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Eulenbrook lag außerhalb unseres Städtchens. Von
der Landstraße aus konnte man es nicht sehen, denn ein Erlengehölz
verdeckte den Blick auf die Gartenmauern und das graue Dach mit den
drei Kaminen.
Während des Zweiten Weltkriegs, hatte mein
Großvater erzählt, waren plündernde Soldaten daran vorbeigezogen
und hatten den Gutshof einfach übersehen, obwohl sie sonst jedes
Haus nach Nahrungsmitteln und Wertgegenständen durchsucht
hatten.
Ich überquerte den Bach auf der kleinen Brücke und
radelte durch das Wäldchen, in dem Wildtauben gurrten. Was sollte
ich machen, wenn sie wieder da waren? Um festzustellen, ob ihr
Wagen in der Auffahrt stand, musste ich bis fast zum Haus gehen.
Doch wenn Bonnie, der Hund, mich hörte oder witterte, konnte es
passieren, dass alles so ähnlich ablief wie gestern. Ich wollte dem
Jungen auf keinen Fall ein zweites Mal begegnen.
Während ich durch das Loch in der Gartenmauer
schlüpfte, lauschte ich angestrengt, bereit, beim geringsten
ungewohnten Geräusch umzukehren und mich aufs Fahrrad zu
schwingen.
In einem Punkt war ich ihnen jedenfalls überlegen:
Ich kannte mich hier aus, kannte jedes Versteck, jeden Pfad im
Wäldchen und in Eulenbrooks Garten. In Wahrheit waren sie die
Eindringlinge und ich gehörte hierher. So sah ich es damals.
Auch hier gurrten Wildtauben. Ein Frosch quakte
eindringlich, Grillen zirpten. In den Blättern raschelte sacht der
Wind. Sonst war es wie immer still.
Ich fühlte mich plötzlich wieder sicher, während
ich mir einen Weg durchs Gebüsch bahnte und über zertretenes Gras
und geknickte Efeuranken meinen Spuren vom vergangenen Tag
folgte.
Ich hoffte auf die hohle Weide. Vielleicht hatte
ich Ronjas Ohrring dort verloren. Ein seltsamer Geruch hing in der
Luft, der neu war und den ich noch nicht einordnen konnte.
Noch ehe ich die Weide erreichte, hörte ich das
Gewieher.
Sie waren wieder da und sie hatten Pferde
mitgebracht. Das wusste ich, noch ehe ich durch die Zweige der
Buchsbaumhecke spähte und sie vor dem Haus stehen sah. Vor Neugier
und Überraschung vergaß ich, dass ich eigentlich weglaufen
wollte.
Sie waren zu dritt: der blonde Junge, ein großer,
ziemlich dünner Mann und eine Frau, die Shorts trug und lange
braune Beine hatte. Hinter dem schwarzen Auto parkte ein Lastwagen
mit heruntergelassener Laderampe, über die der Mann gerade ein
Pferd führte.
Ein zweites Pferd, ein Apfelschimmel, stand im
hohen Gras am Rand der Auffahrt. Der Junge hielt es am Zügel. Neben
ihm lag die Hündin, die Bonnie hieß, und nagte an einem Stück Holz
oder einem Knochen.
Eine warnende Stimme in meinem Innern riet mir zu
verschwinden, solange sie mich noch nicht entdeckt hatten. Trotzdem
blieb ich und beobachtete, wie der Junge den Apfelschimmel
streichelte, der heftig mit dem Kopf nickte, schnaubte und mit dem
Vorderhuf scharrte.
Es gefiel mir, wie er mit dem Pferd umging. Seine
Bewegungen wirkten behutsam und liebevoll. Wenn wir uns anderswo
begegnet wären, nicht gerade hier in Eulenbrook, hätte ich ihn
sicher gemocht.
Die Frau neben der Laderampe war ein Mädchen, nicht
viel älter als ich; das merkte ich, als sie sich umdrehte. Sie half
dem dünnen Mann, das zweite Pferd festzuhalten. Der Rotfuchs sah
sich um, warf den Kopf in den Nacken und machte plötzlich einen
heftigen Sprung zur Seite.
Ich hörte, wie der Mann etwas rief. Das Mädchen
rannte zu dem blonden Jungen und übernahm die Zügel des
Apfelschimmels, während er zum Lastwagen lief und dem Mann half,
den Rotfuchs zu beruhigen und über die Laderampe zu führen.
Es war ein ungewöhnlich großes, schönes Pferd. Die
Sonne brachte sein Fell zum Glänzen. Unwillkürlich bewunderte ich
seinen edlen, gebogenen Hals und die kupferrote Mähne.
Sobald es festen Boden unter seinen Hufen spürte,
war es wie verwandelt. Es tänzelte ein wenig, doch die Anspannung
wich aus seinem Körper, und es sah sich aufmerksam um, wobei sich
seine Ohren ständig bewegten.
Aus dem Innern des Lastwagens drang dumpfes
Gepolter. Sie hatten also noch ein drittes Pferd mitgebracht. Mein
Blick ging zu dem Mädchen, das den Apfelschimmel hielt. Da sah ich,
dass Bonnie aufgestanden war. Langsam begann sie, den Weg
entlangzutrotten, genau in meine Richtung.
Ich drehte mich um und rannte den Trampelpfad
zurück, über den ich gekommen war.
In meiner Panik stolperte ich über eine Wurzel,
fiel ins Gestrüpp und schrammte mir die Nase auf. Mit einer Hand
griff ich mitten in die Brennnesseln.
Es brannte höllisch, und ich hätte heulen können -
vor allem aus Wut, weil sie mich zu einem Eindringling machten und
weil ich vor ihnen flüchten musste. Sie wollten sich offensichtlich
für immer hier einnisten, mit ihrem Hund und ihren Pferden.
Erst später fragte ich mich, wie sie denn in
Eulenbrook leben wollten. Das Haus war praktisch unbewohnbar. Nur
der Stall war in gutem Zustand. Er war vor ungefähr fünf Jahren
renoviert worden, weil ein Bauer aus der Umgebung vorgehabt hatte,
seine Kühe darin unterzubringen. Dann war nichts daraus geworden
und der Stall war weiter unbenutzt geblieben.
Auf dem Heimweg fiel mir Ronjas Ohrring wieder ein.
Die einzige Chance, ihn zu finden, war verpasst. Ich konnte nicht
mehr nach Eulenbrook zurück.
Aber vielleicht war es ja richtig so, dass einer
der beiden Ohrringe irgendwo in Eulenbrooks Garten verborgen lag -
dort, wo mir Ronja während der letzten beiden Jahre am nächsten
gewesen war. Einer für sie, einer für mich.