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Obwohl ich nachmittags lange in der Badewanne
gelegen hatte, tat mir am nächsten Morgen von der Hüfte abwärts
alles weh, besonders die Pobacken und die Innenseiten der
Schenkel.
Meine Eltern waren richtig froh, das sah ich ihnen
an. Sie fragten, wie der Reitunterricht gewesen sei und ob er mir
Spaß gemacht hätte. Vor allem erkundigten sie sich nach Arne
Theisen.
»Es ist kaum zu glauben, dass er kein Geld
verlangt!«, sagte mein Vater. »Besonders heutzutage, wo man für
jede Kleinigkeit zahlen muss. Hoffentlich will er nicht was anderes
von dir?«
Ich musste lachen. »Nein, du, bestimmt nicht. So
ein Typ ist er nicht.«
Er sah mich zweifelnd an. »Aber irgendwie müssen
wir uns schon revanchieren, das geht so nicht.«
»Ich helfe ihm doch mit dem Koppelzaun.«
»Trotzdem. Wenn du jetzt wirklich regelmäßig
Reitunterricht bekommst, müssen wir uns etwas überlegen.«
»Vielleicht könnte Rikke ihm etwas für die Pferde
schenken«, schlug meine Mutter vor. »Irgendein besonderes Futter
oder eine schöne Pferdedecke. Überleg doch mal, Rikke. Es muss ja
nicht sofort sein.«
Ich dachte, dass ich Arne eine größere Menge
Pferdepellets geben konnte. Vielleicht kam mir auch noch eine
andere Idee für ein Geschenk, wenn ich ihn erst besser kannte.
Außerdem hatte ich so eine Ahnung, dass das mit dem Zaun ein
ziemliches Stück Arbeit werden würde.
Und das war es auch. Nicht so sehr der neue Zaun.
Viel stressiger war es, den alten Stacheldraht zu entfernen.
Arne hatte gleich mehrere Paar Arbeitshandschuhe
besorgt. Er war schon mit einer Zange unterwegs und zwickte den
Draht in Abständen von ungefähr fünfzig Zentimetern ab.
Seine Schwester war nirgends zu sehen, aber die
drei Pferde grasten friedlich auf der Koppel, dicht bei der alten
Schutzhütte, und Bonnie sprang mir kläffend entgegen.
Arne schien sich zu freuen, als er mich kommen sah.
»Hi!«, sagte er und lächelte sein verstecktes Lächeln. »Das wird
leider eine ziemlich heftige Schufterei. Der Draht ist höllisch
stark. Überleg dir gut, ob du wirklich mitmachen willst. Es ist
echt keine angenehme Arbeit.«
Ich kniete neben Bonnie und fütterte sie mit einem
Stück Leberwurst, das ich beim Frühstück für sie eingesteckt hatte.
Sie fraß es mit begeistertem Schmatzen, versuchte, mich dann zu
küssen und mir die Hände abzulecken.
»Was ich versprochen habe, halte ich auch«,
erwiderte ich.
In der Nähe des Koppelgatters, das zum Glück aus
Holzlatten bestand, lagen mehrere große Rollen Draht, der mit
grünem Kunststoff ummantelt war. Arne gab mir Handschuhe und eine
Zange.
»Ich hab die stärksten Arbeitshandschuhe genommen,
die ich kriegen konnte«, sagte er. »Aber pass auf, die Stacheln
bohren sich durch, wenn man nicht richtig hinfasst.«
Mit der Zange versuchte ich, den alten Draht aus
den Verankerungen an den Zaunpfosten zu lösen. Es ging ganz gut,
aber ich lernte den Stacheldraht bald hassen, als ich ihn
aufrollte. Er war widerspenstig und rostig und immer wieder pikte
ich mich an den Stacheln. Es war ein richtiger Kampf. Das
Abzwicken, wie Arne es machte, hatte allerdings auch seine Tücken.
Man brauchte jede Menge Kraft, um die Zange zu handhaben.
Wir stöhnten beide abwechselnd, schwitzten und
schimpften auf die Stacheldrahtmafia. Zum Glück spendeten die Bäume
Schatten, doch da, wo die Sonne durch das Laubdach schien, wurde es
bald unerträglich heiß. Auch die Fliegen, angelockt von den
Pferden, begannen, lästig zu werden.
Nach ungefähr einer Stunde Schufterei tauchte Arnes
Schwester Elisa auf und wurde von Bonnie stürmisch begrüßt. Sie
nickte mir zu und murmelte etwas Unverständliches, kam aber nicht
in meine Nähe und gab mir auch nicht die Hand.
»Besonders weit seid ihr ja noch nicht gekommen«,
sagte sie nur.
Ich ärgerte mich, aber Arne blieb cool. »Fang erst
mal an, dann siehst du schon, ob du schneller vorwärtskommst als
wir«, erwiderte er. »Die Handschuhe und eine Zange liegen beim
Gatter.«
Robin, der Rotfuchs, trabte zu uns herüber, als er
Elisa sah. Sie streichelte ihn und rieb ihn zum Schutz gegen die
Fliegen und Bremsen mit Citronell-Öl ein. Vielleicht mochte sie
Pferde ja lieber als Menschen. Jedenfalls verhielt sie sich so.
Oder konnte es sein, dass sie mich einfach unsympathisch
fand?
Verstohlen beobachtete ich sie. Sie sah mit ihrer
gebräunten, samtig schimmernden Haut, den langen silberblonden
Haaren und der kleinen, kindlichen Nase wirklich gut aus. Nur ihre
Augen waren seltsam - ein verwaschenes Graublau, das mich an
Nebelschwaden erinnerte. Arnes Augen dagegen hatten einen warmen
Braunton mit Sprenkeln darin, die in der Sonne golden
wirkten.
Elisa fing ein ganzes Stück von uns entfernt zu
arbeiten an. Nach einer Weile hörte ich sie sagen: »Das ist echte
Sklavenarbeit. Warum lassen wir keine Handwerker kommen?«
»Weil wir dafür nicht auch noch Geld ausgeben
können«, erwiderte Arne leicht genervt. »Der Umbau des Hauses
kostet schon mehr als genug.«
Jago, der Apfelschimmel, wälzte sich in einer Mulde
unter den Erlen. Er streckte die langen, knochigen Beine in die
Luft und scheuerte seinen Rücken im Gras. Man sah ihm richtig an,
wie wohl er sich fühlte.
Bonnie wühlte in einem Maulwurfshügel. Es wurde von
Minute zu Minute heißer, selbst im Schatten der Bäume. Meine Hände
waren feucht und klebrig in den dicken Handschuhen.
Schließlich legte Arne die Zange weg, streifte
seine Handschuhe ab und sagte, er hätte Mineralwasser und kalten
Pfefferminztee mitgebracht.
Ich war froh über die Pause. Meine Handgelenke
schmerzten und einer meiner Daumen blutete. Noch hatten wir erst
knapp die Hälfte des Stacheldrahts entfernt. Arne gab mir ein
Tütchen mit einem Wundreinigungstuch, damit ich den Riss am Daumen
säubern konnte. Er hatte an alles gedacht. In seinem Rucksack waren
auch Rosinenbrötchen und Butterbrezen.
»Die Butter hab ich ganz dünn gestrichen«, sagte er
mit einem Lächeln. »Extradünn!«
Wir setzten uns ins Gras unter den Erlen. Bonnie
und die Pferde kamen, um sich ihren Anteil an den Rosinenbrötchen
zu holen, und wir verjagten die Fliegen, die den Pferden mit
bösartiger Hartnäckigkeit um die Augen schwirrten. Als wir gerade
nicht hinsahen, fraß Bonnie eine ganze Butterbreze.
Elisa trank nur Mineralwasser. Dann legte sie sich
auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss
die Augen. Ein mürrischer Ausdruck lag auf ihren ebenmäßigen
Zügen.
»Was macht der Muskelkater?«, fragte Arne.
»Es ist auszuhalten«, sagte ich.
»Möchtest du denn weitermachen?«
»Ja«, sagte ich. »Ich will’s versuchen. Wenn ich
dich nicht zu sehr nerve.«
Unvermittelt sprang Elisa auf. »Ich hab jetzt
keinen Bock mehr!«, murmelte sie. »Wenn ihr noch arbeiten wollt,
bitte.«
»Du weißt, dass das ziemlich unfair ist.« Wie immer
blieb Arne ruhig, aber ein Muskel an seiner Kinnlade zuckte und
verriet mir, dass er sich einfach nur zusammennahm.
Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu und
schüttelte ihr Haar mit einer selbstbewussten Bewegung zurück,
lässig wie ein Model bei einem Fototermin.
»Dafür versorge ich abends die Pferde und putze
sie.«
»Danke, aber um Fee brauchst du dich nicht zu
kümmern. Das mach ich lieber selbst.«
Elisa zuckte mit den Schultern. »Auch recht. Ich
reite jetzt mit Robin zum See. Wie ich diese Affenhitze
hasse!«
Arne gab keine Antwort. Ich trank meinen letzten
Schluck Tee und beobachtete, wie Elisa ihren Rotfuchs über die
Koppel führte. Mit hängendem Kopf trottete er neben ihr her.
Wahrscheinlich wäre er lieber bei den anderen Pferden geblieben und
hätte im Schatten gedöst. Auch Bonnie schien keine Lust auf einen
Spaziergang zu haben. Obwohl Elisa nach ihr rief, blieb sie bei uns
liegen, den Kopf auf den Vorderpfoten, und verdaute die
Breze.
Später gingen Arne und ich zum Bach am anderen Ende
der Koppel. Es war ein kleiner Nebenarm unseres Wildbachs, dessen
Quelle irgendwo in den nahen Bergen entsprang. Im Sommer führte der
Bach nur wenig Wasser, doch er war immer klar und ziemlich kalt,
sogar jetzt.
Wir wuschen unsere Gesichter, Arme und Beine und
tauchten die schmerzenden, geschwollenen Hände lange ins Wasser.
Nach einer Weile erschien auch Fee am Bach, um zu trinken, und mit
ihr der Apfelschimmel Jago, der Arnes Vater gehörte. Er war ein
schwerer, knochiger Wallach, ziemlich schreckhaft und total auf
Arnes Vater fixiert, wie Arne erzählte.
»Jago würde schon nicht mehr leben, wenn wir ihn
nicht gekauft hätten«, sagte er. »Er leidet an Hufrollenentzündung,
einer chronischen Entzündung des Hufgelenks, und kann kaum noch
geritten werden. Seine frühere Besitzerin wollte ihn unbedingt
loswerden. Sie hatte ihn schon halbwegs einem Händler versprochen,
der in unserer Gegend Pferde aufkaufte und zum Schlachten nach
Frankreich brachte. Irgendwie kommt es mir so vor, als hätte Jago
begriffen, dass mein Vater ihn gerettet hat. Er hängt unheimlich an
ihm, mehr, als ich das je bei einem Pferd erlebt habe.«
Mir gegenüber war Jago total misstrauisch. Er kam
nicht in meine Nähe und beobachtete mich argwöhnisch, ehe er den
Kopf senkte und trank. Fee dagegen platschte dicht neben mir im
Wasser herum, schnaubte und prustete und scharrte spielerisch mit
dem Vorderhuf zwischen den Steinen.
Bonnie hatte sich flach in eine Vertiefung gelegt,
die wie ein kleiner Teich zwischen Baumwurzeln entstanden
war.
»Sie ist total verrückt aufs Wasser«, sagte Arne.
»Ich hab überlegt, ob ich den Bach irgendwo stauen könnte, damit
sich eine Art Weiher bildet. Im nächsten Sommer vielleicht.«
Wir beschlossen, uns heute nicht länger mit dem
Stacheldraht abzuplagen, sondern stattdessen den neuen grünen Draht
zwischen die Pfosten zu spannen. Das ging vergleichsweise leicht,
auch wenn der Draht immer wieder ringförmig in seine ursprüngliche
Form zurückschnellen wollte. Wir befestigten ihn an den alten
Haken, die noch in den Zaunpfosten steckten.
Mittlerweile fühlten sich meine Hände richtig taub
an, aber ich hielt durch. Die Koppel musste eingezäunt sein, damit
die Pferde dort unbeaufsichtigt weiden konnten, das wusste ich; und
ich wollte Arne nicht mit dem Rest der Arbeit alleinlassen.
Am späten Nachmittag war eine Hälfte der Weide mit
Stacheldraht und die andere mit einfachem grünem Draht umfriedet.
Wir waren beide total geschafft.
»Mann!«, sagte Arne und streckte sich. »So hab ich
schon lange nicht mehr geschuftet. Und du hast mit durchgehalten!
Sicher bist du fix und fertig.«
»Es geht so. Aber irgendwie spüre ich meine Hände
nicht mehr.«
Die Bewunderung in seinen Augen tat mir gut.
»Gibt’s hier irgendwo in der Nähe eine Gartenwirtschaft?«, fragte
er.
Ich nickte. »Die Alte Mühle. Aber da wird jetzt
unheimlich viel Betrieb sein.«
»Wir finden schon einen Platz. Kommst du mit? Wir
trinken was und essen eine Kleinigkeit. Ich lade dich ein.«
Ich hatte keinen Hunger, aber umso mehr Durst. Wir
gingen noch einmal zum Bach, wateten darin herum und wuschen uns,
so gut es ging.
Arne füllte seine Mineralwasserflasche und goss
sich das Wasser über den Kopf. Er sah nett aus, wie er dastand und
lachte, während ihm das Wasser übers Gesicht lief.
Bonnie verfolgte eine Libelle, und als Arne ins
Gebüsch verschwand, um zu pinkeln, wie er locker verkündete, zog
ich rasch mein T-Shirt aus und wusch meinen verschwitzten
Oberkörper.
Abends lag ich lange wach im Bett und sah mich
selbst hinter Arne auf dem Gepäckträger meines Fahrrads sitzen und
auf gewundenen Wegen durch die Felder und den Wald radeln, den
warmen Sommerwind im Gesicht, während Bonnie glücklich neben uns
herrannte.
Doch mehr als alles andere war mir in Erinnerung
geblieben, was Arne im Gasthof zur Alten Mühle zu mir gesagt hatte:
»Rikke, ich wüsste ein Pferd für dich.«