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Auch meine Nase hatte beim Sturz etwas abbekommen.
Mit dem zerschrammten Kinn und den aufgeschürften bläulichen
Stellen an der Wange und am Nasenflügel sah ich ein paar Tage lang
recht abenteuerlich aus.
In der Schule lachten sie, als ich auf die Frage,
was mir passiert sei, erklärte, ich wäre vom Pferd gefallen.
Ursprünglich hatte ich überlegt, ob ich nicht lieber behaupten
sollte, ich wäre auf der Treppe gestürzt oder etwas in dieser Art,
damit sie mich mit ihren Kommentaren verschonten.
Doch der erwartete Spott blieb aus. Ein paar von
den Mädchen, die mich seit Ronjas Tod nicht mehr beachtet hatten,
kamen sogar und erkundigten sich, wie lange ich schon
Reitunterricht hätte und in welchem Reitstall, doch ich erzählte
nichts von Arne und Lara.
»Du siehst wie eine Räuberbraut aus«, sagte
Isabell, mit der ich früher so halbwegs befreundet gewesen war. Und
obwohl ich wusste, dass es eine harmlose Bemerkung war, musste ich
sofort wieder an Ronja denken, die ihren Namen nach Astrid
Lindgrens Heldin in der Geschichte von Ronja Räubertochter
bekommen hatte.
Laras Hufkrankheit besserte sich. Die kahlen,
schorfigen Stellen in ihrem Fell verschwanden. Doch ihre seelischen
Wunden heilten nur langsam. Sie war nach wie vor schreckhaft und
voller Ängste und fraß weniger als die anderen Pferde.
Meist stand sie mit hängendem Kopf auf ihrem
Schattenplatz zwischen den Haselnussbüschen und interessierte sich
kaum für das, was um sie herum vorging. Dabei hatten wir inzwischen
die Absperrung zwischen den Koppeln entfernt und sie war mit Fee,
Robin und Jago zusammen auf der Weide. Trotzdem hielt sie sich
weiter abseits. Die anderen Pferde schienen zu akzeptieren, dass
Lara eine Außenseiterin war, und ließen sie in Ruhe.
»Es ist fast, als würde sie noch in ihrer engen
dunklen Box im Reitstall stehen«, sagte ich an einem
Samstagnachmittag im September zu Arne. »Ich hab gedacht, sie würde
hier total aufblühen. Was ist bloß mit ihr los?«
»Wir müssen ihr Zeit lassen. Vielleicht bräuchte
sie ja einen Pferdeflüsterer …«
Er sagte es halb im Scherz, aber ich wusste, was er
meinte.
Lara kam mir wie ein Mensch vor, der durch schlimme
Erlebnisse in eine schwere Depression verfallen ist, die er aus
eigener Kraft nicht überwinden kann.
Ich überlegte gerade, ob ich vielleicht Frau
Friedrun um Rat fragen sollte, als Jago den Kopf hob und sein
durchdringendes Trompetengewieher ausstieß. Bonnie begann zu
kläffen und raste quer über die Koppel und Fee preschte hinter ihr
her. Sogar Lara spitzte die Ohren.
»Da ist bestimmt ein fremdes Pferd in der Nähe«,
sagte Arne.
Wir drehten uns um. Aus den Baumwipfeln des
Wäldchens, das Eulenbrooks Koppeln von der Landstraße trennte,
schwang sich ein Schwarm Eichelhäher kreischend in die Luft. Dann
hörten wir fernes Hufgetrappel.
Bonnie stürmte den Trampelpfad zum Waldrand
hinunter. Jago und Fee drängten sich am Zaun und sahen mit ihren
großen dunklen Augen unverwandt in die Richtung, aus der der
Hufschlag kam. Ich musste an einen Artikel denken, den meine Mutter
mir kürzlich aus einer Zeitschrift vorgelesen hatte. Darin stand,
dass Pferde zwar nur halb so scharf sehen wie wir Menschen, dass
aber die Dichte ihrer Sehzellen hundertmal größer ist. Deshalb
können sie Gefahren, die in der Ferne auftauchen, schon sehr früh
erkennen.
»Ich glaube, es ist Elisa mit Robin«, sagte Arne.
»Sie wollte heute in den Reitklub.«
»Aber das klingt nach einer ganzen … Kavalkade.«
Ich wunderte mich, dass mir das Wort einfiel. Wahrscheinlich
stammte diese Weisheit aus einem der alten Wildwestfilme, die ich
früher so gern gesehen hatte. Erst seit Kurzem wusste ich, dass man
die Pferde bei den Dreharbeiten meistens brutal geschunden und fast
zu Tode gehetzt hatte.
Es war wirklich eine kleine Kavalkade: drei Pferde,
eines davon der Rotfuchs Robin mit Elisa; die beiden anderen - ein
Schimmel und ein Grauer - mit zwei unbekannten Reitern auf dem
Rücken.
»Wen bringt sie da mit?«, murmelte Arne. »Die
kommen sicher aus Dianenruh.«
Es waren ein Mädchen und ein Junge, beide
dunkelhaarig und offensichtlich Geschwister, denn sie hatten die
gleichen hohen Backenknochen und etwas schräg gestellten Augen. Ich
fand, dass sie beneidenswert gut im Sattel saßen, hoch aufgerichtet
und doch mit jenen leichten, wiegenden Bewegungen des Beckens, die
dem Rhythmus ihrer Pferde folgten.
Beide waren ziemlich aufgestylt mit taillierten
schwarzen Jacken, braunen Reithosen mit glattem Lederbesatz an den
Innenseiten der Schenkel und glänzenden schwarzen Reitstiefeln.
Genau wie Elisa trugen sie statt eines Reithelms die hübschen,
altmodischen Reitkappen aus Samt, die viel besser aussehen, aber
auch weniger Sicherheit bieten.
Elisa wirkte total verwandelt. Ihre verdrossene
Miene hatte sich aufgehellt, sie sah strahlend und entspannt aus.
Sogar ihre Stimme war aufgekratzt, als sie sich aus dem Sattel
schwang und sagte: »Hi, Arne! Das sind Lily und Erik Vandamme. Wir
kennen uns von Dianenruh.«
Den Namen »Vandamme« betonte sie, als hätte er
einen besonderen Klang und müsste uns vor Ehrfurcht und Staunen
erschauern lassen. »Sie sind auch Mitglied im Reitklub - ziemlich
lange schon, nicht? Das ist mein Bruder Arne. Er ist noch
pferdenärrischer als ich.«
Mich übersah sie, als wäre ich nicht vorhanden,
aber das war ich inzwischen von ihr gewöhnt. Die Geschwister
Vandamme saßen noch immer auf ihren Pferden. Ich beobachtete, wie
das Mädchen Arne musterte, mit einem raschen, abschätzenden Blick.
Dann glitten ihre Augen kurz über mich und kehrten wieder zu Arne
zurück. Sie lächelte, schwang sich anmutig aus dem Sattel und
streckte ihm die Hand entgegen.
»Hallo!«, sagte sie. »Nett, dich kennenzulernen.
Deine Schwester hat uns schon richtig von dir vorgeschwärmt.« Das
letzte Wort kam mit einer Betonung, die ich affig fand.
Arne hielt Bonnie am Halsband fest, lächelte
höflich zurück und gab ihr die Hand. »Hallo«, murmelte er.
Auch Erik war vom Pferd gesprungen. Sein Schimmel
war außergewöhnlich groß und edel und machte einen nervösen
Eindruck.
»Hi!«, sagte er lässig. »Ihr habt hier ja ein
riesiges Areal. Ist das alles euer Land?«
Es klang irgendwie gönnerhaft, aber vielleicht
bildete ich mir das auch nur ein. Arne fand keine Zeit zu
antworten, denn Lily hatte sich eingemischt.
»Wir wohnen nur ein paar Kilometer von hier, im
Wolfsgrund. Unser Vater hat vor ein paar Jahren die alte Villa
gekauft, die früher dem Besitzer der Eisenhütte gehörte. Sie war
total abgewrackt, aber wir haben sie umbauen lassen, mit viel Glas
und so. Kürzlich kam sogar ein Artikel in Architektur und
Wohnen über unser Haus.«
Ich war froh, dass sie die Villa im Wolfsgrund
gekauft hatten, und nicht Eulenbrook. Sie taten alle drei, als gäbe
es mich nicht. Ich kam mir minderwertig und überflüssig vor. Weil
ich keine Lust hatte, länger das fünfte Rad am Wagen zu spielen,
drehte ich mich um und ging betont langsam über die Koppel zu den
beiden Eichen, wo Lara stand und ihren Rücken an einem der
Baumstämme scheuerte.
Jago und Fee drängten sich noch immer wie
neugierige Kinder am Gatter, flehmten und streckten die Köpfe über
den Balken. Der Schimmel und der Graue warteten auf dem Pfad. Ich
hörte sie prusten und sah aus der Ferne, wie der Schimmel nervös
hin und her tänzelte.
Zum Glück hatte ich Laras Bürste in eine Astgabel
geklemmt und musste nicht zum Futterschuppen zurück, um sie zu
holen.
Behutsam begann ich, Lara zu putzen. Vom Gatter
drangen die Stimmen der anderen zu mir herüber. Die helle, hohe des
Mädchens, das Lily hieß, übertönte alle. Sie erzählte etwas vom
Reitklub und den vielen Veranstaltungen, die dort stattfanden,
sagte, man könnte genau die richtigen Leute treffen und wäre
sozusagen »unter sich«. Es würden auch nur Mitglieder zugelassen,
die eigene Pferde hätten und sowohl gesellschaftlich als auch vom
reiterlichen Können her höchsten Ansprüchen genügten. So drückte
sie sich aus.
Ich versuchte, meine Ohren zu verschließen, weil
mich das Gelaber wütend machte, doch es gelang mir nicht. Lara
spürte meine Anspannung. Sie wich vor mir zurück und wollte sich
nicht bürsten lassen, nahm nicht einmal ein Stück von dem Apfel,
den ich zerteilte und ihr unter die Nase hielt.
»Entschuldige bitte!«, flüsterte ich. »Komm, wir
gehen zum Bach, dort kriegen wir nichts mehr von dem Geschnatter
mit. Wir gehören nicht dazu, wir beide - du nicht und ich
nicht.«
Ich führte sie weg von Arne, Elisa und ihren neuen
Freunden. Plötzlich war mir zum Heulen zumute. Nicht so sehr, weil
sie mich ausgeschlossen hatten. Ich begriff, dass die beiden
Vandammes dumm und arrogant waren, und vielleicht war Elisa es ja
auch. Doch dass Arne bei ihnen stand, dass er mit ihnen redete und
ihnen nicht einfach den Rücken kehrte, sie stehen ließ und zu mir
kam, traf mich mehr, als ich es mir eingestehen wollte.
»Mist!«, murmelte ich. »Er kann mir nur leidtun,
wenn er sich mit solchen Typen abgibt. Ist mir doch egal …«
Aber es war mir natürlich nicht egal. Ich setzte
mich ans Bachufer, tauchte die Füße ins Wasser, sah zu, wie Lara in
langen Zügen trank, und war froh, dass das Plätschern des Baches
die Stimmen am Gatter übertönte.
Eine Amsel flötete in den Erlensträuchern, leise
und tröstlich. Lara prustete wie ein Wasserspeier und machte ein
paar vorsichtige Schritte, bis sie mit allen vier Beinen im Bach
stand. Sicher tat das kühle Wasser ihren kranken Hufen gut.
Die Rippen zeichneten sich noch immer deutlich
unter ihrem rotbraunen Fell ab, genau wie die Knochen und Sehnen an
meinem Hals, meinen Armen und Beinen. Ja, wir waren beide
Außenseiterinnen, sie und ich, und man sah es uns an. Ich seufzte
tief und dachte dabei, dass ich aufpassen musste, damit ich nicht
in Selbstmitleid versank.
In das Geplätscher des Baches mischte sich Bonnies
Hecheln. Plötzlich war sie bei mir, legte die Vorderpfoten auf
meine Knie, fuhr mir blitzschnell mit der Zunge übers Gesicht und
sprang dann neben Lara ins Wasser.
»Hierher hast du dich also verkrümelt!«
Hinter mir stand Arne. Ich hatte ihn nicht kommen
gehört.
Ich versuchte, ein unbefangenes Gesicht zu machen;
er sollte nicht sehen, dass ich traurig und sauer war. Eigentlich
hatte ich ja kein Recht dazu. Arne konnte machen, was er wollte,
und es war seine Sache, mit wem er sich unterhielt.
Er setzte sich neben mich ins Gras und streichelte
Bonnie, die sich zwischen uns drängte und ihr nasses Fell an seinen
Jeansbeinen rieb. Wieder einmal fiel mir auf, wie schön seine Hände
waren, schmal und feingliedrig und doch kräftig.
»Tut mir leid, dass das gerade so dumm gelaufen
ist. Diese Vandammes sind genau die Sorte Leute, die Elisa sich
immer aussucht. Menschenkenntnis ist nicht gerade ihre starke
Seite.«
Ich gab keine Antwort.
»Sie waren ziemlich unhöflich«, fügte er
hinzu.
»Dafür kannst du nichts«, sagte ich. Es klang
abweisend, aber irgendwie gelang es mir nicht, einen freundlichen
Ton herauszubringen.
Er beugte sich vor und sah mir ins Gesicht.
»Du bist sauer, wie? Das verstehe ich, ich wär’s an
deiner Stelle wahrscheinlich auch. Sie halten sich für was
Besonderes, dabei beherrschen sie nicht mal die einfachsten
Anstandsregeln. Wahrscheinlich denken sie, sie hätten es nicht
nötig, freundlich oder höflich zu sein wie jeder andere normale
Mensch, nur weil ihr Vater eine Menge Kohle hat.«
»Ist schon okay«, murmelte ich. »Im Grunde stimmt
es ja, sie und mich trennen Welten. Ich gehöre nicht dazu.«
»Ich auch nicht und das ist mir auch lieber
so.«
Plötzlich war mir leichter ums Herz. Ich dachte an
Ronja. Sie hätte über Typen wie die Vandammes nur gelacht und
gesagt, sie könnten einem leidtun, weil sie nichts als Stroh im
Kopf hatten.
»Sind sie weg?«, fragte ich.
»Ja. Elisa wollte ihnen noch unser Haus zeigen.
Hoffentlich kommen sie nicht wieder.«
Ich hätte schwören können, dass sie wiederkommen
würden, sagte aber nichts. Was mich so sicher machte, wusste ich
nicht genau. Vielleicht war es der Blick, mit dem Lily Arne
angesehen hatte, vielleicht auch Elisas offenkundige Begeisterung
für die Geschwister Vandamme.
»Zeit für deine Reitstunde«, sagte Arne. »Oder hast
du keinen Bock mehr?«
Es stimmte, eigentlich war mir die Lust vergangen.
Wenn ich an die elegante, lässige Art dachte, mit der Elisa, Lily
und Erik auf uns zugeritten waren, kam ich mir absolut hoffnungslos
vor. So wie sie würde ich nie im Sattel sitzen, auch nicht, wenn
ich zwanzig Jahre lang trainierte. Sie waren sicher alle schon als
Kinder aufs Pferd gesetzt worden und hatten Reiten gelernt, wie
andere das Laufen lernten.
Erst abends, als ich im Dunkeln noch lange zu Hause
auf der Terrasse saß, wurde mir klar, dass es mir gar nicht um eine
Meisterschaft im Reiten ging. Ich liebte Pferde und wollte mit
ihnen zusammen sein, wollte lernen, sicher im Sattel zu sitzen,
damit ich eines Tages mit Lara, Arne und Fee ausreiten konnte. Noch
wichtiger war es mir aber, für die Pferde zu sorgen - sie zu
füttern, zu putzen und zu pflegen, wenn sie krank waren und Hilfe
brauchten. Ich wollte meinen Teil dazu beitragen, dass sie sich
wohlfühlten und gesund und glücklich waren.
Um das zu lernen, brauchte man keine reichen Eltern
und auch keine vornehme Geburt. Dazu gehörte nur die Liebe zu den
Pferden.