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Die Gedanken an Lara ließen mich nicht schlafen.
Dauernd sah ich sie vor mir, wie wir sie aus dem Anhänger holten
und auf ihre Weide brachten. Sie hatte nichts fressen wollen und
schließlich hatten wir den Futtereimer für sie unter einen Baum
gestellt. Abends, als wir noch einmal nach ihr schauten, war das
Futter noch immer unberührt gewesen.
Arne fand das nicht weiter schlimm. »Lass sie erst
mal zur Ruhe kommen«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen.«
In meinem Zimmer war es heiß und stickig. Unruhig
wälzte ich mich in meinem Bett von einer Seite auf die andere und
stellte mir vor, wie Lara jetzt einsam auf ihrer Koppel stand. Die
enge, dunkle Box des Reitstalls war wie ein Gefängnis gewesen, doch
eines, das ihr vertraut war und an das sie sich längst gewöhnt
hatte. Hier aber, auf Eulenbrooks Koppel, war alles neu und sicher
auch beängstigend für sie.
Als die Kirchturmuhr vier schlug, hielt ich es
nicht länger aus. Ich tappte zum Schrank, schlüpfte in ein dünnes
Trägerkleid und schlich im Mondlicht über die Terrasse in unseren
winzigen Garten. Mein Fahrrad lehnte an der Rückwand der Garage; es
war nicht abgesperrt.
Der Kies knirschte unter den Reifen, unheimlich
laut, wie mir schien, doch nichts rührte sich im Haus, kein Licht
flammte auf. Die Straße wirkte im Mondschein wie ein silberner
Strom, eingefasst von den dunklen Wällen der Hauswände. Kein Mensch
begegnete mir, kein Wagen, nicht einmal der
Zeitungsausträger.
Der erste helle Streifen zeigte sich am Horizont,
als ich die Felder erreichte. Ich fuhr am Wäldchen vorbei, hinter
dem Eulenbrook versteckt lag. Die Nacht hatte keine Abkühlung
gebracht, aber hier wehte ein leichter Lufthauch durch die Bäume
und strich mir wie eine weiche Berührung übers Gesicht.
Der Weg führte auf der alten Holzbrücke über den
Bach. Ich hätte mich auch im Dunkeln zurechtgefunden, doch der
Vollmond wirkte wie ein Scheinwerfer und ließ die Sterne
verblassen. Aus dem Wäldchen kam der Schrei eines Käuzchens. Ein
zweites antwortete aus der Ferne.
Robin und Jago standen irgendwo zwischen den
Büschen verborgen. Nur Fee streifte über die Wiese, umflossen von
überirdischem Licht. Sie blieb stehen und sah zu mir herüber, als
mein Rad über den Trampelpfad holperte.
Der würzige Geruch nach Pferden und Heu hing in der
Luft. Ein leises Schnauben mischte sich in die Käuzchenrufe und von
irgendwoher kam das unheimliche keuchende Bellen eines
Rehbocks.
Noch konnte ich Lara nicht sehen, denn sie stand
auf dem rückwärtigen Teil der Koppel, der sich zum Bach hin
absenkte. Ich lehnte mein Fahrrad gegen das Gatter und streichelte
Fee, die gekommen war und mir ihre Nase entgegenstreckte.
Sie folgte mir ein Stück am Drahtzaun entlang.
Plötzlich schlug mein Herz schwer und angstvoll. Ein Gefühl von
drohendem Unheil überkam mich wie eine Welle, sodass ich einen
Augenblick lang stehen bleiben und tief Luft holen musste. Solche
Panikattacken bekam ich manchmal und wusste inzwischen, dass sie
mit Ronjas Tod zusammenhingen.
Jetzt fing ich an zu laufen, lief immer schneller,
bis ich den hinteren Teil der Koppel erreichte. Das Mondlicht
zauberte silberne Teiche ins Gras, doch die Büsche und Bäume
wirkten schwarz und bedrohlich. Wo war Lara?
Keuchend blieb ich stehen, um das Gatter
auszuhängen. Meine Stimme war heiser, als ich Laras Namen rief. Ein
unterdrücktes Schnauben kam als Antwort, und mir wurde leichter ums
Herz, doch nur für einen Moment, nur so lange, bis ich begriff,
dass Fee mir weiter gefolgt war und auf der Nachbarkoppel stand,
dicht am Zaun, silbrighell wie ein Geisterpferd.
Wenigstens die Grasbüschel waren kühl und der
Boden, fest und doch weich, fühlte sich unter meinen Füßen
irgendwie tröstlich an. Ich lief quer über die Wiese und rief:
»Lara!«
War sie ausgebrochen? War sie in Panik geraten und
hatte einen der Zaunpfähle umgestoßen? Und wenn ja, wo mochte sie
jetzt herumirren? Auch Eulenbrook lag nicht am Rand der Welt. Es
gab überall Straßen, ein ganzes Netz von Verkehrswegen durchzog das
Land. Und gegen sieben Uhr morgens begann der Berufsverkehr …
Doch da stand sie, nicht weit vom Bachufer, ein
dunkler Umriss vor dem Hintergrund der Büsche. Ein einziger Stern
flimmerte hoch über ihr, der Morgenstern vielleicht.
Ich wollte zu ihr laufen. Dann erinnerte ich mich
rechtzeitig daran, dass ich sie nicht erschrecken durfte. Ich blieb
stehen, rief wieder ihren Namen, sanft und halblaut, da hob der
große Schatten den Kopf. Einen Moment lang dachte ich, sie würde
weglaufen, doch sie blieb stehen, und ich ging langsam in ihre
Richtung.
Als ich ungefähr fünf Schritte von ihr entfernt
war, wich sie zurück. Ich verstand die Botschaft und blieb stehen.
Jetzt sah ich den Schimmer ihrer Augen, dunkler als das Grau des
anbrechenden Morgens, und die leuchtende Blesse auf ihrem
Nasenrücken und ihrer Stirn.
Behutsam streckte ich die rechte Hand aus und
flüsterte ihr zärtliche Worte zu, ohne zu überlegen, was ich sagte.
Es kam einfach so aus mir heraus, ein beruhigendes, sanftes
Gemurmel. Ich versicherte ihr, dass sie glücklich bei mir sein
würde, dass sie in Sicherheit war, dass sie keine Angst mehr haben
musste und dass alles gut werden würde.
Und ich merkte, dass sie mir zuhörte, denn ihre
Ohren waren gespitzt. So stand sie eine Weile regungslos da. Auch
ich rührte mich nicht und hielt weiter die Hand nach ihr
ausgestreckt.
Endlich, es erschien mir wie ein Wunder, kam sie
mir mit ihrer Nase entgegen und streifte meine Fingerspitzen mit
ihren weichen Nüstern.
Während ich dastand und flüsterte, während wir uns
berührten, überkam mich plötzlich ein tiefes Gefühl von Glück und
Vertrauen und Hoffnung. Das, was ich ihr sagte, dass alles gut
werden würde, galt auch für mich, ich wusste es. Die dunkelste Zeit
unseres Lebens war vorüber.