besitzer möchte ein
neues, unverbrauchtes Pferd. Er hat keine Lust mehr, jeden Monat
eine Stange Geld für Laras Unterbringung und ihr Futter
hinzublättern, das hat er klar und deutlich gesagt.«
»Könnt ihr sie nicht nehmen?«
Er schüttelte den Kopf. »Das hab ich mir natürlich
auch schon überlegt. Aber mein Vater sagt, drei Pferde sind mehr
als genug. Wir haben nicht das Geld, auch noch ein viertes
durchzufüttern. Außerdem machen Pferde ja auch Arbeit, das kann man
nicht leugnen. Sie müssen geputzt, versorgt und bewegt werden, und
wenn sie krank sind, brauchen sie viel Zeit und Aufmerksamkeit -
ganz abgesehen von den Tierarztkosten.«
Wir sahen uns an. Dass Arne an mich gedacht hatte,
daran, dass ich diese arme herumgestoßene Stute nehmen könnte, die
sonst keiner haben wollte, wunderte mich und tat mir zugleich gut.
Trotzdem zeigte es auch, dass er nichts von mir und meinem Leben
wusste.
»Ich wohne mit meinen Eltern in einem Reihenhaus«,
sagte ich. »Wir haben nur einen winzigen Garten, in dem man sich
kaum umdrehen kann. Wo soll ich da ein Pferd halten? Kannst du mir
das mal erklären?«
Arne lächelte leicht. »Ganz so abgedreht, wie du
meinst, bin ich auch wieder nicht. Die wenigsten Menschen leben so,
dass sie sich ein Pferd aufs Grundstück stellen können, und heute
hat auch kaum noch jemand einen Stall. Ich hab dir das nicht
einfach so naiv vorgeschlagen. Klar hab ich mir Gedanken darüber
gemacht, wie es funktionieren könnte.« Er sah auf mein leeres Glas.
»Magst du noch was trinken?«
Wir bestellten noch Mineralwasser und Apfelsaft.
Das Paar an unserem Tisch zahlte und ging. Ich war froh, dass wir
uns ungestört unterhalten konnten. Sie hatten die ganze Zeit stumm
neben uns gesessen und die Ohren gespitzt.
»Endlich! Denen sind ja fast die Lauscher
abgefallen«, sagte auch Arne. »Also, Lara könnte natürlich bei uns
auf der Weide stehen. Wir würden sie auch in unserem Stall
unterbringen. In Eulenbrook wäre Platz genug für zehn Pferde, das
weißt du ja.«
Natürlich, ich kannte den alten Stall, erinnerte
mich an die schönen, geräumigen Boxen mit den halbhohen
Trennwänden, die unterteilten Fenster, das Pflaster auf der
Stallgasse und das gemauerte Deckengewölbe, das wie ein Kirchendach
aussah.
»Klar, dass du nichts dafür zahlen müsstest. Ich
würde dir auch helfen, sie zu versorgen, und dir alles Nötige
beibringen. Allerdings wären da immer noch die Kosten für das
Futter, den Tierarzt, die Impfungen, den Hufschmied …«
Mir war plötzlich ganz schwindlig, so als hätte ich
zu rasch zu viel Sekt oder Cidre getrunken.
»Stopp, nicht so schnell!«, murmelte ich. »Du
denkst vielleicht, dass meine Eltern im Geld schwimmen, aber das
stimmt leider nicht. Sie haben einen einfachen Fotoladen, der
gerade erst abbezahlt ist.«
Arne lehnte sich lachend zurück. »Wir sind auch
nicht reich und haben trotzdem drei Pferde. So teuer, wie die
meisten Leute denken, ist Pferdehaltung nicht, wenn man einen
eigenen Stall und Weideland hat.«
»Jetzt mal im Klartext: Wie viel kostet es
monatlich?« Noch während ich das sagte, merkte ich, dass ich damit
eine ganz konkrete Frage gestellt hatte, so als wäre ein eigenes
Pferd für mich machbar und keine völlig abwegige Sache.
Arne überlegte kurz. Dann erwiderte er: »Genau
lässt sich das nicht beantworten. Vielleicht so zwischen achtzig
und hundert Euro, wenn man alles, was so an Kosten im Laufe eines
Jahres anfällt, über die Monate verteilt. Aber ich glaube, man
könnte auch noch etwas einsparen, weil wir das Futter besonders
günstig von unserem neuen Lieferanten bekommen.«
Als er meinen erschrockenen Gesichtsausdruck sah,
schnitt er eine leichte Grimasse und fügte hinzu: »Achtzig pro
Monat, würde ich sagen.«
Ich holte tief Luft. Achtzig Euro! »Ich kriege
gerade mal halb so viel Taschengeld. Das kann ich unmöglich
aufbringen. Meine Eltern würden mir das Geld auch nicht geben, da
bin ich sicher. Tut mir leid, wir reden besser nicht mehr
davon.«
Eine Weile schwiegen wir. Dann wechselte Arne das
Thema. Wenn er enttäuscht war, ließ er es sich jedenfalls nicht
anmerken. Zehn Minuten später brachen wir auf und fuhren mit meinem
Rad zur Koppel zurück.
»Ich möchte dich echt zu nichts drängen«, sagte
Arne, als wir uns verabschiedeten. »Aber überleg es dir trotzdem
noch mal. Es gibt immer einen Weg, wenn man etwas wirklich
will.«