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»Einer von den Zaunpfählen war umgestoßen«,
erklärte Arne. Ich merkte, dass er nach Luft rang, als wäre er sehr
schnell gelaufen. »Jago ist ausgebrochen. Irgendwas muss ihn in
Panik versetzt haben, vielleicht ein Schuss. Er hasst es, wenn
geschossen wird. Lara, Fee und Robin sind aber noch auf der
Koppel.«
»Wir müssen ihn suchen!«, sagte ich sofort.
»Ich reite gleich mit Fee los. Elisa ist schon mit
Robin unterwegs. Mein Vater hat heute Vormittag leider einen
wichtigen Geschäftstermin, den er unmöglich so kurzfristig absagen
konnte.«
Spontan fasste ich den Entschluss, die ersten
beiden Schulstunden bis zur Pause zu schwänzen und zu behaupten,
ich hätte dringend und unerwartet zum Zahnarzt gemusst.
»Ich komme auch, ich nehme das Rad und suche die
Gegend um Eulenbrook ab!«
Arne seufzte erleichtert. »Das hab ich gehofft. Zu
dritt haben wir bessere Chancen, Jago bald zu finden. Er ist so
schreckhaft, das weißt du ja. Wenn er nur nicht auf die Landstraße
läuft!«
Der gleiche Gedanke war mir auch schon gekommen.
»Wir finden ihn!«, sagte ich tröstend. »Nimmst du ein Handy
mit?«
»Ja, notier dir bitte die Nummer. Am besten wäre
es, wenn du auch eins dabeihättest, dann können wir uns
verständigen. Wenn du Jago siehst, versuch nicht, ihn einzufangen,
er gerät leicht in Panik und dreht dann vielleicht durch. Am
besten, du rufst mich sofort an und redest ihm gut zu, damit er
wenigstens nicht weiterläuft.«
Ich gab ihm die Nummer des Handys meiner Mutter.
Sie war sicher bereit, es mir zu leihen. Ich selbst hatte seit zwei
Monaten kein eigenes mehr, weil ich mir die hohen Gebühren nicht
leisten konnte.
Mein Vater saß noch am Frühstückstisch. Ich wusste,
es würde nur ein langes Palaver geben, wenn ich ihm sagte, dass ich
hinter einem Pferd herradelte, statt in die Schule zu gehen.
Deshalb machte ich meiner Mutter heimlich ein Zeichen und sie
folgte mir ins Badezimmer. Dort erzählte ich ihr in Kurzform, was
passiert war.
»Versprich, dass du vorsichtig bist!«, sagte sie.
»Dieses Pferd scheint unberechenbar zu sein. Geh kein Risiko ein!
Natürlich musst du den Theisens helfen, das ist klar. Hier hast du
das Handy, ich hab’s gestern erst aufgeladen und es ist
eingeschaltet.«
Es gelang mir, das Haus zu verlassen und
loszuradeIn, ohne dass mein Vater es merkte. Die Pferde waren
vermutlich noch nicht gefüttert worden, aber das konnten wir jetzt
nicht ändern, sie mussten bis später warten.
Wohin sollte ich fahren? Ich wusste nicht, in
welche Richtung Arne und Elisa geritten waren. Beim Wegkreuz am
Waldrand, wo der Pfad nach Eulenbrook führte, stoppte ich kurz und
versuchte, Arne übers Handy anzurufen, doch er steckte offenbar in
einem Funkloch. Alles, was ich hörte, war ein wildes Rauschen in
der Leitung.
Ich verließ mich auf mein Gefühl und radelte durchs
Moor zum Waldsee. Weil es seit Tagen nicht geregnet hatte, war der
Boden hart und trocken. So sehr ich meine Augen auch anstrengte,
ich sah keine einzige Hufspur.
Noch lag der Morgendunst über dem Moor und dem
Birkengehölz. Irgendwo rief ein Fasan und ein Falke saß mit
aufgeplustertem Gefieder in einer Birke und spähte auf mich
herunter.
Jedes Mal wenn ich an eine Weggabelung kam, zögerte
ich. Sollte ich weiter ins Moor hinein oder über einen der
Waldpfade fahren? Falls Jäger oder Wilderer unterwegs gewesen waren
und Jago durch Schüsse erschreckt hatten, kam es mir
unwahrscheinlich vor, dass er ausgerechnet in den Wald gelaufen
sein sollte. Vermutlich blieb er lieber im freien Gelände.
Jago wurde nicht oft geritten, denn er hatte
chronische Hufrollenentzündung. Ich wusste aber, dass Herr Theisen
zusammen mit Arne gelegentlich Ausritte auf Jago und Fee zum
Waldsee gemacht hatte. Der Wallach kannte also den Weg. Ich konnte
mir vorstellen, dass er lieber durch eine Gegend lief, die ihm
vertraut war, als irgendwohin ins Ungewisse.
Während ich nach ihm Ausschau hielt, ging mir seine
Geschichte durch den Sinn, eine von vielen traurigen
Pferdegeschichten; auch wenn es bei Jago ein Happy End gegeben
hatte.
Arnes Vater hatte den Wallach von einer Frau
gekauft, die ihn wegen seiner Hufrollenentzündung unbedingt
loswerden wollte. Sie hatte ihn schon halbwegs einem Händler
versprochen, der Schlachtpferde für Frankreich aufkaufte. Gerade
noch rechtzeitig war Herr Theisen auf ihn aufmerksam
geworden.
Jago war von tiefem Misstrauen gegen alle
Zweibeiner erfüllt. Die einzigen Menschen, denen er vertraute,
waren Herr Theisen, Arne und Elisa; und Arnes Vater liebte er wie
nur selten ein Pferd seinen Besitzer.
Jetzt wo sich der Sommer seinem Ende zuneigte, lag
der Waldsee in tiefem Frieden zwischen den Tannen und Kiefern.
Zerrissene Dunstschleier schwebten über dem goldbraunen Moorwasser.
Enten quakten und im Röhricht sang ein Vogel; sonst war es sehr
still.
Ich lauschte auf jedes Geräusch, spähte nach jedem
Schatten, jeder Bewegung zwischen den Bäumen. Hinter dem
Schilfgürtel, irgendwo im Waldesinnern, schimpfte ein Eichelhäher,
als wäre ein Eindringling unterwegs. Dann glaubte ich, so etwas wie
ein Schnauben zu hören, stoppte, stieg vom Rad und horchte.
In diesem Augenblick piepste das Handy in meiner
Jeanstasche. Das Geräusch durchschnitt die Stille wie ein
Paukenschlag. Hastig drückte ich auf die grüne Taste und lauschte
dabei weiter zum Wald hinüber, bis ich Arnes Stimme hörte.
Sie klang schwach und ziemlich verzerrt. »Wo bist
du?«, fragte er. »Ich hab ihn noch nicht gefunden und Elisa kann
ich nicht erreichen.«
»Ich stehe am Waldsee. Und eben dachte ich, ich
hätte ein Schnauben gehört, aber dann hast du angerufen.«
»Lass das Handy eingeschaltet, ruf nach Jago und
warte!«
Jetzt hörte ich wieder etwas. Es klang wie
gedämpftes Schnauben. Ich hielt den Atem an und dachte: Ich hab
ihn! Dann begriff ich, dass das Geräusch aus dem Handy kam.
»Das war gerade Fee«, sagte Arne undeutlich. »Aber
Jago reagiert bestimmt auf seinen Namen, wenn du ihn rufst.
Versuch’s mal.«
Ich rief: »Jago! Guter Junge! Jago, bist du hier
irgendwo?«
Dann lauschte ich wieder. Die Tierlaute um mich
her, der Schrei des Eichelhähers, das Quaken der Enten und der
Gesang des Teichrohrsängers waren verstummt. Irgendwo in der Ferne
tuckerte ein Traktor. Nichts.
Ich hob das Handy wieder ans Ohr, um Arne zu sagen,
dass ich mich getäuscht haben musste. In diesem Augenblick bemerkte
ich eine Bewegung am anderen Ende des Sees, dort, wo der
Schilfgürtel an den Wald grenzte. Ein heftiges Rascheln ging durch
die Blätter und Halme. Noch während Arnes Stimme undeutlich an mein
Ohr drang, sah ich, wie eine große Nase in den Dunstschleiern über
dem Schilf auftauchte.
Mein Herz klopfte wie verrückt. »Ich hab ihn!«,
flüsterte ich ins Handy. »Er ist da!«
»Was hast du gesagt?« Arnes Stimme klang wie vom
anderen Ende der Welt, brüchig und dünn.
»Er ist da!«, zischte ich. »Hörst du mich? Komm
sofort her!«
»Was? Du hast ihn? Ruf ihn weiter, rede mit ihm,
aber komm ihm nicht zu nahe, erschrecke ihn nicht! Ich reite jetzt
los, wart auf mich!«
»Wie weit bist du weg? Wie lange dauert es?«,
fragte ich noch, doch er hörte mich schon nicht mehr. Die
Verbindung war unterbrochen.
Jetzt durfte ich nichts Falsches tun. Es kam mir
vor, als hätte ich eine Bewährungsprobe zu bestehen. Jagos Kopf war
noch da, die weißlich graue Nase, die gescheckte Stirn inmitten
eines Dschungels aus Blättern, Zweigen und Halmen. Durch die
Dunstschleier sah er zu mir herüber. Seine Ohren bewegten sich
unablässig und verrieten seine Anspannung.
»Hey, Jago, braver Junge!« Ich gab mir Mühe, nicht
zu laut zu rufen, um ihn nicht zu erschrecken, aber doch laut
genug, dass er mich hören konnte. »Bleib, wo du bist, dir passiert
nichts. Arne und Fee kommen gleich und bringen dich nach
Hause.«
Er reckte den Hals und beobachtete mich wie eine
misstrauische Wildkatze den Jäger. Ich wagte nicht, mein Fahrrad
ins Gras zu legen, blieb wie angewurzelt stehen, ließ ihn nicht aus
den Augen und redete unaufhörlich in beruhigendem,
einschmeichelndem Ton, wobei ich ständig seinen Namen
wiederholte.
Wenn nur jetzt das Handy nicht piepst!, dachte ich.
Und wenn bloß nicht irgend so ein vertrottelter Typ durchs
Unterholz schleicht und mit dem Gewehr ballert!
Doch wir hatten Glück. Alles blieb ruhig, nur die
Enten begannen wieder zu quaken, aber das schien Jago nichts
auszumachen. Er blieb genau wie ich an der gleichen Stelle stehen,
und ich betete darum, dass Arne nicht mehr weit war und rechtzeitig
auftauchte, ehe Jago auf die Idee kam, dass er mit mir eigentlich
nichts am Hut hatte und dass es sinnlos war, am Ufer des Waldsees
zu stehen und sich über das Schilf hinweg mein Gelaber
anzuhören.
»Feiner Junge, alles ist gut, gleich kannst du
wieder auf die Koppel! Guter Jago, wieso bist du weggelaufen, was
war denn los? Wart nur noch ein bisschen, Fee und Arne sind gleich
hier …«
Drei oder vier Mücken stachen mich in die Hände,
ehe ich es verhindern konnte. Plötzlich piepste das verdammte
Handy. Blitzschnell drückte ich auf den grünen Knopf, um das
Geräusch zu unterbinden. Es war meine Mutter.
»Ist alles in Ordnung, Rikke?«, fragte sie. »Habt
ihr ihn gefunden?«
»Ja«, flüsterte ich. »Aber ich kann jetzt nicht
reden. Bis später -«
Nur für Sekunden war ich abgelenkt gewesen. Als ich
wieder aufsah, war Jagos Kopf verschwunden.
Ohne lange zu überlegen, fuhr ich am Seeufer
entlang über den Trampelpfad, der zum Wald führte. Das Klappern des
Schutzblechs kam mir wie Kanonendonner vor. Ich gab mir Mühe, ganz
langsam zu radeln, damit Jago nicht in Panik geriet, falls er
irgendwo zwischen den Bäumen stand und mich auftauchen sah.
Wieder rief ich nach ihm und im Wald gab es ein
Echo. »Jago!«, kam es leise und fern zurück, als wollte sich jemand
über mich lustig machen. Oder war es kein Echo? War es Elisa, die
irgendwo am anderen Ende des Waldes nach dem Wallach suchte?
»Jago!«, rief ich wieder, und »Jago!« schallte es
zurück, eine helle, etwas ängstlich klingende Stimme, die ich erst
jetzt als den Widerhall meiner eigenen erkannte.
Er stand zwischen den Kiefern. Das weißgraue Fell
mit den dunklen Flecken schimmerte in der Sonne, die durch die
Baumwipfel kam. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt. Sein
Blick sagte deutlicher als Worte: Komm mir bloß nicht zu
nahe!
Ich verstand die Botschaft und blieb stehen.
»Hallo, Jago«, sagte ich sanft. »Da bist du also! Hab keine Angst,
du kennst mich doch. Alles wird gut, Junge. Ich tu dir nichts
…«
Meine Stimme schien ihn zu beruhigen. Er senkte den
Kopf und schnaubte leise.
»Jetzt bleiben wir hier und warten auf Arne, du und
ich. Es dauert bestimmt nicht mehr lange. Guter Jago!«
Doch da warf er jäh den Kopf zurück und wieherte
schrill. Ich fuhr zusammen und bekam vor Schreck weiche Knie. Erst
als ich vom anderen Seeufer her ein helles, kurzes Antwortgewieher
hörte, atmete ich auf. Es war Fees Stimme.
Dann ging alles sehr schnell. Ich konnte gerade
noch rechtzeitig mit meinem Rad zur Seite ausweichen. Jago war
losgestürmt. Er galoppierte dicht an mir vorbei. Das Schilf
raschelte, Zweige knackten und der weiche Moorboden schien zu
schwanken.
Ich sah seinen silberfarbenen Schweif zwischen den
rötlichen Kiefernstämmen verschwinden und fing ziemlich hysterisch
zu kichern an.
»Rikke!« Das war Arnes Stimme. »Rikke, wo bist du?
Er ist hier, ich hab ihn! Bist du okay?«
Er stand ungefähr an der gleichen Stelle wie ich
vorher und legte Jago gerade das Halfter an, das er mitgebracht
hatte. Irgendwo im Schilf plätscherte Fee. Jago wirkte jetzt total
ruhig, während Arne ihm den Nasenriemen überstreifte.
Der Apfelschimmel zuckte nicht einmal mit den
Ohren, als ich neben den beiden vom Rad stieg.
»Ich glaube, er ist heilfroh, dass wir aufgetaucht
sind«, lächelte Arne. »Wie bist du auf die Idee gekommen, ihn hier
zu suchen?«
»Das war eine Art Eingebung.« Mein Gelächter klang
zittrig. »Hat er sich verletzt? Ich bin nicht nahe genug an ihn
herangekommen, um ihn mir genauer anzusehen.«
»Er ist in Ordnung. Und du?« Arnes Augen glitten
über mein Gesicht. Ein Leuchten war in ihnen, das mich verlegen
machte. Er streichelte Jagos Hals.
»Ich bin okay bis auf ein paar Mückenstiche. Und
morgen bin ich wahrscheinlich stockheiser, weil ich ewig auf ihn
eingeredet habe.«
»Du scheinst alles richtig gemacht zu haben. Vielen
Dank, Rikke!«
»Schon gut. Du hättest das Gleiche auch für mich
getan, wenn Lara ausgebüxt wäre.«
Ich stellte mein Fahrrad ab und holte Fee, die im
seichten Wasser stand und die Enten beobachtete. Arne schwang sich
auf ihren Rücken, ohne Jagos Halfterstrick loszulassen, und ich
bewunderte wieder einmal sein Geschick und seine
Geschmeidigkeit.
»Hoffentlich kriegst du keinen Stress in der
Schule«, sagte er noch, während er Fees Zügel aufnahm.
»Nein. Ich hatte einen akuten Anfall von
Zahnschmerzen und musste zum Zahnarzt.«
»Hast du dir schon überlegt, welcher Zahn es war,
falls dich jemand fragen sollte?«
»Ein Weisheitszahn«, sagte ich.