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Am Montag nahmen wir den ersten Bus nach
Michelsburg und von dort den Interregio.
Die Nichtraucherabteile der zweiten Klasse waren so
überfüllt, dass wir fast eine Stunde lang stehen mussten. Dann
fanden wir endlich zwei freie Plätze. Eine Viertelstunde später
stiegen wir in einen Bummelzug um, der Verspätung hatte und
ungefähr an jedem Briefkasten hielt.
Arne sah dauernd auf die Uhr. »Hoffentlich schaffen
wir’s rechtzeitig!«, sagte er. »Ich hab für zwölf einen Termin mit
Doktor Jansen vereinbart. Er wartet beim Reitstall auf uns.«
Ich hatte vor Aufregung weiche Knie. »Mein Vater
möchte, dass wir ein Attest oder so was Ähnliches mitbringen, auf
dem steht, ob Laras Krankheiten heilbar sind und wie lange sie
behandelt werden muss.«
»Ich weiß, das hast du schon gesagt. Mach dir keine
Sorgen. Wir kriegen Lara wieder hin. Wenn sie es gut hat, wird sie
sich bald erholen. Und Doktor Jansen ist echt in Ordnung; einen
besseren Tierarzt gibt es nicht.«
»Habt ihr noch mal mit Laras Besitzer telefoniert?
Kommt er auch?«, fragte ich.
»Nein, der hat heute keine Zeit. Aber er wäre
bestimmt froh, wenn er Lara endlich loswerden könnte. Wir haben
nicht über den Preis geredet. Das soll mein Vater machen, sobald du
dich entschieden hast.«
»Sobald mein Vater entschieden hat, ob ich Lara
nehmen darf«, verbesserte ich. »Und das hängt jetzt ganz davon ab,
was für ein Attest dieser Doktor Jansen schreibt.«
Zweimal blieb der Zug auf offener Strecke stehen,
ohne dass wir wussten, weshalb. Ich hätte aussteigen und ihn
anschieben mögen. Arne hatte Cola und Obst für uns beide in seinem
Rucksack, und ich dachte, dass er für einen Jungen ausgesprochen
fürsorglich war. Wir aßen Äpfel, Trauben und Bananen und wurden
beide immer nervöser, je näher wir dem Ziel unserer Reise
kamen.
»Ich dachte, der Sommer würde zum Heulen langweilig
und trübsinnig werden«, sagte ich, als wir wieder einmal an einem
winzigen Bahnhof hielten. »Und jetzt passiert so viel, dass ich’s
fast im Kopf nicht aushalte.«
Arne nickte. »Du bist ziemlich allein, wie?« In
seiner Stimme schwang ein vorsichtiger Unterton. »Hast du keine
Freunde?«
»Eigentlich nicht.« Plötzlich kam es mir wie ein
Makel vor, dass ich so eine Außenseitern war. Sicher dachte er,
dass etwas mit mir nicht stimmen konnte, weil ich keine Freunde
hatte wie alle anderen. Ich versuchte, es ihm zu erklären.
»Meine Schwester und ich - wir haben immer alles
zusammen gemacht. Früher, als sie noch lebte, brauchte ich sonst
keinen, verstehst du? Und jetzt … es ist mit niemandem so wie mit
ihr. Für Ronja gibt es keinen Ersatz.«
Sein Blick war aufmerksam, aber nicht neugierig.
»Jetzt wird mir einiges klar. Ich hab mich schon gefragt …« Er
stockte und fügte dann hinzu: »Sicher gibt es keinen Ersatz für
einen bestimmten Menschen. Trotzdem kann man neue Beziehungen und
Freundschaften aufbauen, wenn man anderen eine Chance gibt.«
Das stimmte. Ich hatte bisher nie wirklich jemandem
eine Chance gegeben, auch Isabell nicht. Nur Arne vielleicht. Er
war die Ausnahme - ausgerechnet er, obwohl ich doch entschlossen
gewesen war, weder ihn noch seine Familie zu mögen.
»Wann ist deine Schwester gestorben?«, fragte
er.
»Vor zwei Jahren.«
Ich merkte, dass er zögerte, und wusste, wenn er
jetzt weiterfragte, würde es nicht aus Sensationslust sein, sondern
aus echtem Interesse an mir und meinem Leben.
»War es ein Unfall? Du musst nicht darüber reden,
wenn du nicht willst.«
»Ronja hatte einen Fahrradunfall. Sie ist zu
schnell einen Abhang hinuntergefahren und konnte an der Kreuzung
nicht mehr rechtzeitig bremsen.« Ich schluckte. »Da kam
ausgerechnet ein Motorradfahrer daher, mit dem ist sie
zusammengestoßen.«
Eine Weile schwiegen wir. Er sagte nicht: Oh, wie
furchtbar! Oder: Tut mir leid. Das hatte ich auch nicht von ihm
erwartet. Er war anders als andere. Die meisten Leute meinten, sie
müssten ein paar passende Worte von sich geben, aus Höflichkeit
oder vielleicht aus Unsicherheit.
»War sie älter als du?«, fragte er
schließlich.
»Nein. Wir sind … wir waren Zwillinge.«
»Zwillinge! Dann seid ihr euch sicher sehr nahe
gewesen. Zwillinge sollen besonders stark verbunden sein, heißt es
immer.«
»Das schon. Aber wir waren zweieiige Zwillinge. Im
Grunde sind wir sogar total verschieden gewesen - wie Feuer und
Wasser, hat unser Großvater immer gesagt.«
»Dann bist du wohl das Wasser?« Arne sah mich an
und die Spur eines Lächelns stand in seinen Augen.
»Du hast’s erraten.«
»Das war keine besonders knifflige
Denkaufgabe.«
Arne war der Erste, mit dem ich über Ronja reden
konnte, ohne dass ich für den Rest des Tages in einer schwarzen
Wolke verschwand. Sicher hatte es auch damit zu tun, dass ich so
gespannt auf die kommenden Stunden war, auf Lara, auf Dr. Jansens
Urteil. Morgen um diese Zeit würde ich mehr wissen; morgen war ich
vielleicht schon »virtuelle Pferdebesitzerin« …
Wir kamen mit fünfundzwanzig Minuten Verspätung in
der Stadt an, in der Arne früher gelebt hatte, und mussten in
wildem Galopp ein paar Straßen entlanglaufen und zwei Kreuzungen
überqueren, um einen bestimmten Bus zu erreichen.
Ein großer, knochiger Mann mit graublonden Haaren
erwartete uns am Eingang der Reitschule. Er war fast so dünn wie
ich. Seine hellen Augen hinter der runden Brille wirkten müde und
irgendwie mutlos.
Arne entschuldigte sich, weil wir zu spät kamen,
aber Dr. Jansen sagte, das wäre nicht so dramatisch.
»Ihr könnt nichts dafür, dass die Bahn ihren
Zeitplan nicht einhält. Immerhin seid ihr mehr als drei Stunden
gefahren und ich habe mit dem Auto nur zwanzig Minuten bis hierher
gebraucht.«
Ich mochte ihn sofort. Er erklärte, nicht er,
sondern einer seiner Kollegen hätte Lara behandelt; und im letzten
Vierteljahr wäre sie überhaupt nicht mehr tierärztlich versorgt
worden.
»Der Besitzer hatte wohl kein Interesse mehr an
ihr«, sagte er. »Ich kenne ihn flüchtig, er ist ein Mensch, dem man
kein Tier anvertrauen dürfte. Aber das trifft auf viele zu, und
leider gibt es keine Instanz, die darüber entscheidet, ob ein
Mensch Tiere halten darf oder nicht.«
Wir gingen durch eine Seitentür und kamen an einer
verglasten Wand vorbei, hinter der zehn oder zwölf Ponys mit
Kindern auf dem Rücken im Kreis trabten. Es roch durchdringend nach
Pferdedung, nach Leder und feuchten Wolldecken.
Ich versuchte, Dr. Jansen zu erklären, dass mein
Vater sich absichern wollte und dass er ein Attest über Laras
Gesundheitszustand verlangte.
»Das ist durchaus verständlich«, sagte Dr. Jansen.
»Kaum jemand nimmt ein Pferd nur aus Tierschutzgründen zu sich.
Dein Vater will eben nicht die Katze im Sack kaufen.«
Durch eine Hintertür kamen wir auf einen großen,
gepflasterten Hofplatz, wo mehrere junge Leute mit Pferden standen.
Sofort kamen drei von den Mädchen auf uns zugestürmt. Sie umringten
Arne und redeten wild auf ihn ein. Ich merkte, dass sie sich echt
freuten, ihn wiederzusehen.
Eines der Mädchen umarmte ihn und klammerte sich an
ihm fest. Sie war klein und dunkelhaarig und hatte ein rundes braun
gebranntes Gesicht. So wie sie Arne ansah, hätte ich schwören
können, dass sie in ihn verliebt war.
Dr. Jansen war schon weitergegangen. Ich zögerte
einen Augenblick, unschlüssig, ob ich warten oder ihm folgen
sollte; da sagte Arne rasch: »Ich muss jetzt weiter, wir sehen uns
später noch. Das ist übrigens Rikke. Sie interessiert sich für
Lara. Rikke, das sind Jule, Mona und Anne.«
Ich lächelte höflich und sagte Hallo. Das kleine
dunkelhaarige Mädchen, das Jule hieß, hängte sich bei Arne ein und
kam mit uns über den Hofplatz zu einem niedrigen Seitengebäude mit
mehr als einem Dutzend Halbtüren. Drei Pferde hatten ihren Kopf ins
Freie gestreckt und sahen uns mit aufmerksamen Augen
entgegen.
Es war düster hier und ein scharfer Geruch hing in
der Luft. Dieser Teil der Reitschule war von Bäumen überschattet,
hinter denen ein Hochhaus aufragte. Kein Sonnenstrahl erreichte das
Stallgebäude.
Dr. Jansen machte vor einer der Halbtüren halt und
stellte seine Tasche ab. In der Öffnung über der Tür erschien eine
schmale, leicht gebogene Nase mit weißer Blesse, die von der Stirn
bis zu den Nüstern reichte. Die Nasenspitze war rosafarben, das
Maul von samtigem Dunkelgrau, das übrige Fell fuchsrot.
Doch mehr als alles andere fesselten mich die Augen
der Stute - große, sehr dunkle Augen, fast schwarz, mit einem
Ausdruck von Trauer und tiefer Einsamkeit, den ich nie mehr
vergessen sollte.
Obwohl Dr. Jansen direkt vor der Halbtür stand,
beachtete ihn Lara nicht. Sie hatte den Hals zur Seite gedreht und
sah an seiner Schulter vorbei auf mich, als hätte sie mich
erwartet.