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Dr. Eisner hatte vierzig Euro für seinen Besuch und das Medikament verlangt. Ich gab Arne das Geld zurück; es war genau die Summe, die ich am vergangenen Tag im Laden verdient hatte.
Ich beschloss, Lara die Tabletten vorerst nicht zu geben, sondern auf Frau Friedrun zu warten. Herr Theisen und Arne waren der gleichen Meinung.
»Lara ist sowieso schon stark angeschlagen, man sollte sie nicht noch zusätzlich mit Chemie belasten«, sagte Herr Theisen. »Vielleicht weiß die Tierheilpraktikerin ein besseres Mittel. Ich will sie mir mal ansehen. Wenn sie gut ist, soll sie zukünftig auch Bonnie und unsere Pferde behandeln.«
So kam es, dass Herr Theisen mit dabei war, als Frau Friedrun zum ersten Mal in Eulenbrook erschien; und das war vielleicht eine Fügung des Schicksals, wie Arne später meinte.
Arne selbst traf sich an diesem Nachmittag mit ein paar Leuten aus seinem Leistungskurs, um eine Gemeinschaftsarbeit in Physik vorzubereiten - neben Mathematik sein »bestgehasstes Fach«, wie er sagte. Ich machte die Entdeckung, dass ich ihn vermisste, als ich mit seinem Vater und Frau Friedrun durch Eulenbrooks Garten zur westlichen Pforte ging.
Der Garten war unverändert geblieben, ein Stück Land, das die Natur sich zurückerobert hatte - mit flechtenüberzogenen, knorrigen Bäumen, Brennnesselfeldern, Brombeergestrüpp, dunklen Eiben und undurchdringlichen Hecken. Überall sangen Vögel im Verborgenen. Falter gaukelten zwischen den Gräsern und Hummeln brummten in den Blüten der Fingerhüte. Es roch nach Erde und sonnenbeschienenen Rosen.
»Was für ein paradiesischer Garten!«, sagte Frau Friedrun und sah sich begeistert um. »Gehört das alles Ihnen?«
Sie war eine zierliche Frau mit erstaunlich blauen Augen, die einen reizvollen Kontrast zu ihrem dunklen Haar bildeten. Ihr Alter konnte ich nur schwer schätzen, sie mochte vierzig sein, vielleicht auch fünf Jahre jünger oder älter. Ihre Hände waren ungewöhnlich kräftig, und mir fiel auf, dass sie sich überhaupt nicht geschminkt hatte. Ein Geruch nach Pferden und Zitronenseife umwehte sie.
»Ja«, sagte Herr Theisen. »Wir haben Eulenbrook geerbt. Den Garten möchten wir weitgehend so lassen, wie er ist, und nur da eingreifen, wo es unbedingt nötig ist, damit die Brennnesseln und Brombeeren nicht alles überwuchern.«
»An den sonnigen Stellen sollten Sie die Brennnesselfelder aber stehen lassen, da legen die Admirale und Tagpfauenaugen ihre Eier ab.«
Er lächelte ihr zu. »Natürlich. Darauf werden wir achten, ich verspreche es Ihnen.«
Aus dem alten Gutshaus drang höllischer Lärm. Jemand arbeitete mit einem Bohrer, Bodenfliesen wurden zersägt und irgendwo wurde durchdringend gehämmert. Die Fassade war noch immer von einem Gerüst umgeben. Auf dem Dach kletterten zwei Männer herum. Ein Arbeiter stand in einer Staubwolke und klopfte den Verputz von der Mauer.
Ich wandte den Blick ab und dachte, dass das nicht mehr das Haus war, in dem Ronja und ich so viele Stunden verbracht hatten, unser Dornröschenschloss. Es war aus seinem Schlaf gerissen worden und eines Tages würden die Theisens ihren Wohnwagen verlassen und dort einziehen. Jetzt aber kam mir das alte Haus seltsam hilflos und ausgeliefert vor, wie ein gestrandeter Wal, in den sich eine Schar kleiner Haie verbissen hat.
Bonnie schoss aus dem Gebüsch hervor und sprang um uns herum, wobei sie ihre Pfoten tapsig in die Luft warf. Herr Theisen erzählte, dass ihre Mutter eine reinrassige Labrador-Hündin war, dass aber keiner wusste, welche Rasse der Vater gehabt hatte. Frau Friedrun meinte, es könnte ein Schäferhund gewesen sein.
»Schwimmt sie gern?«, fragte sie.
»Ja, sie ist eine totale Wasserratte, wie alle Labradore.«
Dann erkundigte sich Frau Friedrun nach meiner Stute. Ich erzählte ihr, dass Lara viele Jahre im gleichen Reitstall verbracht hatte wie die Pferde der Theisens, in einer engen Box mit Betonboden, in die nie ein Sonnenstrahl gedrungen war, und dass ihr Besitzer sie vernachlässigt hatte und grob mit ihr umgegangen war.
»Doktor Jansen hat beginnende Strahlfäule bei ihr festgestellt«, sagte ich. »Und sie hat Glatzflechte. Aber das ist schon viel besser geworden, seit sie in Eulenbrook lebt.«
»Die Stute hat große Angst vor Männern«, warf Herr Theisen ein. »Deshalb haben wir für die Behandlung auch nach einer Frau gesucht. Ich hoffe, sie lässt sich ohne größere Probleme von Ihnen untersuchen.«
Frau Friedrun schien sich keine Sorgen zu machen. »Ich habe Erfahrung mit schwierigen Tieren«, sagte sie. »Sie ahnen nicht, wie viele Pferde durch die Dummheit und Brutalität von Menschen verstört und verdorben sind. Es ist nicht leicht, ihr Vertrauen zurückzugewinnen. Und die seelischen Wunden, die ihnen zugefügt werden, haben meistens auch körperliche Krankheiten zur Folge. Seele und Körper sind ja eins. Deshalb ist eine ganzheitliche Behandlung so wichtig, sowohl bei Tieren als auch bei uns Menschen. Es nützt nicht viel, an einem bestimmten Symptom herumzutherapieren, wenn die Ursachen viel tiefer liegen und unbeachtet bleiben.«
Herr Theisen nickte und lächelte. »Damit rennen Sie bei mir offene Türen ein. Ich bin ganz Ihrer Meinung.«
Lara stand auf ihrem Lieblingsplatz, im Schatten zwischen den Haselnusssträuchern. Ihr Hinterteil war schon wieder voller Kot, obwohl ich morgens vor der Schule noch gekommen war und sie abgewaschen hatte. Arnes Vater blieb beim Gatter zurück. Frau Friedrun ging jetzt sehr langsam, obwohl sie bisher ein ziemliches Tempo vorgelegt hatte. In einigem Abstand von Lara hielt sie an, hob den Kopf, witterte wie ein Jagdhund und sagte: »Der Durchfall riecht faulig.«
Ich starrte sie an. »Ist das wichtig? Riecht denn nicht jeder Durchfall gleich?«
Sie schüttelte leicht den Kopf. »Nein, durchaus nicht. Durchfälle können ganz unterschiedlich riechen, je nach Ursache. Und der Geruch ist wichtig, wenn man herausfinden will, woher die Darmprobleme kommen.«
Lara stand mit leicht gespreizten Hinterbeinen da, hatte die Muskeln angespannt und den Hals zur Seite gedreht. Ein Schwarm Fliegen surrte um ihr Hinterteil und ihren verklebten Schweif. Als wir uns näherten, schnaubte sie und bewegte nervös die Ohren. Alles an ihrer Haltung verriet, dass sie bereit war zu flüchten.
»Schönes Mädchen!«, murmelte Frau Friedrun. »Keine Angst, ich tu dir nichts. Wir wollen nur mal sehen, was mit deiner Verdauung nicht stimmt … Nur ruhig, Mädchen, ganz ruhig!«
Ihre Stimme war weich und sanft. Sie ließ mich vorausgehen, achtete aber darauf, dass sie nicht durch mich verdeckt wurde, damit Lara jeden ihrer Schritte beobachten konnte. Ich wertete es schon als Erfolg, dass meine Stute nicht wegrannte oder zurückwich, sondern weiter stehen blieb, während Frau Friedrun vorsichtig den Arm ausstreckte und Lara eine Hand unter die Nase hielt, damit sie ihren Geruch aufnehmen konnte. Dabei redete sie noch immer mit leiser, liebevoller Stimme.
In Laras Augen sah ich die Furcht und Unsicherheit, die sie empfand. »Alles okay!«, versicherte ich. »Dir passiert nichts. Ich bin ja da, sei ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung.«
Jetzt legte Frau Friedrun die Hand auf Laras Hals, ganz leicht nur, strich ihr über den Nacken und fühlte mit der anderen Hand den Puls. Lara zuckte ein wenig zurück, wurde starr, merkte dann aber offenbar, dass die Berührung der fremden Frau freundlich gemeint war und keine Schmerzen verursachte.
Während Frau Friedrun halblaut zählte, wich die Anspannung langsam aus Laras Körper. Ihre Nase sank ein Stück nach unten. Nur ihre Flanke zuckte noch immer.
Frau Friedrun sah ihr in die Augen und strich dann über die Muskeln an Laras Schulter, drückte sanft darauf und fuhr mit den Fingerspitzen über die Stelle neben der Mähne, wo die schorfigen Spuren der Glatzflechte zurückgeblieben waren. Dann trat sie ein paar Schritte zur Seite und sah sich die Kotpfütze an, die sich nicht weit von Laras Hinterbeinen im Gras gesammelt hatte. Sie kniete davor nieder und kam mit dem Gesicht so nahe heran, dass ich dachte, sie würde ihre Nase gleich in die braune Soße stecken.
»Gelblich und wässrig«, murmelte sie. »Hm. Fauliger Geruch … Wann ist sie zum letzten Mal entwurmt worden?«
»Vor zwei Wochen«, sagte ich.
Sie griff in ihre Tasche, zog ein Fläschchen und einen Holzspatel daraus hervor und strich etwas von Laras Dung in das Fläschchen. Dann stand sie auf und sagte: »Ich glaube, ich weiß, was es ist. Aber ich nehme die Kotprobe sicherheitshalber mit. Wenn wir Glück haben, werden die beiden Mittel, die ich dir für sie gebe, recht schnell wirken. Ruf mich doch bitte heute Abend noch an und sag mir, ob die Durchfälle aufgehört haben. Dann können wir uns die Kotuntersuchung sparen.«
»Wollen Sie kein Blut abnehmen?«
Sie schraubte das Gläschen wieder zu. Ihre porzellanblauen Augen erinnerten mich an eine dieser kostbaren alten Gliederpuppen. In seltsamem Kontrast dazu stand ihr kurzes, jungenhaft geschnittenes Haar.
»Vorerst nicht. Ich denke, den Stress mit der Blutabnahme brauchen wir ihr nicht anzutun. Falls die beiden Mittel nicht wirken, sehe ich mir die Kotprobe genauer an, und wenn wir damit nicht weiterkommen, haben wir immer noch die Möglichkeit, den Eiweißgehalt im Blut zu untersuchen.«
Sie zog eine Ledermappe hervor, in der viele kleine Glasfläschchen steckten. Sie nahm zwei davon und schüttete jeweils ein paar von den weißen Kügelchen, die ich schon durch Dr. Jansen kannte, in zwei winzige Papiertüten.
»Davon gibst du ihr heute Nachmittag drei mal fünf, alle zwei Stunden. Insgesamt soll sie heute also noch jeweils fünfzehn Globuli bekommen. Dann müssten die Durchfälle aufhören. Weißt du, wie du es ihr geben sollst?«
»Ja«, sagte ich. »Ich schiebe ihr die Kügelchen zwischen die Lippen. Lara nimmt sie problemlos.«
»Sie schmecken leicht nach Zucker. Es ist sicher besser, wenn du sie ihr gibst, dann hat sie keinen Stress.«
Ich knetete Laras Ohr, wie sie es gern hatte, und schob ihr mit der freien Hand die Globuli zwischen Vorder- und Backenzähne. Sie drehte leicht den Kopf zur Seite, sträubte sich aber nicht weiter und ließ Frau Friedrun, die hinter mir stand, nicht aus den Augen.
»Am besten, du gibst deiner Stute in den nächsten Tagen mehrmals eine Handvoll getrocknete Oreganokräuter und Hopfenblüten aus der Apotheke ins Futter«, sagte Frau Friedrun. »Der Hopfen steigert die Fressfreude und beugt auch gegen Koliken vor.«
Während wir zum Gatter zurückkehrten, fragte sie mich, ob Dr. Eisner Lara etwas gegen die Durchfälle gegeben hätte.
Ich schüttelte den Kopf. »Er hat etwas für sie hiergelassen, aber die Packung ist noch ungeöffnet.« Ich nannte den Namen des Medikaments. »Herr Theisen hat auch gemeint, dass es sie eher belasten würde, weil’s die reine Chemie ist und hinterher vielleicht zu Verstopfung führt.«
Frau Friedrun seufzte leicht, erwiderte aber nichts. Dann erkundigte sie sich noch, was Dr. Jansen mir als Behandlung für Laras Hautkrankheit und ihre Hufe mitgegeben hatte, und wirkte zufrieden mit dem, was sie hörte.
Arnes Vater wartete noch auf uns. »Es ist wohl nichts Dramatisches«, sagte Frau Friedrun zu ihm. »Wahrscheinlich macht ihr die Futterumstellung immer noch zu schaffen. Die Stute war ja offenbar seit Jahren nicht mehr auf der Weide und ist das frische Gras nicht gewöhnt. Außerdem muss sie erst noch seelisch ins Gleichgewicht kommen. Das dauert seine Zeit. Ich versuche es erst mal mit zwei homöopathischen Mitteln. Auch Oreganokräuter und Hopfenblüten helfen in solchen Fällen gut.«
Herr Theisen machte ein erfreutes Gesicht. »Das mit dem Oreganokraut haben wir auch schon versucht«, erwiderte er. »Bei unseren Pferden hat es manchmal prima gewirkt, aber eben nur, wenn die Durchfälle nicht mehrere Tage dauerten.«
Er lud Frau Friedrun und mich zum Tee ein, aber ich sagte, ich hätte keine Zeit mehr. Vielleicht war es ganz gut, wenn die beiden eine Weile allein sein konnten und Gelegenheit bekamen, sich näher kennenzulernen. Irgendetwas lag zwischen ihnen in der Luft; ich merkte es an der Art, wie sie sich ansahen.
Als wir den Wohnwagen der Theisens erreichten, verschwand Arnes Vater, um Teewasser aufzusetzen. Ich bat Frau Friedrun, mir zu sagen, was Laras Behandlung kostete. Sie überlegte einen Augenblick, lächelte dann und sagte: »Also, heute mach ich dir einen Sonderpreis. Du hast sicher schon einiges für Doktor Eisner berappen müssen, und ich finde es wunderbar, dass du ein vernachlässigtes Tier wie Lara zu dir genommen hast und für sie sorgst.«
Ich zahlte nicht einmal die Hälfte von dem, was der Tierarzt verlangt hatte. Natürlich war ich total froh, denn seit ich Lara hatte, stand es ziemlich bescheiden um meine Finanzen. Erst vor zwei Wochen hatte ich zwei Sack Hafer bezahlt, dazu Kleie und ein Viertel der Karottenlieferung von einem Biobauern aus der Umgebung. Mein Geld schmolz dahin wie Butter an der Sonne.