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Am nächsten Tag bekam ich von Arne ein Päckchen in
rotem Seidenpapier mit rosaroter Schleife. Darin waren eine Tüte
Schweizer Kräuterbonbons für Husten und Heiserkeit und ein Döschen
Tigerbalsam.
»Gegen die Mückenstiche«, sagte er. »Und mein Vater
hat vor, dich zu einem Eisbecher einzuladen.«
Zwei Tage lang gab ich Lara die weißen Kügelchen,
die Frau Friedrun mir in einem kleinen wattierten Umschlag
geschickt hatte. Lara kam mir wirklich ruhiger und weniger
ängstlich vor. Außerdem fiel mir auf, dass sie ihren geschützten
Platz zwischen den Haselnusssträuchern verließ und ganz in Fees
Nähe mitten auf der Koppel graste. Sie ließ sich nicht einmal von
Robin vertreiben, der sich als Anführer der kleinen Herde fühlte
und mehrere Versuche startete, sich zwischen die Stuten zu
drängen.
»Sie kommt mir selbstbewusster vor«, sagte Arne.
»Und irgendwie gelassener.«
»Und sie schaut munterer durch die Gegend.« Ich
wollte nur zu gern glauben, dass Frau Friedruns weiße Kügelchen
Wunder wirkten und dass sich am Samstag alle unsere Befürchtungen
in Wohlgefallen auflösen würden.
Am Samstagvormittag fiel es mir nicht gerade
leicht, mich auf die Arbeit im Fotoladen zu konzentrieren. Ich
hatte das Gefühl, dass mein Vater mich noch genauer als sonst
beobachtete, ob ich auch freundlich genug zu den Kunden war, die
richtigen Filme verkaufte und keine Fehler mit dem Wechselgeld
machte.
»Kann es sein, dass du heute irgendwie nervös
bist?«, fragte er.
»Es nervt, wenn du mich dauernd beobachtest.«
Während er in dem kleinen Studio hinter dem Vorhang
einen jungen Vater und seinen kleinen Sohn fotografierte, kam eine
Kundin und beschwerte sich über die Qualität der Fotos, die sie uns
zum Entwickeln gebracht hatte.
Ich bat sie zu warten, bis mein Vater fertig war,
doch sie sagte, sie hätte keine Zeit, ich sollte mich selbst um die
Sache kümmern und sofort bei der Firma anrufen, die den Film
entwickelt hatte.
»Bitte warten Sie ein paar Minuten«, wiederholte
ich. »Mein Vater kennt sich damit besser aus, er kann sich die
Fotos ansehen und Sie beraten. Vielleicht ist ja mit Ihrer Kamera
etwas nicht in Ordnung.«
Darauf wurde sie richtig giftig, sagte, sie wollte
nicht beraten werden, das wäre eine schlechte Bedienung und sie sei
zum letzten Mal in unserem Laden gewesen.
Mein Vater kam hinter dem Vorhang hervor, warf mir
einen vorwurfsvollen Blick zu und versuchte, die Frau zu beruhigen.
Sie wurde bei seinem Anblick auch sofort freundlicher und breitete
ihre Fotos auf dem Ladentisch aus, während der kleine Junge unter
dem Vorhang durchrobbte und mit affenartiger Geschwindigkeit ein
Tischchen umstieß, auf dem Fotorahmen standen.
Natürlich gab es Scherben und der Kleine schrie aus
vollem Hals. Während ich das Glas zusammenfegte, fühlte ich den
anklagenden Blick meines Vaters auf mir ruhen. In seinen Augen war
alles meine Schuld, obwohl ich doch wirklich nichts dafür
konnte.
Der Tag fängt ja gut an!, dachte ich. Vielleicht
ist das ein Zeichen, dass wir Laras Hufe heute besser nicht
ausschneiden sollten...
Ich überlegte ernsthaft, ob ich Frau Friedrun
anrufen und den Termin verschieben sollte, denn ich glaube an
Zeichen. Dann ergab sich aber einfach keine Gelegenheit, ans
Telefon zu gehen, ohne dass mein Vater es mitbekommen hätte; und
ich wusste, dass er es nicht leiden konnte, wenn man in seinem
Laden Privatgespräche führte. Also ließ ich es bleiben, um nicht
noch mehr in Ungnade zu fallen.
Mama hatte Quarkauflauf gemacht, als ich mittags
nach Hause kam. Sie war richtig selig, dass ich einen ganzen Teller
davon aß.
»Rikke, ich glaube, deine Essstörung ist
überwunden!«, sagte sie, umarmte mich und gab mir einen Kuss. »Lara
tut dir gut; seit du sie hast, bist du wieder mehr wie
früher.«
Ich wunderte mich selbst, dass ich an einem Tag wie
diesem solchen Appetit hatte. Noch vor Kurzem hatte ich an jedem
Bissen gewürgt, wenn ich nervös war. Ich schnitzelte Äpfel und
Karotten für die Pferde und erzählte Mama von der blöden Kundin,
dem umgestoßenen Tischchen und meiner Befürchtung, dass es heute
Nachmittag genauso bescheiden weitergehen könnte, als mein Vater
durch die Tür kam und sagte:
»Tut mir leid, dass ich vorhin im Laden so unfair
war. Du konntest schließlich nichts dafür. Die Kundin war zickig
und Herr Eberlein hätte besser auf seinen Sprössling aufpassen
sollen.«
Mama zwinkerte mir heimlich zu. Der Tag war
gerettet.
Singend fuhr ich nach Eulenbrook. Meine Stimmung
war plötzlich umgeschlagen. Nicht einmal der Anblick von Lily und
Erik konnte mich aus der Ruhe bringen.
Diesmal waren sie nicht mit den Pferden gekommen,
sondern in einem kleinen schwarzen Sportwagen. Sie hatten einen
Picknickkorb und zwei karierte Decken dabei, ganz auf die feine
englische Art, und ließen sich auf der Wiese neben der Koppel
nieder.
Elisa war bei ihnen. Bonnie schnüffelte am Korb
herum, aus dem sicher verlockende Düfte kamen. Ich machte einen
großen Bogen um sie und beschloss, irgendwo unter dem Koppelzaun
durchzukriechen. Mir war klar, dass ich nicht erwünscht war, und
ich konnte meinerseits auch gut auf ihre herablassenden Blicke
verzichten.
Während ich den Pferden Äpfel und Karotten gab,
hörte ich sie reden und lachen. Obwohl ich nicht zu ihnen
hinübersah, merkte ich, dass Arne gekommen sein musste, denn Lily
rief nach ihm.
»Hey, wir wollten dich zum Picknick einladen! Es
gibt Gänseleberpastete und Waldorfsalat und Schokoladenmousse
…«
Arnes Antwort verstand ich nicht, doch Elisas
Stimme war nicht zu überhören. »Mann, stell dich nicht so an, so
viel Zeit wirst du wohl haben! Frau Friedrun ist noch lange nicht
da …«
Ich ging ganz ans andere Ende der Koppel, um nicht
mehr mitzubekommen, was auf der Wiese passierte. Die Pferde folgten
mir, denn ich hatte noch Äpfel im Korb. Sogar Jago trottete in
einigem Abstand hinter mir her. Seit seinem Ausflug zum Waldsee
schien er etwas mehr Zutrauen zu mir gefasst zu haben.
Ich gab Lara noch einmal fünf von den weißen
Kügelchen als Vorbereitung aufs Hufeausschneiden und versuchte,
nicht darauf zu warten, dass Arne kam. Wenn er beim Picknick mit
dabei sein wollte, warum nicht? Es war ja keine weltbewegende
Sache, nichts, was mit unserer Freundschaft zu tun hatte.
Eine Viertelstunde später erschien er zusammen mit
seinem Vater und Frau Friedrun, die eine schmutzige Latzhose,
Gummistiefel und ein kariertes Hemd trug. Sie sah aus, als hätte
sie sich als Stallbursche verkleidet. Auch Herr Theisen hatte Jeans
und ein altes Poloshirt angezogen.
»Ich glaube, es ist am besten, du hältst dich etwas
abseits«, sagte er zu mir. »Das ist ja alles neu für dich, und
vielleicht würde Lara ihr Zutrauen zu dir verlieren, wenn du dabei
bist und sie gegen ihren Willen festhältst.«
Ich wusste nicht recht, ob ich erleichtert sein
oder mich darüber ärgern sollte, dass sie mir nicht zutrauten, mich
um mein eigenes Pferd zu kümmern. Frau Friedrun gab mir lächelnd
die Hand und fragte, wie das Mittel gewirkt hätte, das sie mir für
Lara geschickt hatte.
»Gut«, sagte ich. »Ich glaube, sie ist ruhiger
geworden.«
Jetzt stand Arne neben mir. »Vielleicht ist es
wirklich besser, wenn du nicht dabei bist«, sagte er auf seine
behutsame Art. »Ich helfe mit; und drei Leute sind echt genug.
Falls Lara Angst bekommt, soll sie dich nicht damit in Verbindung
bringen.«
»Und wenn sie doch betäubt werden muss?«
»Dann sagen wir dir natürlich vorher Bescheid. Wir
tun nichts ohne dein Einverständnis.«
Stumm nickte ich. Meine Kopfhaut kribbelte vor
Nervosität und ich hätte mich am liebsten irgendwo verkrochen. Was
nützte es schon, wenn sie mir die Entscheidung überließen, ob Lara
betäubt werden sollte? Ich würde doch Ja sagen müssen, ob ich
wollte oder nicht. Ihre Hufe mussten auf jeden Fall ausgeschnitten
werden.
»Es wird schon schiefgehen«, sagte Arne. »Mach dir
keine Sorgen.« Und er nahm mich für eine Sekunde in die Arme und
drückte mich an sich.
Das hatte er nie zuvor getan. Stocksteif stand ich
da, mit hängenden Armen. Erst als er sich umgedreht hatte und ging,
wurde mir klar, dass ich seine Umarmung gern erwidert hätte.
Ich wandte mich ab und ging den Abhang zum Wald
hinunter, in eine Mulde zwischen den Büschen, von der aus ich nicht
sehen konnte, was weiter oben passierte. Dort setzte ich mich ins
Gras, legte den Kopf auf die Knie und schloss die Augen.
Vom Gatter klang ein Fanfarenton herüber. Es
dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass es die Hupe des
Sportwagens sein musste. Lily und Erik fuhren also wieder los,
vielleicht zusammen mit Elisa. Ich dachte, dass sie sich ihre
blödsinnige Huperei sparen konnten. Sie beunruhigten damit nur die
Pferde, besonders Lara.
Doch es ging wohl weniger um die Pferde als darum,
dass ich die Vandammes nicht mochte. Ich wünschte, sie würden
verschwinden und nie wieder auftauchen, aber darauf brauchte ich
wohl nicht zu hoffen. Irgendwo tief in mir saß die Befürchtung, sie
könnten Arne schließlich doch auf ihre Seite ziehen und ich würde
ihn verlieren, so wie ich Ronja verloren hatte.
Natürlich ließ sich das nicht vergleichen. Ronja
und ich hatten eine ganz andere, viel tiefere Beziehung gehabt, wir
waren wie die »zwei Seiten einer Münze« gewesen; so hatte es ein
Lehrer einmal ausgedrückt.
Ich wusste nur, dass Arne gerade deshalb eine
besondere Bedeutung für mich gewonnen hatte, weil es Ronja nicht
mehr gab. Jetzt kannte ich ihn erst seit zehn Wochen und doch
konnte ich mir mein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.
Inzwischen mussten sie mit Laras Hufbehandlung
angefangen haben. Meine Gedanken wanderten zu ihr, und ich
versuchte, eine innere Verbindung zu ihr herzustellen, ihr Liebe zu
schicken und die Zuversicht, dass ihr nichts geschehen würde, dass
wir alle um sie herum es gut mit ihr meinten. Ronja hatte daran
geglaubt, dass so etwas möglich war.
Ronja … Wieder einmal wünschte ich mir sehnlich,
sie wäre noch bei mir und wir könnten die Sorge um Lara miteinander
teilen. Hilf Lara!, dachte ich. Hilf ihr, wenn es dich noch
irgendwo gibt, dass die Prozedur kein Stress für sie ist, dass
alles gut geht und dass sie keine Betäubung braucht.
Plötzlich durchschnitt ein kurzes, unterdrücktes
Gewieher die Luft. Es war Lara, ich hätte ihre Stimme unter vielen
anderen Pferden herausgehört. Ich hob den Kopf; mein Herz klopfte
wie verrückt. Was war passiert? Hatten sie ihr wehgetan?
Im Aufspringen hörte ich Stimmen. Ich lief den Hang
hinauf, und als ich oben angelangt war, kam Arne mir entgegen. Frau
Friedrun und Herr Theisen standen mitten auf der Koppel. Lara war
nirgends zu sehen.
»Was ist passiert?«, rief ich.
Arne hob die Hand. »Alles paletti, wir haben’s
geschafft. Es ging besser, als ich dachte.«
Heftig atmend blieb ich vor ihm stehen. »Echt?
Schon erledigt? Und wo ist sie?«
»Unten am Bach, bei Fee. Sieht aus, als wäre das
der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.«
Er verzog den Mund zu einem halben Lächeln, und
diesmal fiel ich ihm um den Hals, ganz schnell und mit einem
Gefühl, als würde ich von einer heißen Welle überschwemmt. Dann
rannte ich weiter, glitt auf einem Haufen Pferdeäpfel aus, raffte
mich wieder auf und merkte, dass mein rechtes Jeansbein mit Mist
verschmiert war.
»Sie hat alles prima überstanden.« Frau Friedrun
packte Feile, Zange und Hufmesser zusammen. »Ihre Hufe sind noch
nicht komplett ausgeheilt, ihr müsst sie noch ein paar Wochen mit
der Salbe behandeln. Am besten geht sie jetzt einige Zeit barfuß,
ohne neue Hufeisen. Hier hast du ihre alten. Sie sollen dir Glück
bringen.«
Herr Theisen hatte einen breiten Schmutzstreifen im
Gesicht, der wie Kriegsbemalung aussah. »Ich hätte nicht gedacht,
dass das mit Lara so gut klappen würde. Das scheint ein
Wundermittel zu sein, das Sie Rikke da geschickt haben. Kann ich es
Jago auch geben?«
Ziemlich feierlich überreichte mir Frau Friedrun
die vier alten Hufeisen. Ihre kurzen Haare waren nass geschwitzt,
ihre Nase und ihr Kinn braun gesprenkelt.
»Das muss ich erst austesten«, sagte sie. »Nicht
für jedes Pferd passt das gleiche homöopathische Mittel. Am besten
erzählen Sie mir so viel wie möglich über Jagos Vergangenheit und
seinen Charakter, das hilft mir bei der Wahl des Mittels. Aber dazu
müssen wir einen neuen Termin vereinbaren. Jetzt muss ich leider
weg.«
»Schicken Sie mir die Rechnung zu?«, fragte ich und
streichelte Bonnie, die gekommen war und ihre Nase in meine
Handfläche schob.
Frau Friedrun nickte. »Das kann allerdings eine
Weile dauern. Meine Schwester erledigt den Bürokram für mich, aber
sie hat ihre Familie zu versorgen und kommt mit der Arbeit nicht so
recht nach.«
Erleichtert bedankte ich mich. So blieb mir Zeit,
noch etwas Geld zu verdienen, und ich brauchte keine Schulden bei
meinen Eltern zu machen. Herr Theisen räusperte sich und sagte:
»Ich wollte Sie übrigens einladen. Und dich auch, Rikke. Zu unserer
Hauseinweihung in drei Wochen. Wenn nichts dazwischenkommt, ist im
Oktober alles so weit fertig, dass wir einziehen können. Das wollen
wir mit ein paar Freunden feiern, die Kinder und ich. Und ich würde
mich freuen, wenn Sie dabei wären.«
Er sah plötzlich wie ein Schuljunge aus. Ich wäre
ihm am liebsten auch um den Hals gefallen, so rührend fand ich ihn,
und so froh war ich, dass Lara alles gut überstanden hatte.
Lara und Fee tranken am Bach. Es war ein
friedliches Bild, wie die sahnefarbene und die rotbraune Stute im
lichten Schatten unter den Ästen der Eiche standen, die Hälse
anmutig gebogen. Sie drehten sich zu mir um; das Wasser rann in
glitzernden Fäden von ihren Lippen und Nüstern.
Ich hatte noch ein paar Haferkekse in der Tasche,
die ich als Belohnung für Lara mitgebracht hatte. Jetzt teilte ich
sie zwischen den beiden Stuten und streichelte ihre Nasen.
»Das hast du gut gemacht, Lara, mein Mädchen!«,
sagte ich leise. »Hoffentlich war’s nicht zu schlimm für dich. Wenn
deine Hufe wieder in Ordnung sind, kriegst du neue Eisen. Dann
können wir vielleicht auch miteinander ausreiten.«
Sie wirkte erstaunlich ruhig, so als wäre nichts
geschehen. Ihre Augen waren blank wie die von Fee, und eine Weile
schnupperte sie an ihren alten Hufeisen, die ich im Arm hielt.
Vielleicht verbanden sich für sie damit noch Erinnerungen an die
langen Jahre, die sie auf dem schmutzigen Betonboden in der engen,
düsteren Box des Reitstalls verbracht hatte, an Ausritte mit ihrem
früheren Besitzer, der so hart mit ihr umgegangen war.
Ich säuberte die Hufeisen mit Wasser und einer
Wurzelbürste. Eines davon nagelten wir an den Gatterpfosten. Die
restlichen drei nahm ich mit nach Hause.
Das zweite Hufeisen sollte mein Großvater bekommen.
Ich umwickelte es mit einem roten Band, packte es dick in
Zeitungspapier und legte es in ein kleines gelbes Postpaket,
zusammen mit einer Karte, auf der ein Foto von Lara klebte.
»Ohne das Geld, das du mir geschenkt hast, hätte
ich Lara nicht kaufen können«, schrieb ich auf die Rückseite der
Karte. »Vielleicht würde sie jetzt schon nicht mehr leben. Das
Hufeisen ist von ihr und soll dir Glück bringen. Komm bald und
besuch uns und sieh sie dir an!«
Großvater war seit Ronjas Beerdigung nicht mehr bei
uns gewesen. Ich hatte das Gefühl, dass ihn die Angst, an ihren Tod
erinnert zu werden, davon abhielt, uns zu besuchen.
Nach der Abendfütterung ging ich zum Friedhof. Ich
hatte das dritte Hufeisen dabei, einen Schraubenzieher und ein paar
Schrauben. Am Waldrand hatte ich einen Blumenstrauß gepflückt -
Glockenblumen, Storchschnabel, späte Margeriten und Gräser.
Ich besuchte Ronjas Grab nur selten. Lange hatte
ich das Gefühl gehabt, ihr in Eulenbrook näher zu sein, in dem
verlassenen Haus und dem verwilderten Garten, wo wir so viele
Stunden miteinander verbracht hatten. Doch dann waren die Theisens
gekommen und nichts war mehr so gewesen wie einst.
Mama kam oft hierher. Sie hatte nicht die üblichen
Friedhofsblumen aufs Grab gepflanzt, sondern Heidekraut, wilde
Alpenveilchen, Akeleien und Frauenmantel, dazu einen Rosenstrauch,
der vom Frühling bis in den späten Herbst mit aprikosenfarbenen
Blütenbüschel übersät war. In der Mitte von Ronjas Grab stand ein
kleines steinernes Wasserbecken.
Schon von Weitem sah ich, dass eine Amsel am Rand
des Beckens saß und trank. Ronja hatte statt eines Grabsteins eine
hölzerne Skulptur - die Gestalt einer Frau, die aus einem Baumstamm
herausgeschnitzt war. Unten sah man noch ein Stück des Stamms, aus
dem der Körper einer Frau wuchs, die den Nacken gebeugt und die
Arme über dem Kopf verschränkt hatte. Die Umrisse waren nur
angedeutet, aber man spürte, dass die Frau traurig und in sich
versunken war.
Ich legte den Blumenstrauß in das Wasserbecken.
Dann befestigte ich eine Schraube in dem Baumstamm, unterhalb der
Stelle, an der Ronjas Name in das Holz gekerbt war, und hängte
Laras Hufeisen daran.
Später ging ich noch zum Brunnen und füllte das
kleine Becken mit frischem Wasser aus der Gießkanne. Irgendwie war
es ein tröstlicher Gedanke, dass die Vögel an Ronjas Grab kamen, um
zu trinken und zu baden.
Eine Weile stand ich da und fragte mich, ob sie
Laras Hufeisen wohl sehen konnte und ob es sie noch irgendwo gab.
Beten konnte ich nicht. Falls es einen Gott gab, hatte ich ihm noch
nicht verziehen, dass er Ronja nicht vor dem Unfall beschützt
hatte.
Es hätte so viele Möglichkeiten gegeben - eine
Fahrradpanne zur richtigen Zeit, irgendein Ereignis, das sie oder
den Motorradfahrer aufgehalten hätte, sodass sie nicht gerade im
gleichen verhängnisvollen Augenblick auf die Kreuzung zugefahren
wären. Doch er hatte sich nicht darum gekümmert.