8
Am nächsten und übernächsten Tag regnete es in
Strömen.
Ich half meinem Vater im Fotoladen, ein Regal
einzuräumen. Dann dekorierte ich das Schaufenster. Das war eine
Arbeit, die ich gern machte. Meine Eltern behaupteten auch, ich
hätte Talent dafür.
Diesmal verteilte ich einen Eimer Sand aus dem
Baumarkt in der Auslage, drapierte ein paar Muscheln und eine
Brille darauf, dazwischen ein aufgeschlagenes Buch und davor einen
von den alten Fotoapparaten, die wie kleine schwarze Ziehharmonikas
aussehen. Sie gehörte meinem Vater. Er sammelt alte Kameras.
Eigentlich war ich froh über den Regen. Ich konnte
mich einfach unter meinem Schirm verkriechen und so tun, als würde
ich niemanden sehen. Doch in diesem Fall sah ich wirklich
nichts.
Es war in der Fußgängerzone auf dem Stadtplatz vor
dem Rathaus. Ich hatte den Schirm aufgespannt und hielt ihn so tief
wie möglich über meinem Kopf. Plötzlich quietschte ganz in meiner
Nähe eine Fahrradbremse. Ich hörte ein schlitterndes Geräusch und
dann einen klappernden Aufprall.
Als ich den Schirm hob, stand Bonnie vor mir.
Hinter ihr lag ein Fahrrad. Der Radfahrer, ein Mann um die vierzig,
kauerte daneben und machte ein wütendes Gesicht.
»Kannst du nicht auf deinen Hund aufpassen!«,
schrie er mich an.
»Das ist eine Fußgängerzone«, sagte ich möglichst
cool. »Wenn hier jemand aufpassen muss, sind Sie’s.«
Jetzt tauchte Arne auf. Er trug einen Anorak mit
Kapuze und ich erkannte ihn erst auf den zweiten Blick.
»Entschuldigung«, sagte er zu dem Radfahrer. »Haben
Sie sich verletzt?« Er griff nach seinem Arm, um ihm hochzuhelfen,
doch der Mann schüttelte ihn ärgerlich ab.
»Könnt ihr euren Köter nicht an die Leine nehmen?«,
schimpfte er.
Ich bückte mich und streichelte Bonnie. Schon
standen vier sensationslüsterne Leute mit ihren Regenschirmen um
uns herum.
Arne blieb ruhig. »Mein Hund ist kein Köter«,
erwiderte er.
Ich sagte noch einmal: »Sie sind derjenige, der
aufpassen muss. Genauso gut hätte Ihnen ein Kind vors Rad laufen
können. Eine Fußgängerzone ist für Fußgänger da, wie der Name schon
sagt. Wenn Sie trotzdem hier radeln, müssen Sie eben vorsichtig
sein.«
Um uns herum erhob sich Stimmengemurmel. Eine Frau
sagte, ich hätte recht, während ein Mann meinte, Hunde gehörten an
die Leine, und zwar immer und überall.
Inzwischen hatte sich der Radfahrer aufgerafft.
Seine helle Hose war nass und voller Schmutz. Er war rot vor Wut
und Verlegenheit.
»Tiere haben auch ein Recht auf Freiheit«, sagte
Arne in seiner ruhigen Art. »Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie
dauernd an einer Leine gehen müssten?«
»Hunde sind keine Menschen!«
In mir begann es zu brodeln. »Aha. Und deshalb
haben sie auch keine Rechte in unserer Welt, wie? Nur wir Menschen
dürfen alles tun, was wir wollen. Wir dürfen die Erde zerstören und
Tiere quälen und die Luft verpesten, aber ein Hund darf nicht mal
frei herumlaufen …«
»Reiß deine Klappe nicht so weit auf, du Göre! Du
bist ja noch grün hinter den Ohren!« Der Radfahrer warf mir einen
bösen Blick zu, während er sein Rad aufrichtete.
»Und Sie haben keine Manieren.« Das kam von Arne.
Bonnie bellte. Sicher spürte sie das wütende Knistern, das in der
Luft lag. Die Leute um uns herum begannen zu diskutieren und der
Radfahrer fuhr mit zornigem Gemurmel davon.
Ich zwängte mich an einer Gruppe von Kindern vorbei
und merkte, dass Bonnie mir folgte. Als ich über die Schulter
schaute, war Arne hinter mir.
Unter dem Vordach der Sparkasse blieben wir stehen.
Arne streifte seine Kapuze zurück. Er fing einen Regentropfen mit
der Zungenspitze auf, lächelte mich an und sagte: »Danke für die
flammende Verteidigungsrede.«
»Willst du mich veralbern?«
»Nein, echt nicht. Du solltest beim Tierschutz
arbeiten!«
Bonnie rieb ihre Stirn an meinem Knie,
wahrscheinlich, um sich abzutrocknen. »Gehst du einen Tee mit mir
trinken?«, fragte Arne. »Vorausgesetzt sie lassen uns mit dem
nassen Hund irgendwo rein.«
Ich dachte an Frau Schmidt. Frau Schmidt war die
Inhaberin eines Bäckerladens mit einem winzigen schlauchähnlichen
Nebenraum, in dem es zwei Tische gab. Dort konnte man Tee oder
Kaffee trinken und Kuchen essen.
»Okay«, sagte ich. »Wir gehen zu Frau
Schmidt.«
»Wo ist das? Ich kenne mich hier noch überhaupt
nicht aus.«
»Die Bäckerei in der Gerbergasse, beim
Flüsschen.«
»Da, wo’s die guten Rosinenbrötchen gibt?«
»Haargenau.« Ich nickte.
Als wir weitergingen, wusste ich nicht, ob ich Arne
mit unter meinen Schirm lassen sollte. Doch dann hätten wir uns
einhängen müssen und das kam mir irgendwie komisch vor. Er setzte
auch seine Kapuze wieder auf, und Bonnie trottete zwischen uns und
kniff die Augen zu, weil es ihr ins Gesicht regnete.
Bei Frau Schmidt war es wie in einer Höhle, dämmrig
und gemütlich. Wie immer roch es wunderbar nach frischem Brot und
Kuchen. Einer der beiden Tische war noch frei. Frau Schmidt brachte
ein Handtuch, mit dem Arne Bonnie trocken reiben konnte.
Wir tranken Tee - Pfefferminztee für Arne,
Rotbuschtee für mich. Arne bestellte ein Rosinenbrötchen, ich eine
Butterbreze. Am Nebentisch saß ein alter Mann und las seine
Zeitung.
»Hat der Mückenstift geholfen?«, fragte Arne.
»Ja, prima, danke.«
Eine Weile saßen wir uns stumm gegenüber. Bonnie
kroch unter den Tisch und legte sich auf die Seite. Dann stellte
Frau Schmidt die Teekännchen auf den Tisch.
»Ich hab ordentlich Butter auf deine Breze
gestrichen«, sagte sie zu mir. »Du musst mehr essen, Mädel!« Und
sie warf mir einen mütterlich besorgten Blick zu, ehe sie ihre
breiten Hüften durch die Verbindungstür zum Laden zwängte.
Sie meinte es natürlich gut. Trotzdem war ich ganz
starr vor Verlegenheit und hätte mich am liebsten in Luft
aufgelöst. Arne rührte in seiner Tasse und tat, als hätte er nichts
gehört.
Unter dem Tisch stieß Bonnie einen tiefen Seufzer
aus. Unwillkürlich musste ich lachen. Es war ein Lachen, das rasch
in Weinen umschlagen konnte, wenn ich nicht aufpasste.
»Cool, dass es immer Leute gibt, die genau wissen,
was gut für einen ist«, sagte Arne und lachte ebenfalls.
Die Breze war so dick mit Butter bestrichen, dass
mir schon vom Hinsehen schlecht wurde. Ich kratzte den größten Teil
ab und gab ihn Bonnie, die an »unstillbarem Hungersyndrom« litt,
wie Arne erklärte. Draußen platschte der Regen aufs Pflaster. Der
Mann am Nebentisch raschelte mit seiner Zeitung. Arne begann, von
den drei Pferden zu erzählen, die ihm und seiner Schwester und
seinem Vater gehörten.
»Anfangs hatten wir nur Fee«, sagte er. »Meine
Mutter hat sie von meinem Vater geschenkt bekommen.«
Konnte es sein, dass Arnes Mutter gestorben war?
Ich wollte nicht direkt danach fragen, deshalb versuchte ich es auf
andere Weise. »Und jetzt gehört sie dir?«
»Ja. Meine Mutter lebt in England. Sie und mein
Vater haben sich vor einem Jahr scheiden lassen.«
Ich gab mir Mühe, an seinem Gesicht abzulesen, wie
er dazu stand. »Vermisst du sie?«
»Ziemlich. Aber ich glaube, meine Schwester leidet
am meisten unter der Trennung.«
Dann wechselte er das Thema und redete wieder von
den Pferden. Robin, der Wallach seiner Schwester, stammte aus einem
Rennstall, wo er jahrelang total überfordert worden war.
»Sie haben ihn viel zu früh in Rennen eingesetzt.
Wir sind sicher, dass sie allerhand gemeine Tricks angewandt haben,
um ihn zu Höchstleistungen zu zwingen. Jedenfalls ist er voller
Ängste und ziemlich unberechenbar. Vermutlich haben sie ihn mit
Elektroschocks und Schlägen traktiert.«
Erschrocken sah ich ihn an. »Habt ihr die Leute
angezeigt?«
»Man kann ihnen nichts beweisen. Was in solchen
Ställen passiert, dringt kaum jemals an die Öffentlichkeit; die
schotten sich total ab. Und Pferde können nicht reden. Obwohl man
sie nur richtig beobachten muss. Sie zeigen mit ihrem Verhalten
genau, ob sie gut oder schlecht behandelt worden sind. Nur sind das
natürlich keine Beweise, um jemanden anzuklagen.«
Er streifte mich mit einem Seitenblick. »Könntest
du dir vorstellen, ein Pferd zu halten?«
Eine seltsame Frage, dachte ich. »Ich kann ja nicht
mal reiten.«
»Das kann man lernen. Ich könnte es dir
beibringen.«
An seinen Augen sah ich, dass er sein Angebot ernst
meinte. Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich sagen
sollte.
»Echt? Das würdest du tun?«
»Klar, sonst hätt ich’s nicht gesagt.«
Der Mann am Nebentisch zahlte, stand auf und ging.
Arne bestellte noch ein Rosinenbrötchen. Bonnie schlief jetzt tief
und fest. Ihre Vorderpfoten zuckten, als träumte sie von der Jagd
auf Kaninchen.
»Aber … ich hab keine entsprechenden
Klamotten!«
»Es reicht, wenn du dir ein Paar Reitstiefel aus
Gummi kaufst. Und einen Reithelm. Beides ist nicht teuer. Ich reite
auch in Jeans - Wrangler sind besser als Levis, da scheuern die
Nähte nicht so. Und diese Schickimicki-Jacketts hab ich nie
getragen.«
Reiten - Ronjas Traum. Jetzt konnte er sich für
mich erfüllen, ganz von selbst. Ich brauchte nur Ja zu sagen.