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»Sie haben Pferde nach Eulenbrook gebracht«, sagte
meine Mutter beim Abendessen. »Frau Pfefferle hat es mir
erzählt.«
Frau Pfefferle war die Inhaberin unseres
Supermarkts, bei der alle Fäden zusammenliefen. Wenn etwas Neues in
unserem Städtchen passierte, wusste sie es sofort, und die
Nachricht verbreitete sich in Windeseile. Ronja hatte sie immer
»die Urwaldtrommel« genannt.
Ich sagte nicht, dass ich das mit den Pferden
bereits wusste. Stumm schob ich die Fischstäbchen auf meinem Teller
hin und her. »Sie haben das Anwesen übrigens geerbt, nicht
gekauft«, fügte meine Mutter hinzu.
Mein Vater hob den Kopf. »Geerbt? Für eine solche
Erbschaft würde ich mich aber bedanken! Sie müssen jede Menge Geld
aufbringen, um das Haus einigermaßen bewohnbar zu machen.«
»Das haben sie sicher auch. Jemand, der drei Pferde
hält, ist bestimmt kein armer Schlucker.«
»Nicht alle Leute, die Pferde haben, sind
reich.«
Meine Eltern sahen mich überrascht an. Sie waren
inzwischen so an mein Schweigen gewöhnt, dass sie es kaum glauben
konnten, wenn ich mich in ihre Gespräche einmischte.
»Pferde kosten Geld, besonders ihr Unterhalt«,
sagte mein Vater. »Aber vielleicht wollen sie eine Reitschule
eröffnen.«
Eine Reitschule! Daran hatte ich noch nicht
gedacht.
»Mit drei Pferden?«, fragte Mama zweifelnd.
»Vielleicht kommen ja noch mehr Pferde nach.
Hättest du nicht Lust, Reitunterricht zu nehmen, Rikke?«
Als Ronja noch lebte, hätten wir beide unheimlich
gern Reiten gelernt. Ronjas größter Wunsch war ein eigenes Pferd
gewesen, doch damals mussten unsere Eltern das Haus und den
Fotoladen abbezahlen und sparten an allen Ecken und Enden. Heute
hätte ich ihnen vielleicht einen Gefallen getan, wenn ich wieder
für irgendetwas Begeisterung gezeigt hätte.
»Nein danke«, sagte ich. »Kein Bedarf.«
Sie wechselten einen Blick. Mama unterdrückte einen
Seufzer.
»Weiß man schon etwas über diese Leute?«, fragte
mein Vater hastig.
»Es ist ein Mann, der Theisen heißt, mit seinem
Sohn und seiner Tochter. Eine Mutter scheint es in dieser Familie
nicht zu geben.«
»Vielleicht sind sie geschieden.«
Ob ich wollte oder nicht, ich stieß immer wieder
auf die neuen Besitzer von Eulenbrook. Mama beobachtete mich.
»Rikke, du isst ja wieder nichts!«, sagte sie. »Und
wie du aussiehst! Wie ist das eigentlich passiert, dass du vom Rad
gestürzt bist?«
Ich sagte, ich hätte nicht aufgepasst und wäre im
Wald über eine Wurzel gefahren.
»Du solltest nicht so allein durch die Gegend
radeln. Hast du die Wunden desinfiziert?«
Ich nickte. Sie fragte nach Isabell.
»Isabell fliegt morgen nach Mallorca«, sagte ich,
erzählte aber nicht, dass wir schon seit einigen Monaten einfach
nichts mehr miteinander anfangen konnten. Früher waren wir mit
Isabell befreundet gewesen, Ronja und ich, doch sie hatte sich
verändert. Ich fand sie oberflächlich und schrill. Umgekehrt hielt
sie mich wahrscheinlich für einen schnarchlangweiligen Trauerkloß.
Damit war sie nicht die Einzige in unserer Schule.
»Ich weiß einfach nicht mehr, was ich noch kochen
soll!«
Meine Mutter sah so verzweifelt aus, dass sie mir
leidtat. Um ihr einen Gefallen zu tun, würgte ich zwei
Fischstäbchen hinunter und kaute ein paar Salatblätter. Später
hatte ich Magenschmerzen und hätte mich am liebsten übergeben, um
die Fischstäbchen wieder loszuwerden.
Jetzt wo ich nicht mehr nach Eulenbrook konnte,
wusste ich nicht, wohin, so als gäbe es für mich keinen anderen Ort
auf der Welt. Unser eigener Garten war winzig und aufgeräumt, mit
ein paar künstlich wirkenden Nadelbäumen im Miniaturformat und
einer rechteckigen Rasenfläche - pflegeleicht, wie meine Eltern
sagten.
Ins Schwimmbad mochte ich nicht. Da saßen sie alle
in Cliquen beisammen, rauchten und machten hämische Bemerkungen
über jeden, der nicht dazugehörte. Es war wie Spießrutenlaufen, im
Badeanzug zum Becken zu gehen.
»Sie denkt, sie ist schön, wenn sie ihr klapperndes
Gebein durch die Gegend schiebt.« Das hörte ich besonders oft von
den Mädchen. Sie begriffen nichts, wussten nicht, dass es mir nicht
darum ging, besonders schlank zu sein, dass ich seit der Sache mit
Ronja einfach keinen Appetit mehr hatte und mich zu jedem Bissen,
den ich schlucken sollte, zwingen musste.
Ungefähr eine halbe Fahrradstunde vom Städtchen
entfernt gab es einen kleinen See, aber auch der war im Sommer
total überlaufen. Ich wünschte, wir wären in Urlaub gefahren. Aber
meine Eltern hatten einen Fotoladen und wollten sich das Geschäft
mit den Touristen, die jetzt in unser altes Städtchen kamen, nicht
entgehen lassen.
In der folgenden Woche unternahm ich lange
Radtouren über die Hügel und durch die Felder. Dabei musste ich
immer an dem Waldstück vorbei, hinter dem Eulenbrook verborgen
lag.
Einmal sah ich den schwarzen Wagen aus der Zufahrt
kommen, machte rasch einen Schlenker und fuhr über die Böschung
zwischen die Büsche. Dort blieb ich stehen und wartete, bis sie
verschwunden waren.
Inzwischen glaube ich daran, dass das Schicksal
bestimmte Begegnungen für uns vorgesehen hat und dass wir ihnen
nicht ausweichen können, ganz gleich, was wir auch tun. So war es
mit mir und Arne Theisen.
Einige Tage später, an einem ungewöhnlich heißen
Julimorgen, machte ich mich mit dem Rad auf den Weg zum Waldsee.
Der frühe Morgen war die einzige Tageszeit, zu der ich den See, der
eigentlich mehr ein Weiher war, für mich hatte und ein paar Runden
in Ruhe schwimmen konnte.
Es war noch nicht einmal sieben Uhr, als ich über
den Kiesweg radelte und das Ufer mit dem dichten Schilfgürtel
erreichte. Teichrohrsänger flöteten leise irgendwo in den Binsen
und eine türkisfarbene Libelle düste im Zickzackflug vor mir
her.
Die Morgensonne lag mit sanftem Schimmer auf der
Wasseroberfläche, in der sich die Tannen und der Himmel schwarz und
golden spiegelten. Sofort umkreisten mich die ersten Mücken mit
raubgierigem Sirren.
Noch während ich aus meiner Jeans schlüpfte, hörte
ich gedämpftes Hufgetrappel aus der Ferne. Obwohl ich meinen Bikini
bereits anhatte, zog ich die Jeans wieder hoch. Keiner sollte meine
erbärmlich dünnen Oberschenkel sehen, die spitzen Knie und die
schaufelartigen Hüftknochen.
Schon tauchte ein sahnefarbener Pferdekopf mit
silbriger Mähne zwischen den Tannen auf. Dann sah ich den
Oberkörper des Reiters. Es war der Junge aus Eulenbrook. Er hatte
mich noch nicht bemerkt. Ich beobachtete, wie er das Pferd zügelte
und aus dem Sattel glitt. Jetzt kam auch sein Hund angerast, mit
fliegenden Schlappohren und hängender Zunge.
Der Junge führte das Pferd über den schmalen Pfad
zwischen den Schilfhalmen. Der Schimmel ging langsam ins seichte
Wasser, senkte die Nase und trank. Ich sah mich nach meinem Fahrrad
um, das an einem Baum lehnte. Wenn ich leise war, konnte ich
vielleicht unbemerkt verschwinden.
Eine Bewegung oder ein leises Knirschen meiner
Sandalen auf den Steinen verriet mich. Plötzlich bellte Bonnie, der
Labrador-Mischling. Das Pferd hob den Kopf. Wasser tropfte von
seinen Lippen und Nüstern.
Auch der Junge sah auf. Über die Schilfhalme hinweg
trafen sich unsere Blicke.
Trotzig dachte ich: Wieso soll ich eigentlich schon
wieder abhauen? Ich habe das gleiche Recht wie er, hier zu sein!
Der See gehört ihm nicht …
Vielleicht erkannte er mich nicht sofort. Er wandte
sich ab und redete leise mit dem Hund. Dann watete er durchs
seichte Wasser zu seinem Pferd und streichelte ihm den Hals.
Ich war schon beim Rad und wollte es zu einer
Uferstelle auf der anderen Seite des Sees schieben, aber als ich
die Hände auf die Lenkstange legte, hörte ich hinter mir ein
Hecheln.
Bonnie kam auf mich zugelaufen. Der Junge folgte
ihr.
Er war barfuß und trug ausgefranste
Jeansshorts.
»Warum läufst du vor mir weg?«, fragte er.
Ich spürte, dass ich rot wurde. »Vielleicht möchte
ich meine Ruhe haben.«
Jetzt stand er vor mir. Bonnie beschnupperte mich
und drückte die Stirn gegen meine Knie. Unwillkürlich ließ ich die
Hand sinken und berührte ihre Ohren. Sie waren weich wie Samt. Im
Hintergrund prustete das Pferd.
»Ich will dich nicht stören, aber warte einen
Augenblick. Ich hab etwas gefunden, einen Ohrring. Er hing in den
Brombeerranken. Gehört er dir?«
Ich starrte ihn an. Er hatte sandfarbene, fast
weiße Augenbrauen und auf seinem Nasenrücken schälte sich die Haut.
Auf seinem Kinn war eine winzige halbmondförmige Narbe. Seine
gebräunten Arme waren mit silbrigem Flaum bedeckt.
»Ja!«, sagte ich atemlos. »Das ist meiner! Was hast
du mit ihm gemacht?«
Eine Falte erschien zwischen seinen Brauen. »Ich
hab ihn weder weggeworfen noch verkauft, auch wenn du mir das
offenbar zutraust. Er liegt bei meinen Sachen im Wohnwagen. Du
kannst ihn dir holen.«
Ich schüttelte den Kopf. Bonnie stupste meine Hand
mit der Nase an, bis ich sie streichelte. »Warum nicht?«, fragte
er. »Du warst doch sicher nicht zum ersten Mal in
Eulenbrook.«
Wenigstens sagte er nicht: auf unserem Grundstück.
Das war ein Pluspunkt für ihn.
»Ich möchte nicht.«
»Aha. Soll ich dir den Ohrring bringen? Ich weiß
allerdings nicht, wie du heißt und wo du wohnst.«
Ich murmelte: »Das brauchst du nicht. Wir können
uns treffen.«
Kaum war es heraus, kamen mir schon Zweifel, ob er
mich vielleicht falsch verstehen würde und dachte, ich wollte ihn
anmachen. Doch er nickte und erwiderte nur: »Okay. Wann und
wo?«
Ich überlegte. »Morgen um diese Zeit an der
gleichen Stelle?«
»Gut. Ich hab den See erst gestern entdeckt. Bist
du jeden Morgen hier?«
»Nur ab und zu. Tagsüber ist es total voll.«
»Das hab ich schon gemerkt. Schade. Es ist so ein
schöner Platz.«
Eine Weile standen wir da und sahen zu, wie das
Pferd fast bis zum Bauch ins Wasser ging. Bonnie lief zum Ufer und
platschte ebenfalls in den See. Sie zerrte eine Schlingpflanze
hoch, schleuderte sie in die Luft, fing sie wieder auf und
schüttelte sie wie einen toten Fisch.
»Bonnie ist so glücklich hier«, sagte der Junge
unerwartet. »Wir haben bis jetzt in einer Großstadt gelebt.«
»Mit drei Pferden?«
Er fragte nicht, woher ich wusste, dass sie drei
Pferde hatten. »Sie waren in einem Reitstall untergestellt. Aber
irgendwie haben sie mir immer leidgetan. Tiere gehören in die
Natur.«
»Wir Menschen auch«, erwiderte ich
unwillkürlich.
Er musterte mich flüchtig. »Ja, auch wenn viele das
nicht mehr spüren.«
Irgendwo im Schilf quakte eine Ente. Dann
durchbrachen Stimmen und laute Musik die morgendliche Stille.
»Ich hab meinen Schnorchel vergessen!«, schrie
jemand. Und eine Frauenstimme übertönte das schmalzige Gedudel
eines Kassettenrekorders: »Frankie, hast du den Picknickkorb mit
den Spareribs dabei?«
Der Junge und ich wechselten einen Blick. »Das ist
erst der Anfang«, sagte ich.
»Hoffentlich kommen sie nicht hierher und machen
Zoff, weil Bonnie und Fee im Wasser sind.«
»Wieso denn?«
»Es gibt jede Menge Leute, die Tiere für
unhygienisch halten und meinen, sie würden das Wasser
verunreinigen. Dabei ist es genau umgekehrt. Wir Menschen sind’s
doch, die die Gewässer verschmutzen.«
»Dann sag es ihnen, falls sie kommen und
motzen.«
Er seufzte leicht. »Ich hab keinen Bock auf
Streit.«
»Wenn du nichts sagst, tu ich es. Es ist ungerecht,
und es schadet den Leuten nicht, wenn sie mal über ihre Dummheit
nachdenken. Tiere haben auf unserer Welt sowieso kaum noch
Rechte.«
Wir gingen jetzt nebeneinanderher zu der Stelle, an
der die Stute und der Labrador spielten. Bonnie sprang übermütig um
das Pferd herum und versuchte, es spielerisch in die Hinterbeine zu
zwicken. Die Stute schnaubte und prustete wie ein
Wasserspeier.
Während ich den beiden zusah, fühlte ich mich
plötzlich wie verwandelt. Es war, als hätte jemand einen bösen
Zauber von mir genommen. Die dumpfe Bedrückung und hoffnungslose
Leere, die nun schon so lange auf mir lastete, hob sich wie ein
dunkler Vorhang.
Vielleicht waren es die spielenden Tiere, ihre
Freude und Unbeschwertheit, die mir für Augenblicke eine Ahnung
davon zurückbrachten, wie ich mich einst gefühlt hatte, als mein
Leben noch in Ordnung war. Dass es auch mit Arne zu tun hatte, mit
seiner Gegenwart, begriff ich erst viel später.