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Am späten Nachmittag hörten Laras Durchfälle auf.
Sie wirkte auch wieder munterer und fraß den Kleietrank, den ich
für sie kochte und in einem Plastikeimer auf dem Rad nach
Eulenbrook transportierte.
»Die kleinen weißen Kügelchen scheinen Wunder zu
wirken«, sagte ich zu Arne, während wir auf dem Gatterbalken saßen
und zusahen, wie Lara den letzten Rest Mash aus dem Eimer leckte.
»Ich glaube, Frau Friedrun versteht eine Menge von Pferden.
Außerdem mag ich sie auch, sie gefällt mir.«
»Da bist du nicht die Einzige. Mein Vater ist
richtig auf sie abgefahren.« Arne grinste. »Und das passiert bei
ihm nicht oft. Ich dachte schon, Frauen interessieren ihn nicht
mehr, seit meine Mutter sich davongemacht hat.«
»Das glaube ich nicht. Ich meine, so hat er nicht
auf mich gewirkt, als Frau Friedrun hier war.«
Wir lachten, und er sagte: »Bonnies jährliche
Impfung gegen Tollwut ist bald wieder fällig. Diesmal werde ich
keine Zeit haben, zum Tierarzt zu gehen. Mein Vater soll selbst mit
ihr in Frau Friedruns Praxis fahren.«
Auch in den folgenden Tagen traten die Durchfälle
nicht wieder auf. Lara bekam noch vier Tage lang weiße Kügelchen,
dazu das Oreganokraut und die Hopfenblüten, und ich hatte das
Gefühl, dass sie mehr Appetit bekam. Besonders wild war sie
plötzlich auf Karotten. Arne meinte, sie würden ihrem Fell und
ihren Augen guttun.
Seine Schwester Elisa hatte sich inzwischen im
Reitklub angemeldet, der ungefähr sieben Kilometer von Eulenbrook
entfernt in einem ehemaligen Jagdschloss untergebracht war.
Ronja und ich hatten uns vor Jahren einmal in
Dianenruh umgesehen, doch die Reitstunden und der Mitgliedsbeitrag
waren für uns unerschwinglich teuer gewesen. Der Klub hatte den
Ruf, dass die »wichtigen Leute« unserer Gegend dort ihre Pferde
einstellten und ihre Kinder zum Reitunterricht brachten.
»Der Mitgliedsbeitrag ist schweinemäßig hoch«,
sagte auch Arne, als wir uns am folgenden Wochenende zur Reitstunde
trafen. »Und mein Vater hat für solche Extraausgaben jetzt wirklich
kein Geld. Aber Elisa hat in England angerufen, und unsere Mutter
hat versprochen, ihr einen Scheck zu schicken. Wahrscheinlich will
sie ihr schlechtes Gewissen damit beruhigen.«
»Und?«, fragte ich. »Was hat deine Schwester
gesagt? Gefällt ihr der Reitklub?«
»Sie ist absolut begeistert, aber das ist bei ihr
anfangs meistens so. Sie behauptet, die Leute wären genau ihre
Wellenlänge. Und sie hat sich schon mit irgendeinem Typen und
seiner Schwester angefreundet. Das geht bei ihr sehr schnell, wenn
sie jemanden cool findet. Jedenfalls ist sie seit zwei Tagen
richtig gut drauf und überhaupt nicht mehr mürrisch oder
aggressiv.«
Das Leichttraben ging inzwischen schon ganz
passabel. Ich ritt nach wie vor auf Fee, denn Arne und Herr Theisen
meinten, Lara müsste noch längere Zeit in Ruhe auf der Weide stehen
und sich erholen, und vor allem müssten ihre Hufe in Ordnung sein,
ehe sie wieder geritten werden konnte.
An diesem Sonntagvormittag sah es nach Regen aus.
Dicke Wolken trieben wie pralle, mit Tinte übergossene Federbetten
über den Himmel. Nur manchmal tauchte für wenige Sekunden oder
Minuten eine fahle Sonne zwischen den Wolkenrändern auf.
Ich hatte es erst zweimal mit dem Galoppieren
versucht. Obwohl Arne sehr geduldig war und mir immer wieder gut
zuredete, hatte ich davor nach wie vor eine tief sitzende Angst,
die ich nicht so leicht überwinden konnte.
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich nicht fest
genug im Sattel saß, wenn Fee so über die Wiese raste, und dass es
nur eine Frage der Zeit war, bis ich den Halt verlor und in hohem
Bogen durch die Luft segelte.
Arne versicherte, dass nichts passieren könne, wenn
ich einfach locker im Sattel säße. Und falls ich doch fallen
sollte: Für gewöhnlich wären die Stürze nicht schlimm, man würde
hinterher einfach wieder aufstehen und mit ein paar blauen Flecken
davonhumpeln.
»Das ganze Leben ist doch ein Risiko«, sagte er.
»Ob man die Straße überquert oder ins Auto oder in ein Flugzeug
steigt oder mit dem Fahrrad -«
Er stockte und sah mich betroffen an. Ich wusste,
er hatte nicht nachgedacht, es war eine unüberlegte Bemerkung
gewesen, die er am liebsten zurückgenommen hätte.
»- mit dem Fahrrad fährt«, vervollständigte ich
bitter. »Ja, das kann allerdings lebensgefährlich sein.«
Ronja war mit ihrem Rad verunglückt, aber dafür
konnte Arne nichts.
»Entschuldige, Rikke. Ich bin ein Idiot.«
»Ist schon okay. Du brauchst dich nicht zu
entschuldigen. Es ändert auch nichts, wenn man es
totschweigt.«
Eine Weile übte ich Leichttraben und es ging
richtig gut. Nach ungefähr einer Viertelstunde zügelte ich Fee,
holte tief Luft und sagte: »Und jetzt galoppiere ich!«
»Du musst nicht. Nur wenn du das Gefühl hast, dass
du wirklich bereit dafür bist.«
Dieses Gefühl hatte ich überhaupt nicht, aber ich
war trotzdem entschlossen, meine Panik zu überwinden und es zu
versuchen. Schließlich wollte ich Reiten lernen und der Galopp
gehörte nun einmal dazu. Es hatte keinen Sinn, mich ewig davor zu
drücken.
»Also gut, versuchen wir’s. Aber denk dran:
möglichst locker sitzen und nicht mit den Händen am Sattelrand
festhalten oder in Fees Mähne festkrallen.«
Ich nickte folgsam, wusste dabei aber, dass ich
automatisch wieder nach dem Sattel greifen würde wie ein
Schiffbrüchiger nach einer Bootsplanke, wenn es brenzlig wurde. Und
genau so kam es auch. Kaum hatte sich Fee gestreckt und ein paar
weit ausgreifende Sprünge gemacht, die mir das Gefühl gaben, auf
einem geflügelten Pferd durch die Lüfte zu zischen, überwältigte
mich die Panik. Ich hätte schwören können, dass ich mich nicht mehr
lange halten würde, dass ich jeden Augenblick wie eine Rakete über
Fees Kopf hinwegsegeln und kopfüber irgendwo in der Wiese landen
oder gegen einen der gefährlich nahen Zaunpfähle prallen
würde.
In meiner Angst klappte ich halb nach vorn und
packte den Sattelrand mit beiden Händen, ohne jedoch die Zügel
loszulassen. Mir war schwindelig, und ich dachte: Das schaffe ich
nicht, ich kann mich nicht mehr halten, Hilfe!
Hinter mir hörte ich Arne etwas rufen, hörte, wie
Bonnie bellte, sah Fees Hals dicht vor mir und spürte, wie ihr
Mähnenhaar mir ins Gesicht wirbelte.
Ich musste es schaffen! Todesmutig ließ ich den
Sattelrand los und versuchte, mich wieder aufzurichten.
Im selben Moment wusste ich, dass das ein Fehler
war. Ich konnte mich nicht aufrichten, während Fee galoppierte,
ohne gleichzeitig den Halt zu verlieren.
Es kam mir vor, als würde ich von einer
unsichtbaren Macht aus dem Sattel gehoben. Alles wogte und wirbelte
um mich her, ich verlor die Steigbügel und spürte eine Art Stoß,
hob ab, segelte haarscharf an Fees gestrecktem Hals vorbei und
drehte mich in der Luft.
Die Landung war seltsam. Es fühlte sich an, als
käme mir die Wiese entgegen und würde mit mir zusammenstoßen. Ich
schloss die Augen und schrammte mit dem Reithelm seitlich durchs
Gras, versuchte, mit den Handflächen zu bremsen, und überschlug
mich mit einer Art Purzelbaum.
Wie durch einen Nebel hörte ich Arnes Stimme und
merkte, dass etwas Großes, Schweres mit donnerndem Getöse an mir
vorüberpreschte. Der Boden schien unter mir zu beben.
Dann sah ich ein paar Blitze und etwas wie einen
roten Feuerball. Ganz plötzlich war es ruhig um mich her, und ich
dachte verwundert: Jetzt ist es passiert, ich bin vom Pferd
gestürzt! Und ich lebe noch! Seltsam, so hab ich mir das nicht
vorgestellt …
Als ich die Augen öffnete, war Arnes Gesicht direkt
über mir.
»Rikke!«, sagte er. »Verdammte Hühnerkacke, bist du
in Ordnung?«
Ich musste lachen. Es klang zittrig.
»Keine Ahnung. Lass mich erst mal meine Knochen
durchzählen.«
Arne hatte mich am Oberarm gefasst und half mir,
mich aufzusetzen. Der Reithelm saß schief auf meinem Kopf, ich
spürte, dass er halb über meinem linken Auge hing. Meine Handballen
brannten wie Feuer und eine meiner Schultern fing an zu
schmerzen.
Jetzt war Bonnie bei uns. Sie hechelte aufgeregt,
drängte sich zwischen uns und versuchte, mir das Gesicht
abzulecken.
»Aus, Bonnie!«, sagte Arne streng. »Lass Rikke in
Ruhe!«
Ich hob die Hand und tastete nach dem Helm. Sicher
sah ich wie eine Karikatur in einer dieser Pferdezeitschriften aus.
Von meiner Handfläche tropfte Blut auf Bonnies semmelblondes
Fell.
Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, dass
Arne mich in die Arme nehmen wollte. Unsere Gesichter berührten
sich fast, ich spürte seinen Atem auf meiner Haut. Unsere Blicke
trafen sich.
Dann sahen wir rasch wieder weg, und ich merkte
verwirrt, dass zwei widerstreitende Empfindungen in mir waren:
Einerseits wollte ich, dass er mich umarmte, doch gleichzeitig
leuchtete ein Warnsignal auf. Ich wich eine Spur zurück und er
registrierte es sofort.
Sein Blick veränderte sich. Er half mir, den Helm
abzusetzen. »Da sieht man’s mal, wie nützlich diese Dinger sein
können«, sagte er betont sachlich. »Sonst hättest du jetzt sicher
eine krasse Gehirnerschütterung. Tut dir was weh?«
»Meine Schulter«, murmelte ich. »Aber nicht
schlimm. Und meine Hände brennen, aber ich hab mir wohl nur die
Haut aufgeschürft. Hilfst du mir mal hoch?«
Zum Glück konnte ich auf meinen Beinen stehen, wenn
auch noch etwas wacklig, und die Arme und den Kopf bewegen, ohne
dass sich etwas komisch anfühlte. Während ich dastand und mir Mühe
gab, alles auf die Reihe zu bringen, fiel mir Fee ein. Ein guter
Reiter kümmert sich nach einem Sturz immer zuerst um sein Pferd,
das hatte ich gelesen und mir gemerkt.
»Wo ist Fee?«
»Die scheuert sich an einem Baumstamm und versucht,
den Sattel loszuwerden. Ist wirklich alles in Ordnung mit
dir?«
»Kein Problem«, versicherte ich und tastete nach
meinem Kinn. Es puckerte etwas, und Arne erklärte, ich hätte eine
Hautabschürfung und würde wahrscheinlich auch blaue Flecken
kriegen.
»Wir desinfizieren erst mal die Wunden«, sagte er.
»Egal wie klein oder oberflächlich sie sind, das muss sein. Bist du
überhaupt gegen Tetanus geimpft?«
Ich schüttelte den Kopf. Er zog die Augenbrauen
zusammen und biss sich auf die Unterlippe. »Das hätte ich dir
längst sagen sollen! Wenn man mit Pferden umgeht, kommt man um
diese Impfung nicht herum, denn wo Pferde sind, gibt’s meistens
auch Tetanuserreger. Und Wundstarrkrampf ist eine scheußliche
Sache. Man kann ohne Weiteres daran sterben.«
»Aha«, sagte ich. »Und was mach ich jetzt?«
»Mein Vater fährt dich zu eurem Hausarzt, der soll
dich sofort impfen. Je schneller, desto besser. Aber erst gehen wir
zum Bach, und du wäschst den Schmutz von deinem Gesicht und deinen
Händen, damit die Wunden wenigstens oberflächlich gesäubert sind.
Kannst du gehen?«
»Klar. Mir fehlt nichts, ich hab’s dir doch
gesagt.«
Herr Theisen war nicht da, als wir zum Wohnwagen
kamen, aber einer der Handwerker erklärte sich bereit, mich mit
seinem Kombi zum Arzt zu fahren. Arne fragte, ob er mitkommen
sollte, doch ich lehnte ab.
»Du brauchst mir nicht das Händchen zu halten«,
sagte ich. »Kümmere dich lieber um Fee. Sie kann schließlich nichts
dafür, dass ich mich so vertrottelt benommen habe.«
Er erwiderte, ich sollte mich nicht immer selbst so
niedermachen. »Die besten Reiter fallen vom Pferd und für einen
Anfänger ist das wirklich keine Schande. Kommst du heute noch mal
vorbei?«
»Sicher, zur Abendfütterung. Entschuldige, dass ich
solchen Trouble gemacht habe.«
Er schnitt eine Grimasse. »Jetzt hör aber auf!
Steig ins Auto und verschwinde. Und wenn’s dir später nicht so gut
geht, ruf einfach an, ich versorge Lara dann für dich.«
Während ich neben Maurermeister Appel in seinem
blauen Kombi das Gittertor von Eulenbrook passierte, dachte ich,
dass Arne im Grunde einfach zu gut war, um wahr zu sein.
Wie sich bald herausstellen sollte, war ich nicht
die Einzige, die das fand.