19
Die Gedanken an Lara ließen mich nicht schlafen. Dauernd sah ich sie vor mir, wie wir sie aus dem Anhänger holten und auf ihre Weide brachten. Sie hatte nichts fressen wollen und schließlich hatten wir den Futtereimer für sie unter einen Baum gestellt. Abends, als wir noch einmal nach ihr schauten, war das Futter noch immer unberührt gewesen.
Arne fand das nicht weiter schlimm. »Lass sie erst mal zur Ruhe kommen«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen.«
In meinem Zimmer war es heiß und stickig. Unruhig wälzte ich mich in meinem Bett von einer Seite auf die andere und stellte mir vor, wie Lara jetzt einsam auf ihrer Koppel stand. Die enge, dunkle Box des Reitstalls war wie ein Gefängnis gewesen, doch eines, das ihr vertraut war und an das sie sich längst gewöhnt hatte. Hier aber, auf Eulenbrooks Koppel, war alles neu und sicher auch beängstigend für sie.
Als die Kirchturmuhr vier schlug, hielt ich es nicht länger aus. Ich tappte zum Schrank, schlüpfte in ein dünnes Trägerkleid und schlich im Mondlicht über die Terrasse in unseren winzigen Garten. Mein Fahrrad lehnte an der Rückwand der Garage; es war nicht abgesperrt.
Der Kies knirschte unter den Reifen, unheimlich laut, wie mir schien, doch nichts rührte sich im Haus, kein Licht flammte auf. Die Straße wirkte im Mondschein wie ein silberner Strom, eingefasst von den dunklen Wällen der Hauswände. Kein Mensch begegnete mir, kein Wagen, nicht einmal der Zeitungsausträger.
Der erste helle Streifen zeigte sich am Horizont, als ich die Felder erreichte. Ich fuhr am Wäldchen vorbei, hinter dem Eulenbrook versteckt lag. Die Nacht hatte keine Abkühlung gebracht, aber hier wehte ein leichter Lufthauch durch die Bäume und strich mir wie eine weiche Berührung übers Gesicht.
Der Weg führte auf der alten Holzbrücke über den Bach. Ich hätte mich auch im Dunkeln zurechtgefunden, doch der Vollmond wirkte wie ein Scheinwerfer und ließ die Sterne verblassen. Aus dem Wäldchen kam der Schrei eines Käuzchens. Ein zweites antwortete aus der Ferne.
Robin und Jago standen irgendwo zwischen den Büschen verborgen. Nur Fee streifte über die Wiese, umflossen von überirdischem Licht. Sie blieb stehen und sah zu mir herüber, als mein Rad über den Trampelpfad holperte.
Der würzige Geruch nach Pferden und Heu hing in der Luft. Ein leises Schnauben mischte sich in die Käuzchenrufe und von irgendwoher kam das unheimliche keuchende Bellen eines Rehbocks.
Noch konnte ich Lara nicht sehen, denn sie stand auf dem rückwärtigen Teil der Koppel, der sich zum Bach hin absenkte. Ich lehnte mein Fahrrad gegen das Gatter und streichelte Fee, die gekommen war und mir ihre Nase entgegenstreckte.
Sie folgte mir ein Stück am Drahtzaun entlang. Plötzlich schlug mein Herz schwer und angstvoll. Ein Gefühl von drohendem Unheil überkam mich wie eine Welle, sodass ich einen Augenblick lang stehen bleiben und tief Luft holen musste. Solche Panikattacken bekam ich manchmal und wusste inzwischen, dass sie mit Ronjas Tod zusammenhingen.
Jetzt fing ich an zu laufen, lief immer schneller, bis ich den hinteren Teil der Koppel erreichte. Das Mondlicht zauberte silberne Teiche ins Gras, doch die Büsche und Bäume wirkten schwarz und bedrohlich. Wo war Lara?
Keuchend blieb ich stehen, um das Gatter auszuhängen. Meine Stimme war heiser, als ich Laras Namen rief. Ein unterdrücktes Schnauben kam als Antwort, und mir wurde leichter ums Herz, doch nur für einen Moment, nur so lange, bis ich begriff, dass Fee mir weiter gefolgt war und auf der Nachbarkoppel stand, dicht am Zaun, silbrighell wie ein Geisterpferd.
Wenigstens die Grasbüschel waren kühl und der Boden, fest und doch weich, fühlte sich unter meinen Füßen irgendwie tröstlich an. Ich lief quer über die Wiese und rief: »Lara!«
War sie ausgebrochen? War sie in Panik geraten und hatte einen der Zaunpfähle umgestoßen? Und wenn ja, wo mochte sie jetzt herumirren? Auch Eulenbrook lag nicht am Rand der Welt. Es gab überall Straßen, ein ganzes Netz von Verkehrswegen durchzog das Land. Und gegen sieben Uhr morgens begann der Berufsverkehr …
Doch da stand sie, nicht weit vom Bachufer, ein dunkler Umriss vor dem Hintergrund der Büsche. Ein einziger Stern flimmerte hoch über ihr, der Morgenstern vielleicht.
Ich wollte zu ihr laufen. Dann erinnerte ich mich rechtzeitig daran, dass ich sie nicht erschrecken durfte. Ich blieb stehen, rief wieder ihren Namen, sanft und halblaut, da hob der große Schatten den Kopf. Einen Moment lang dachte ich, sie würde weglaufen, doch sie blieb stehen, und ich ging langsam in ihre Richtung.
Als ich ungefähr fünf Schritte von ihr entfernt war, wich sie zurück. Ich verstand die Botschaft und blieb stehen. Jetzt sah ich den Schimmer ihrer Augen, dunkler als das Grau des anbrechenden Morgens, und die leuchtende Blesse auf ihrem Nasenrücken und ihrer Stirn.
Behutsam streckte ich die rechte Hand aus und flüsterte ihr zärtliche Worte zu, ohne zu überlegen, was ich sagte. Es kam einfach so aus mir heraus, ein beruhigendes, sanftes Gemurmel. Ich versicherte ihr, dass sie glücklich bei mir sein würde, dass sie in Sicherheit war, dass sie keine Angst mehr haben musste und dass alles gut werden würde.
Und ich merkte, dass sie mir zuhörte, denn ihre Ohren waren gespitzt. So stand sie eine Weile regungslos da. Auch ich rührte mich nicht und hielt weiter die Hand nach ihr ausgestreckt.
Endlich, es erschien mir wie ein Wunder, kam sie mir mit ihrer Nase entgegen und streifte meine Fingerspitzen mit ihren weichen Nüstern.
Während ich dastand und flüsterte, während wir uns berührten, überkam mich plötzlich ein tiefes Gefühl von Glück und Vertrauen und Hoffnung. Das, was ich ihr sagte, dass alles gut werden würde, galt auch für mich, ich wusste es. Die dunkelste Zeit unseres Lebens war vorüber.