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Nachts gingen weitere Gewitter nieder. Ich lag im
Bett und lauschte dem nahen und fernen Donnergrollen, sah Blitze
hinter den dünnen Vorhängen zucken und hörte, wie die Fichte im
Nachbargarten rauschte und ächzte.
Dabei dachte ich an Eulenbrook. Wenn das Haus erst
renoviert werden musste, gab es vielleicht noch eine Art
Gnadenfrist. Diesen Sommer konnten die Theisens bestimmt noch nicht
einziehen. Doch die Vorstellung, dass ein Pulk von Handwerkern dort
hämmerte und bohrte und die Stille des Hauses und des Gartens
störte, dass sie Schutt und Mörtel in die Büsche warfen und ätzende
Lösungen in den Teich kippten, war nicht viel besser. Eulenbrooks
Dornröschenschlaf war endgültig vorbei.
Am nächsten Morgen war der Himmel von Wolken
verhangen, die Luft schwül und drückend. Ich duschte und zog meinen
Badeanzug an, weil ich fand, dass ich darin nicht ganz so knochig
wie im Bikini wirkte. Dann schlüpfte ich in die alte Jeans, die ich
an den Knien abgeschnitten hatte, und suchte mein bestes Seidentop
aus dem Schrank.
Meine Mutter stand vor der Badezimmertür. Sie war
gerade erst aufgestanden.
»Fährst du zum Waldsee?«, fragte sie.
Ich nickte.
»Und hast du schon gefrühstückt?«
»Nein«, sagte ich. »Aber ich nehme Obst mit.«
»Du musst etwas Richtiges essen! Komm, ich mach dir
rasch ein kleines Picknick zurecht …«
Widerstrebend wartete ich, nahm den Korb mit nach
unten und schnallte ihn auf dem Gepäckträger fest. Draußen war es
heiß wie in einem Brutofen. Schon fünf Minuten später, als ich den
Rand unseres Städtchens erreichte, war ich nass geschwitzt.
Die Stechmücken empfingen mich wie ein Schwarm von
Vampiren, noch ehe der See richtig in Sicht kam. Schweißbedeckte
Haut rochen oder spürten sie offenbar schon von Weitem.
Auch ich roch etwas von Weitem: Pferde. Erst jetzt
gestand ich mir ein, dass ich gehofft hatte, Arne wieder hier zu
begegnen, so wie gestern und vorgestern.
Ich traf ihn wirklich an der gleichen Stelle,
zusammen mit seiner Stute Fee und der Hündin Bonnie. Doch sie waren
nicht allein. Ein blondes Mädchen war bei ihnen und neben Fee stand
ein zweites Pferd mit kupferroter Mähne.
Wenn es möglich gewesen wäre, ungesehen wieder zu
verschwinden, wäre ich umgekehrt. Doch schon kam mir Bonnie
kläffend entgegengerannt und Fee reckte den Kopf und spitzte die
Ohren.
Auch Arne sah in meine Richtung. Das Mädchen saß
neben ihm im Gras, die Arme um ihre Knie geschlungen. Sie trug
einen Bikini und war sehr schlank, hatte aber die richtigen
Rundungen an der richtigen Stelle.
Jetzt erkannte ich sie wieder. Ich hatte sie schon
einmal gesehen: in Eulenbrook, beim Ausladen der Pferde.
Ich stieg vom Rad und streichelte Bonnie,
unschlüssig, wie ich mich verhalten sollte. Arne war aufgestanden
und kam langsam auf mich zu.
»Hi!«, sagte er. »Hoffentlich haben wir uns nicht
auf deinem Platz breitgemacht.«
Beinahe hätte ich geantwortet: Das tut ihr doch
ständig! Stattdessen murmelte ich nur: »Hallo.«
Das Mädchen sah abwartend zu mir herüber. Sie hatte
schulterlanges silberblondes Haar und blaugrüne Augen und erinnerte
mich an die kleine Seejungfrau in Andersens Märchen.
»Setz dich doch zu uns«, sagte Arne.
Das Mädchen schwieg noch immer. Als sie das Gesicht
wieder abwandte, sah ich, wie ähnlich ihr Profil dem von Arne war.
Sie musste seine Schwester sein.
Sekundenlang wusste ich nicht, was ich antworten
sollte. Dann schob ich mein Fahrrad weiter. »Lasst euch nicht
stören«, murmelte ich. »Ich wollte sowieso nur ein paar Runden
schwimmen und dann wieder verschwinden. Die Mücken sind abartig
lästig.«
Ich sorgte dafür, dass das halbe Seeufer zwischen
mir und den beiden lag. Trotzdem hörte ich Bonnie bellen und sah
die Köpfe der Pferde, die zwischen dem Schilf im Wasser standen,
während ich auf der anderen Seite des Waldsees badete.
Plötzlich vermisste ich Ronja wieder so sehr, dass
es sich anfühlte, als würde sich mein Herz zusammenkrampfen. Ich
sah ihre lachenden Augen mit quälender Deutlichkeit vor mir, das
Grübchen in ihrem Kinn, den Schwung ihrer Lippen. Dort drüben saßen
die beiden Geschwister mit ihrem Hund. Ich war wieder einmal
ausgeschlossen und allein.
Vielleicht würde das jetzt immer so sein, mein
ganzes Leben lang.
Als ich aus dem Wasser kam, stürzten sich die
Mücken sofort auf mich, umkreisten mich mit ekelhaftem Sirren und
ließen sich einfach nicht vertreiben. Obwohl es verteufelt heiß
war, zog ich mich wieder an, um es ihnen nicht ganz so leicht zu
machen.
Vielleicht war es besser, wenn ich wieder nach
Hause fuhr, auch wenn ich nicht wusste, was ich dort machen sollte.
Ich wedelte mit meinem Badetuch in der Luft herum und hörte vom
Ufer her Geplansche und lautes Schnaufen. Zwischen den Schilfhalmen
tauchte Bonnies semmelfarbener Kopf auf. Sie kam an Land, nass wie
ein Biber, schüttelte sich und trabte auf mich zu.
Erst jetzt sah ich, dass sie etwas im Maul hielt,
was wie eine zusammengeknüllte Plastiktüte aussah. Heftig wedelnd
umkreiste sie mich, setzte sich dann vor mich hin und sah
erwartungsvoll zu mir auf.
»Hi, Bonnie!«, sagte ich. »Hast du mir was
mitgebracht?«
Ich hätte schwören können, dass ihre Augen lachten.
Sie öffnete das Maul und ließ das Ding fallen, das sie zwischen den
Zähnen gehalten hatte. Es war wirklich eine zusammengerollte, mit
einem roten Gummiband umwickelte Plastiktüte.
Bonnie wedelte wieder mit dem Schwanz und
beobachtete mich ständig mit diesem erwartungsvollen Blick. Es war,
als wollte sie sagen: Los doch, mach’s endlich auf, es ist für
dich!
Ich entfernte das Gummiband und öffnete die nasse
Tüte. Der Inhalt war trocken geblieben. Eine Art Stift lag in der
Tüte, eingehüllt in einen Fetzen Papier und umwickelt mit einem
weiteren Gummiband. Auf dem Papier stand in Krakelschrift: Tod den
Vampiren!
Es war ein Mückenstift. Ich musste lachen. Bonnie,
die mich nicht aus den Augen gelassen hatte, wedelte
begeistert.
Ich drückte ihr einen Kuss auf die nasse Nase und
rieb mich gründlich mit dem Stift ein, während Bonnie sich
genießerisch auf meinem Badetuch wälzte.
Wenn ich einen Stift dabeigehabt hätte, hätte ich
»Danke!« auf den Zettel geschrieben. Stattdessen pflückte ich ein
Gänseblümchen, befestigte es mit einem der beiden Gummibänder am
Mückenstift, steckte ihn in die Tüte zurück, rollte sie zusammen,
umwickelte sie mit dem zweiten Gummiband und hielt sie Bonnie unter
die Nase.
»Da!«, sagte ich. »Bring das zurück! Bitte bring es
zu Arne. Hast du mich verstanden?«
Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie genickt
hätte. Vorsichtig nahm sie das Päckchen zwischen die Zähne, stand
auf, drehte sich um und wandelte würdevoll davon, diesmal nicht ins
Wasser, sondern am Schilfgürtel des Ufers entlang. Ihr stämmiges
Hinterteil mit dem hoch aufgerichteten Schwanz zeigte deutlich, wie
stolz und wichtig sie sich fühlte.
Ich blieb noch fast eine Stunde und wartete
irgendwie darauf, dass noch etwas passieren würde - was, wusste ich
nicht so genau. Die Mücken ließen mich jetzt einigermaßen in Ruhe.
Dafür tauchten die ersten Badegäste auf, legten sich ganz in meine
Nähe und schnatterten wie verrückt. Ins Wasser wollte ich nicht
mehr gehen, weil ich dachte, dass die wunderbare Wirkung des Stifts
dann wieder verfliegen würde.
Als noch ein paar Typen aus meiner Schule mit ihren
Rollern angebrettert kamen, sich mit lautem Geschrei ins Wasser
stürzten und wild um sich spritzten, stieg ich aufs Rad und fuhr
davon. Dabei machte ich einen großen Bogen um die Stelle, an der
ich Arne und seine Schwester getroffen hatte. Sie sollten nicht
denken, dass ich mich anbiedern wollte, falls sie noch da
waren.
Das Haus war leer, als ich zurückkam. Auf dem
Küchentisch lag einer von Mamas Zetteln. »Essen ist im
Kühlschrank«, stand darauf. »Mach es dir warm. Nicht
vergessen!«
Ich setzte mich auf die Terrasse, aber da war es so
heiß, dass ich wieder ins Haus ging und kalt duschte. Als ich die
Jeansshorts auszog, hörte ich Arnes Zettel in der Gesäßtasche
rascheln.
Später nahm ich den Zettel mit in mein Zimmer und
lehnte ihn gegen Ronjas Foto, das in einem Holzrahmen auf dem
Schreibtisch stand. Die Krakelschrift war feucht geworden und etwas
zerflossen, aber ich konnte die Botschaft noch immer entziffern:
Tod den Vampiren!