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Ich erwachte noch früher als sonst. Mein erster
Gedanke war, dass ich diese seltsame Verabredung mit dem Jungen aus
Eulenbrook hatte, von dem ich bisher nur den Nachnamen
wusste.
Er hatte Ronjas Ohrring gefunden. Das grenzte an
ein Wunder, wenn ich mir den dschungelähnlichen Zustand des alten
Gartens vorstellte. Vielleicht war es ja ein Zeichen - aber
wofür?
Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass ich
Eulenbrook nicht wirklich verloren hatte, sondern dass sich nur
etwas änderte und verwandelte, wenn ich offen dafür war.
Um halb sechs stand ich auf, duschte und wusch mir
die Haare. Meine Haare sind das Schönste an mir, finde ich, von
Natur aus gelockt, schulterlang und glänzend wie reife Kastanien.
Sie verdeckten meinen schrecklich mageren Hals und die
Schlüsselbeine, die so hässlich hervortraten und mich immer an ein
Gerippe erinnerten, wenn ich in den Spiegel sah.
Meine Eltern schliefen noch. Ich ging in die Küche
und aß ein Knäckebrot mit etwas Butter, ausnahmsweise ohne
Widerwillen. Es schmeckte sogar ganz gut, wenn auch etwas staubig,
und hinterließ nicht dieses Gefühl in meinem Magen, als hätte ich
einen Ziegelstein geschluckt.
Dann steckte ich einen Apfel in meinen kleinen
Rucksack und radelte los. Noch war alles still; niemand begegnete
mir. Ich merkte erst, dass ein Gewitter aufzog, als ich auf den
Trampelpfad zum Waldsee abbog. Die Wolkengebirge hatten schwarze,
tiefviolette und schwefelgelbe Ränder und in der Ferne sah ich
Blitze zucken. Eine wunderliche, spannungsgeladene Stille
herrschte. Die Vögel hatten aufgehört zu singen. Der See war dunkel
wie ein Tintenklecks und glänzte geheimnisvoll.
Ich dachte: Er wird nicht kommen. Fast gegen meinen
Willen stieg Enttäuschung in mir auf. Doch vielleicht war es ja
wegen des Ohrrings, den ich so dringend wiederhaben wollte.
Sicher war es am besten, wenn ich umkehrte und nach
Hause radelte, so schnell ich konnte. Vielleicht schaffte ich es
noch vor dem Gewitter. Doch etwas in mir, das stärker war als meine
Vorsicht und Vernunft, trieb mich dazu, den Pfad bis zu der Stelle
weiterzufahren, wo ich gestern den Jungen, sein Pferd und seinen
Hund getroffen hatte.
Plötzlich fegte eine Windbö über den Wald, fuhr mit
scharfem Geraschel durch das Schilf und bog die Halme tief nach
unten. Zwei Mücken stachen mich in die Hände, ehe ich es verhindern
konnte.
Das Ufer lag verlassen im bläulich gelben Licht.
Sie waren natürlich nicht gekommen. Es war dumm von mir gewesen,
weitere fünf Minuten zu verlieren, statt mich sofort auf den
Rückweg zu machen.
Während ich wieder aufs Fahrrad stieg, lauschte ich
noch immer und bildete mir ein, Geräusche zu hören, die der Wind
mir von irgendwoher zutrug - ein schwaches Klipp-Klopp und ein
kurzes, verwehtes Bellen. Dann erklang Donnergrollen. Es wurde
rasch dunkler; Blitze zuckten über den Himmel. Jetzt war es zu
spät, um noch rechtzeitig nach Hause zu kommen, das wusste
ich.
Ich stieg vom Rad. Zwischen den Bäumen tauchte
Bonnie auf. Sie kam zu mir, sprang an mir hoch und tat, als wäre
ich eine lang vermisste Freundin. Ich hielt mit der linken Hand die
Lenkstange fest und streichelte sie mit der rechten.
Eine Windbö wirbelte mir Haarsträhnen ins Gesicht,
sodass ich für Sekunden nichts sehen konnte. Doch ich hörte den
Hufschlag jetzt ganz deutlich, und als ich mir die Haare
zurückstrich, sah ich sie kommen.
Der Gewitterwind trieb das silbrige Mähnenhaar und
den Schweif der Stute fast senkrecht in die Luft, als wäre sie
Pegasus, das geflügelte Pferd aus der griechischen Sage. Sie
näherte sich im Galopp; ich glaubte zu spüren, wie der weiche
Moorboden unter ihren Hufen zitterte.
Dicht vor mir machten sie halt. Der Junge blieb im
Sattel sitzen, beugte sich vor und fragte hastig und atemlos:
»Weißt du, wo wir uns unterstellen können? Eine
Scheune wäre gut. Hier am See ist es zu gefährlich, in der Nähe des
Wassers schlägt leicht der Blitz ein.«
Der alte Heuschober am Rand des Feuchtgebiets fiel
mir ein, in dem Ronja und ich vor Jahren eine Marderfamilie
entdeckt hatten. Ich nickte und stieg aufs Fahrrad.
»Reite hinter mir her!«, rief ich über die
Schulter. »Vielleicht schaffen wir’s noch rechtzeitig!«
Der Wind kam jetzt von Westen und war gegen mich.
Ich radelte geduckt, mit zusammengekniffenen Augen, weil jede Menge
Blätter, Zweige und Rindenstücke durch die Luft wirbelten. Bonnie
rannte neben mir her, als wäre alles nur ein wunderbares,
aufregendes Spiel.
Es war ein seltsames Gefühl, die Stute hinter mir
zu wissen, ein mächtiges Wesen, dessen Tritte den Boden
erschütterten. Jetzt zuckten überall Blitze auf und knallende
Schläge folgten. Noch hatte uns das Gewitter nicht erreicht, noch
gab es kurze Pausen zwischen den Blitzen und dem Donner.
Während ich strampelte und gegen den Wind kämpfte,
versuchte ich, mich zu erinnern, welche Abzweigung die beste war,
um auf schnellstem Weg zum Heuschober zu kommen. Wir mussten noch
ein Waldstück durchqueren. Dann kam ein Pfad zwischen Moorwiesen,
der in ein Birkengehölz mündete.
Das Gerumpel wurde von Minute zu Minute
dramatischer. Einen Moment lang schoss mir der Gedanke durch den
Kopf, das Pferd könnte plötzlich in Panik geraten und durchgehen.
Womöglich hatte der Junge es irgendwann nicht mehr im Griff und es
stürmte los und überrannte mich.
Rasch sah ich mich um und merkte, dass Pferd und
Reiter näher kamen und mich einholten. Der Junge hielt die Stute am
kurzen Zügel. Jetzt ritten sie neben mir, in einigem Abstand, aber
auf gleicher Höhe. Zwischen uns lief Bonnie.
Noch immer kam kein einziger Tropfen vom Himmel,
der wie ein schwerer dunkler Baldachin über uns hing. Ein
unheimliches Pfeifen und Sausen ging durch die Luft. Es klang, als
wäre ein Heer wilder Geister unterwegs.
Der Pfad durchs Moor war zum Glück trocken, sonst
wäre ich sicher mit dem Rad stecken geblieben. Büsche, Bäume und
die hohen Sumpfgräser bogen sich in irrem Tanz. Ein gewaltiger
greller Blitz zuckte über den Baumwipfeln des nahen Waldes auf. Ein
ohrenbetäubendes Krachen folgte.
Die Stute riss den Kopf hoch, wieherte angstvoll
und begann zu steigen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie der Junge
kämpfte, um im Sattel zu bleiben. Für einige Sekunden stand sie auf
den Hinterbeinen. Im gespenstisch bläulichen Licht sahen sie
wunderbar aus, unwirklich wie in einer Szene aus einem Fantasyfilm
- ein Pferd, das einen blonden Ritter auf seinem Rücken in die
Schlacht trägt.
Das schrille Gewieher ging im Krachen des Donners
unter. Ich radelte jetzt wie ein Weltmeister über holpriges
Gelände, Zweige und Steine zwischen den Birkenstämmen durch. Schon
prasselten die ersten schweren Tropfen wie Wurfgeschosse auf mich
nieder.
Im Schutz des Birkenwäldchens stand der alte
Holzschuppen, kaum mehr als eine krumme Bretterbude, mit grauen
Schindeln bedeckt. Eine Hälfte des Tores hing schief in den Angeln.
Ich bremste scharf, ließ das Fahrrad fallen und war mit ein paar
Sätzen im Innern der Hütte. Bonnie war an meiner Seite, raste um
mich herum und schüttelte sich heftig.
Im nächsten Moment führte der Junge die Stute
herein.
»Das war knapp!«, sagte er.
Sein Gesicht glänzte vor Nässe, seine Haare klebten
an der Stirn und den Schläfen. Er knotete die Zügel seines Pferdes
zusammen, lockerte den Sattelgurt und klopfte Fees Hals, um sie zu
beruhigen. Die Stute schnaubte und wich zur Bretterwand zurück. Ich
konnte das Weiße in ihren Augen sehen.
Ein weiterer Donnerschlag erschütterte die Hütte.
Gleichzeitig tauchte ein Blitz sekundenlang alles wie in
Scheinwerferlicht. Der Junge hatte einen Arm um den Hals seiner
Stute gelegt und redete leise auf sie ein. Bonnie drängte sich
zitternd an meine Beine.
»Das klang, als hätte es ganz in der Nähe
eingeschlagen«, sagte ich.
»Ja, wir haben echt Glück gehabt. Ich hätte gar
nicht erst losreiten sollen, aber ich dachte, die Wolken verziehen
sich wieder.«
Seine Augen funkelten, als wäre das Unwetter ein
Abenteuer für ihn. Ein Rauschen wie von starker Brandung ließ uns
aufsehen. Der Regen kam in wahren Sturzbächen vom Himmel, der Wind
trieb Gischtwolken durch die Öffnung zwischen den Torflügeln und
die Ritzen zwischen den Brettern.
Wir suchten in der hintersten Ecke der Hütte
Schutz, wo ein Holzstapel und Reste von altem Heu lagen. Draußen
waren die Regenfluten so gewaltig, dass sie wie eine
undurchdringliche weiße Wand wirkten. Es war, als wären wir in
einer Luftblase unter Wasser. Rinnsale und kleine Bäche fluteten
über den festgestampften Boden.
Doch die Gewalt des Unwetters war gebrochen. Das
Donnergrollen wurde schwächer und ferner und ging im Rauschen des
Regens unter. Die Stute senkte jetzt den Kopf und schien sich zu
entspannen, während Bonnie sich seufzend ins Heu legte.
»Wir sind noch mal davongekommen.« Der Junge lachte
leise. »Ich stell’s mir nicht gerade angenehm vor, vom Blitz
erschlagen zu werden.«
Darauf fiel mir keine Antwort ein. Eine Weile
schwiegen wir und schauten auf den Regen, der hinter dem Spalt
zwischen den Torflügeln mit unverminderter Heftigkeit vom Himmel
strömte.
»Bist du immer so schweigsam oder hat es was mit
mir zu tun?«
Sicher hielt er mich auch für eine Trantüte. Ich
hatte geglaubt, es wäre mir egal, dass jeder mich so einschätzte,
aber bei ihm machte es mir etwas aus.
»Ich rede nur, wenn ich was zu sagen habe.« Das
klang, als wollte ich mich verteidigen.
»Kein schlechter Grundsatz. Ich dachte nur, du hast
was gegen mich persönlich. Und ich bin ziemlich sicher, dass es mit
Eulenbrook zu tun hat. Für dich sind wir Eindringlinge oder liege
ich da falsch?«
Ich erwiderte nichts. Wie hätte ich es ihm auch
erklären sollen? Er sah mich kurz an, wandte dann den Blick von mir
ab und sah zu Boden. Das Regenwasser war jetzt bei uns angelangt
und lief mir in die Sandalen.
»Tut mir leid«, murmelte er, und ich wusste, dass
er nicht meine nassen Füße meinte.
»Ihr könnt nichts dafür.« Ich wunderte mich selbst,
dass ich das sagen konnte, aber es stimmte. Die Stute hatte den
Kopf vorgestreckt und schnupperte an meinem Hals. Ihre Nüstern
waren wunderbar weich und ihr warmer Atem hatte etwas
Tröstliches.
Unwillkürlich hob ich die Hand und strich mit den
Fingerspitzen über ihren Nasenrücken. Er fühlte sich wie warmer
Samt an. Plötzlich, ich hatte keine Ahnung weshalb, spürte ich,
dass mir Tränen in die Augen stiegen. Ich wandte mich ab, doch
nicht rasch genug. Der Junge hatte es schon bemerkt.
»Du liebst Tiere«, sagte er. Seine Stimme klang
sanft.
So unvermittelt, wie die Regenflut eingesetzt
hatte, endete sie auch. Die weiße Wand wurde durchsichtig, das
Rauschen ließ nach. Es nieselte nur noch und alles war in blendende
Helligkeit getaucht. Die Regentropfen blitzten wie Perlenschnüre im
Licht. Wir hätten wieder gehen können. Trotzdem standen wir noch
immer in der Hütte‚ mitten in einer großen Pfütze.
»Übrigens, ich heiße Arne.«
»Und ich Rikke.«
»Ein schöner Name; hat es was mit einem Reh zu
tun?«
»Nein«, sagte ich. »Rikke mit zwei ›K‹.«
»Trotzdem - er passt zu dir. Ist dir schon mal
aufgefallen, dass es Menschen gibt, die einem bestimmten Tier
ähnlich sehen? Du hast etwas von einem Reh, besonders deine
Augen.«
Das war das Beste, was ich seit Langem über mein
Äußeres gehört hatte. Es war ein echtes Kontrastprogramm zu all den
besorgten oder hämischen Bemerkungen über meine dünnen Arme und
Beine und mein mageres Gesicht, an die ich mich fast schon gewöhnt
hatte.
Jetzt waren wir beide verlegen. Arne griff in seine
Jeanstasche, zog ein zusammengefaltetes Papiertaschentuch heraus
und gab es mir.
Ich öffnete den kleinen Beutel aus Zellstoff.
Dazwischen lag Ronjas Ohrring. Der Opal schimmerte geheimnisvoll im
Licht.
»Es ist fast ein Wunder, dass du ihn gefunden
hast«, sagte ich leise.
»Oder vielleicht ein Zeichen.«
Ja, dachte ich, aber wofür? Mit Bonnie und Fee
verließen wir die alte Scheune. Draußen glänzte und glitzerte die
ganze Welt - die Wiesen, das Laub, der Himmel. Die Luft war voller
Düfte. In der Mulde zwischen den Baumgruppen hatte sich ein kleiner
See gebildet.
Jeder Sonnenstrahl, der zwischen den Wolkenfetzen
hervorkam, verbreitete einen fast überirdischen Glanz. Bonnie raste
zur Mulde, war mit ein paar übermütigen Sprüngen im Wasser, drehte
sich im Kreis und paddelte darin herum wie ein Biber. Mein Fahrrad
lag in einer Pfütze. Ich hob es auf; der Sattel war schwarz vor
Nässe, mein Rucksack total durchgeweicht.
Arne zog den Sattelgurt fest. »Du kannst immer nach
Eulenbrook kommen, wenn du Lust hast«, sagte er über die
Schulter.
Ich schüttelte den Kopf. Es würde nicht mehr das
Gleiche sein, das wusste ich. Auch er musste es wissen.
»Der Garten soll jedenfalls bleiben, wie er ist.
Wir finden ihn schön, so verwildert. Er ist ein guter Platz für die
wild lebenden Tiere, viel besser als die geschniegelten,
aufgeräumten Gärten und Parks.«
»Und das Haus?«, fragte ich, obwohl ich mir
vorgenommen hatte, nicht nach Eulenbrook zu fragen.
»Das Haus wird natürlich renoviert, sonst könnten
wir es nicht bewohnen. Aber mein Vater will, dass es möglichst
wieder so wird, wie es ursprünglich war. Er sagt, es ist ein sehr
schönes Jugendstilgebäude und gehört eigentlich unter
Denkmalschutz.«
Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, ob
Eulenbrook schön oder hässlich war. Wahrscheinlich war es für mich
immer das verlassene, düstere, geheimnisvolle Schloss geblieben,
das ich als Kind in ihm gesehen hatte.
Arne Theisen schwang sich mit einer Leichtigkeit in
den Sattel, die ich bewundernswert fand. Bonnie kam aus dem
Regenteich, schüttelte sich und versprühte funkelnde Tropfen. Fee,
die Stute, wich mit ein paar tänzelnden Schritten zur Seite.
»Also dann, ciao, mach’s gut!«, sagte Arne. Es
klang irgendwie zögernd.
»Tschüs, und danke für den Ohrring.«
Erst jetzt, als er losritt, fiel mir auf, dass er
weder Reithelm noch Reitstiefel trug. Ich stieg aufs Rad. Das Leder
des Sattels fühlte sich wie ein voll gesogener Schwamm an.
Der Pfad durchs Moor war total aufgeweicht; deshalb
fuhr ich in südliche Richtung, zur Landstraße. Arne folgte mir
nicht. Er hatte den Pfad eingeschlagen, den wir gekommen
waren.
Ich ertappte mich dabei, dass ich mir Sorgen
machte, er könnte sich verirren. Schließlich kannte er sich doch in
unserer Gegend noch nicht aus und wir waren Hals über Kopf vor dem
Ausbruch des Gewitters geflüchtet. Dabei war er mir bestimmt nur
gefolgt und hatte nicht auf den Weg geachtet.
Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich
umkehren und ihm nachfahren sollte. Dann fiel mir Eulenbrook wieder
ein und dass ich jetzt nie wieder dorthin konnte - auch
seinetwegen. Außerdem hätte er es vielleicht falsch verstanden,
wenn ich ihm gefolgt wäre. Er würde sich schon zurechtfinden;
schließlich war er kein kleines Kind. Und überhaupt - was ging es
mich an?