12
Den kommenden Nachmittag hatte ich mir extra freigehalten, um Arne bei der neuen Koppel zu helfen, und deswegen fast Stress mit meinem Vater bekommen, der mich im Laden gebraucht hätte. Jetzt aber überlegte ich, ob ich nicht einfach wegbleiben sollte, wenn Erik und Lily kamen. Ich gehörte nicht dazu. Mit Arne wären mir solche Gedanken nie gekommen, es gab keine Unterschiede zwischen uns, auch wenn sein Vater ein viel größeres Haus besaß als wir, Tausende von Quadratmetern Grund und drei Pferde hatte und einen Beruf, für den man einen Universitätsabschluss brauchte. Neben Arne hätte ich mich nie minderwertig gefühlt, selbst dann nicht, wenn er aus einer reichen oder adligen Familie gekommen wäre. Er kümmerte sich nicht um soziale Unterschiede. Für ihn zählten andere Dinge.
Seinetwegen - weil ich es ihm versprochen hatte und weil die Herbstkoppel schließlich auch für Lara gebraucht wurde - radelte ich am folgenden Tag nach der Schule doch nach Eulenbrook, statt der Versuchung nachzugeben, mich in meinem Zimmer zu verkriechen.
Noch war keiner gekommen. Die restlichen Pfosten lagen auf einem unordentlichen Haufen, dort, wo wir sie zurückgelassen hatten. Der Schreiner hatte einen Stapel riesiger grüner Drahtrollen vor dem Gatter abgeladen.
An diesem Tag kam mir Lara entgegen. Das hatte sie bis jetzt noch nie getan. Sie ging langsam, den Kopf erhoben, und sah mich an, als hätte sie auf mich gewartet.
Ein warmes Glücksgefühl durchrieselte mich. Lara kam zu mir! Ich gab ihr die Apfelschnitze, die ich für sie eingepackt hatte, und redete leise mit ihr, während sie kaute und der Saft von ihren Lippen tropfte. In ihren dunklen Augen spiegelten sich die Bäume und ich sah mein Gesicht darin, winzig klein und seltsam unwirklich wie ein Bild in einer Zauberkugel. Zärtlich streichelte ich ihren Hals und sagte ihr, dass die schweren Zeiten jetzt überstanden waren.
»Du wirst wieder gesund und schön«, flüsterte ich. »Und du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich passe auf dich auf und Arne auch. Keiner wird dir je wieder etwas Böses antun. Bald kommst du zusammen mit Fee und Jago und Robin auf eine neue Weide mit frischem Gras. Im Winter habt ihr einen schönen Stall mit viel Platz und Licht, ganz anders als deine miese alte Box in der Reitschule …«
Es begann zu regnen, ein leichter, warmer Regen, der das Gras zum Duften brachte und den würzigen Geruch nach Pferden verstärkte, der über der Koppel hing. Hinter den Wäldern zog eine Wolkenwand in düsteren, geheimnisvollen Violett- und Blautönen auf, und die Amseln begannen zu singen, als wollten sie den Regen begrüßen.
Arne hatte zwei Plastikumhänge dabei. Wieder einmal staunte ich darüber, wie fürsorglich und praktisch er war.
»Du bist gekommen!«, sagte er, als hätte er gespürt, mit welchen Zweifeln ich mich herumgeschlagen hatte. »Auf dich kann man sich verlassen.«
Ich erwiderte sein Lächeln und merkte, dass ich rot wurde. Er sah mich an, senkte rasch den Blick und murmelte: »Gut, dass du Gummistiefel angezogen hast - heute kommt sicher noch einiges herunter. Aber wir müssen froh sein, es hat in diesem Sommer viel zu wenig geregnet.«
Während wir die Pfosten am westlichen Ende der neuen Koppel einschlugen, wurde der Regen heftiger. Von Lily und Erik war nichts zu sehen. Ich fragte nach Elisa.
»Die ist vor einer Stunde losgeritten. Ich glaube, sie wollte die beiden Goldlöffel abholen.«
»Goldlöffel?« Ich musste lachen. »Warum nennst du sie so?«
Er zuckte mit den Schultern. »Kennst du nicht den Ausdruck, dass jemand mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wird? Daran muss ich immer denken, wenn ich Erik und Lily sehe. Im Grunde können sie nichts dafür, dass sie reiche Eltern haben und denken, die ganze Welt müsste ihnen die Füße küssen.«
»Aber es gibt auch Leute, die Geld haben und trotzdem normal und bescheiden bleiben.«
»Das kommt vielleicht auf die Eltern an«, erwiderte Arne.
Der Pfosten, den wir gerade einschlagen wollten, neigte sich zur Seite wie ein betrunkener Seemann, und wir mussten ihn wieder aus dem Boden stemmen und es erneut versuchen. Das Regenwasser tropfte uns vom Kapuzenrand über die Nasenspitzen und das Kinn in den Halsausschnitt. Schon begann der Boden aufzuweichen und wir blieben immer wieder mit den Stiefeln im feuchten Erdreich stecken. Es war alles andere als gemütlich. Trotzdem werkelten wir verbissen weiter.
»Die kommen nicht!«, murmelte Arne schließlich. »Hätte mich auch gewundert. Das Wetter ist ihnen zu mies, da müssten sie sich mal richtig die Hände schmutzig machen.« Er wischte sich mit dem Handrücken das Wasser aus den Augen. »Möchtest du aufhören?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt schlagen wir noch die restlichen Pfosten ein. Mit dem Draht können wir morgen anfangen.«
Doch noch während ich das sagte, fiel mir ein, dass ich versprochen hatte, morgen Nachmittag im Laden zu helfen. »Mist! Morgen geht’s bei mir leider doch nicht!«
»Mach dir keinen Stress, übermorgen ist auch noch Zeit. Hauptsache, wir haben die Koppel bis Ende der Woche eingezäunt.« Arnes Gesicht glänzte vor Nässe. Die Kapuze war ihm tief in die Stirn gerutscht und verlieh ihm ein abenteuerliches Aussehen.
»Die meisten stellen es sich immer so romantisch vor, Pferde zu halten. In Wirklichkeit ist’s jede Menge Arbeit, es sei denn, man hat solche Eltern wie Lily und Erik und kann sich einen Pferdepfleger leisten. Trotzdem kann ich mir ein Leben ohne Pferde nicht mehr vorstellen.«
Lara und Fee hatten sich vor dem Regen in die Schutzhütte geflüchtet, wo auch Bonnie lag, an einem alten Knochen nagte und darauf wartete, dass Arne endlich den Heimweg antrat. Jago stand unter den Bäumen und ließ den Kopf hängen; er sah so trübselig aus, wie nur Pferde im Freien bei strömendem Regen aussehen können.
Wir gingen zum Schuppen an der Gartenmauer, in dem das Futter aufbewahrt wurde, direkt neben der hinteren Pforte zu Eulenbrooks Garten. Arne stapfte mit schweren Schritten neben mir her. Seine Stiefel waren bis zum Schaft voller nasser Erdklumpen, genau wie meine, und verursachten beim Gehen schmatzende Geräusche. Unsere Jeansbeine sahen aus, als hätten wir uns im Schlamm gewälzt.
»Jetzt füttern wir noch rasch die Pferde und dann nichts wie unter die Dusche!«, sagte er. »Und trink heißes Zitronenwasser mit Whisky und braunem Zucker. Das ist ein schottisches Spezialrezept, damit einen die Grippe nicht erwischt. Übrigens müssen wir erst mal die Herbstzeitlosen ausrotten, ehe wir die Pferde auf die neue Weide bringen. Ich hab mindestens zwei Dutzend gesehen und bestimmt schießen bei dem Regen noch mehr davon aus dem Boden.«
Ich hatte sie auch entdeckt und hübsch gefunden, wie sie so elfenzart zwischen den Gräsern leuchteten. Dass sie giftig waren, wusste ich nicht.
»Die Pferde können ernsthaft krank werden, wenn sie ein paar von den Blüten fressen«, erklärte Arne. »Man muss höllisch aufpassen, dass die Wiesen frei davon sind. Es gibt sowieso mehr giftige Gewächse, als man denkt - Eiben, Goldregen, Schöllkraut, Lerchensporn, Buschwindröschen -, ich könnte dir auf Anhieb Dutzende von Pflanzen aufzählen.«
»Aber wissen die Pferde nicht selbst, was gut für sie ist und was ihnen schadet?«
Wir öffneten die Schuppentür, froh, dem Regen zu entkommen. Eine Maus huschte zwischen den Futtersäcken hervor und verschwand hinter einem Balken. Bonnie jagte ihr schnaubend und schnüffelnd nach.
»Sie wissen es genauso wenig wie die meisten Menschen. Kann sein, dass sie früher mal einen Instinkt dafür hatten, als sie noch Wildtiere waren.«
Im Dämmerlicht des Schuppens streckte Arne die Hand aus und wischte mir mit einer zarten, flüchtigen Bewegung das Wasser von der Wange. Einen Augenblick lang wollte ich seine Hand festhalten und an mein Gesicht drücken, doch ich tat es nicht.
»Danke«, sagte er.
»Du brauchst mir nicht zu danken! Die Koppel ist ja auch für Lara! Wieso denkst du immer, du allein wärst für alles verantwortlich?«
Er seufzte leicht. »Ja, du hast recht, das meine ich. Vielleicht weil ich mit Elisa immer in dieser Rolle war. Sie sorgt zwar für ihr eigenes Pferd, aber alles andere ist irgendwie meine Sache, und ich hab mir die Verantwortung aufs Auge drücken lassen.«
Er sagte es ganz sachlich, ohne Anklage gegen seine Schwester. »Sie findet es auch sicher nicht unfair, dass sie heute nicht aufgetaucht ist und uns mit den Pfosten allein gelassen hat. Wenn sie hilft, ist das total freiwillig; von mir erwartet sie aber, dass ich mich um alles kümmere. Und mein Vater hat einen stressigen Beruf. Er hilft sowieso, wo er kann.«
Ich füllte mit dem Messbecher Hafer in Laras Eimer, dazu eine Mischung aus zerstoßenen Oreganound Hopfenkräutern. Es fiel mir nicht leicht, ruhig zu bleiben und zu verschweigen, dass ich Elisa für eine verwöhnte, launische Person hielt, die nur an sich selbst dachte.
»Vielleicht würde es ihr nicht schaden, wenn sie auch mal einen Teil der Verantwortung übernehmen müsste«, murmelte ich nur. »Es tut den Leuten nicht immer gut, wenn man sie in ihrem Egotrip unterstützt.«
»Mhm, da hast du sicher recht. Aber wenn sich etwas eingespielt hat, ist es ziemlich schwierig, es nachträglich zu ändern. Ich hab schon oft versucht, ihr klarzumachen, dass sie sich unfair verhält, wenn sie von mir erwartet, dass ich den Stallburschen für sie spiele. Aber sie reagiert nur sauer und fühlt sich angegriffen.«
»Das ist auch eine Art, Kritik abzuwehren, um sich nicht ändern zu müssen«, sagte ich.
Wir breiteten Plastiksäcke über die Eimer, damit das Futter nicht nass wurde, luden alles auf die Schubkarre und schoben sie über die aufgeweichte Koppel zur Schutzhütte, wo inzwischen alle drei Pferde warteten. Elisa und Robin waren noch immer nicht aufgetaucht.
»Vielleicht steht Robin im Stall der Vandammes«, meinte Arne. »Erik wird Elisa bestimmt mit dem Auto zurückbringen, wenn es weiter so gießt.«
Nass und schmutzig radelte ich nach Hause. Meine Mutter machte einen gewaltigen Aufstand und zwang mich, ein heißes Bad zu nehmen. Sie mixte mir sogar den »Toddy« nach Arnes Rezept.
Trotzdem wachte ich am folgenden Morgen mit Kratzen im Hals auf. Nachmittags, als ich meinem Vater im Laden half, begann meine Nase, wie verrückt zu laufen. Abends hatte ich schon Gliederschmerzen und einen heißen Kopf.
Ich darf nicht krank werden!, dachte ich. Ich hab Arne versprochen, morgen mit ihm die Drähte um die Herbstkoppel zu ziehen. Er braucht mich, ich kann ihn nicht hängen lassen...
Doch nachts hatte ich Fieberträume und am nächsten Tag war ich richtig krank.