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Den kommenden Nachmittag hatte ich mir extra
freigehalten, um Arne bei der neuen Koppel zu helfen, und deswegen
fast Stress mit meinem Vater bekommen, der mich im Laden gebraucht
hätte. Jetzt aber überlegte ich, ob ich nicht einfach wegbleiben
sollte, wenn Erik und Lily kamen. Ich gehörte nicht dazu. Mit Arne
wären mir solche Gedanken nie gekommen, es gab keine Unterschiede
zwischen uns, auch wenn sein Vater ein viel größeres Haus besaß als
wir, Tausende von Quadratmetern Grund und drei Pferde hatte und
einen Beruf, für den man einen Universitätsabschluss brauchte.
Neben Arne hätte ich mich nie minderwertig gefühlt, selbst dann
nicht, wenn er aus einer reichen oder adligen Familie gekommen
wäre. Er kümmerte sich nicht um soziale Unterschiede. Für ihn
zählten andere Dinge.
Seinetwegen - weil ich es ihm versprochen hatte und
weil die Herbstkoppel schließlich auch für Lara gebraucht wurde -
radelte ich am folgenden Tag nach der Schule doch nach Eulenbrook,
statt der Versuchung nachzugeben, mich in meinem Zimmer zu
verkriechen.
Noch war keiner gekommen. Die restlichen Pfosten
lagen auf einem unordentlichen Haufen, dort, wo wir sie
zurückgelassen hatten. Der Schreiner hatte einen Stapel riesiger
grüner Drahtrollen vor dem Gatter abgeladen.
An diesem Tag kam mir Lara entgegen. Das hatte sie
bis jetzt noch nie getan. Sie ging langsam, den Kopf erhoben, und
sah mich an, als hätte sie auf mich gewartet.
Ein warmes Glücksgefühl durchrieselte mich. Lara
kam zu mir! Ich gab ihr die Apfelschnitze, die ich für sie
eingepackt hatte, und redete leise mit ihr, während sie kaute und
der Saft von ihren Lippen tropfte. In ihren dunklen Augen
spiegelten sich die Bäume und ich sah mein Gesicht darin, winzig
klein und seltsam unwirklich wie ein Bild in einer Zauberkugel.
Zärtlich streichelte ich ihren Hals und sagte ihr, dass die
schweren Zeiten jetzt überstanden waren.
»Du wirst wieder gesund und schön«, flüsterte ich.
»Und du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich passe auf dich auf
und Arne auch. Keiner wird dir je wieder etwas Böses antun. Bald
kommst du zusammen mit Fee und Jago und Robin auf eine neue Weide
mit frischem Gras. Im Winter habt ihr einen schönen Stall mit viel
Platz und Licht, ganz anders als deine miese alte Box in der
Reitschule …«
Es begann zu regnen, ein leichter, warmer Regen,
der das Gras zum Duften brachte und den würzigen Geruch nach
Pferden verstärkte, der über der Koppel hing. Hinter den Wäldern
zog eine Wolkenwand in düsteren, geheimnisvollen Violett- und
Blautönen auf, und die Amseln begannen zu singen, als wollten sie
den Regen begrüßen.
Arne hatte zwei Plastikumhänge dabei. Wieder einmal
staunte ich darüber, wie fürsorglich und praktisch er war.
»Du bist gekommen!«, sagte er, als hätte er
gespürt, mit welchen Zweifeln ich mich herumgeschlagen hatte. »Auf
dich kann man sich verlassen.«
Ich erwiderte sein Lächeln und merkte, dass ich rot
wurde. Er sah mich an, senkte rasch den Blick und murmelte: »Gut,
dass du Gummistiefel angezogen hast - heute kommt sicher noch
einiges herunter. Aber wir müssen froh sein, es hat in diesem
Sommer viel zu wenig geregnet.«
Während wir die Pfosten am westlichen Ende der
neuen Koppel einschlugen, wurde der Regen heftiger. Von Lily und
Erik war nichts zu sehen. Ich fragte nach Elisa.
»Die ist vor einer Stunde losgeritten. Ich glaube,
sie wollte die beiden Goldlöffel abholen.«
»Goldlöffel?« Ich musste lachen. »Warum nennst du
sie so?«
Er zuckte mit den Schultern. »Kennst du nicht den
Ausdruck, dass jemand mit einem goldenen Löffel im Mund geboren
wird? Daran muss ich immer denken, wenn ich Erik und Lily sehe. Im
Grunde können sie nichts dafür, dass sie reiche Eltern haben und
denken, die ganze Welt müsste ihnen die Füße küssen.«
»Aber es gibt auch Leute, die Geld haben und
trotzdem normal und bescheiden bleiben.«
»Das kommt vielleicht auf die Eltern an«, erwiderte
Arne.
Der Pfosten, den wir gerade einschlagen wollten,
neigte sich zur Seite wie ein betrunkener Seemann, und wir mussten
ihn wieder aus dem Boden stemmen und es erneut versuchen. Das
Regenwasser tropfte uns vom Kapuzenrand über die Nasenspitzen und
das Kinn in den Halsausschnitt. Schon begann der Boden aufzuweichen
und wir blieben immer wieder mit den Stiefeln im feuchten Erdreich
stecken. Es war alles andere als gemütlich. Trotzdem werkelten wir
verbissen weiter.
»Die kommen nicht!«, murmelte Arne schließlich.
»Hätte mich auch gewundert. Das Wetter ist ihnen zu mies, da
müssten sie sich mal richtig die Hände schmutzig machen.« Er
wischte sich mit dem Handrücken das Wasser aus den Augen. »Möchtest
du aufhören?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt schlagen wir
noch die restlichen Pfosten ein. Mit dem Draht können wir morgen
anfangen.«
Doch noch während ich das sagte, fiel mir ein, dass
ich versprochen hatte, morgen Nachmittag im Laden zu helfen. »Mist!
Morgen geht’s bei mir leider doch nicht!«
»Mach dir keinen Stress, übermorgen ist auch noch
Zeit. Hauptsache, wir haben die Koppel bis Ende der Woche
eingezäunt.« Arnes Gesicht glänzte vor Nässe. Die Kapuze war ihm
tief in die Stirn gerutscht und verlieh ihm ein abenteuerliches
Aussehen.
»Die meisten stellen es sich immer so romantisch
vor, Pferde zu halten. In Wirklichkeit ist’s jede Menge Arbeit, es
sei denn, man hat solche Eltern wie Lily und Erik und kann sich
einen Pferdepfleger leisten. Trotzdem kann ich mir ein Leben ohne
Pferde nicht mehr vorstellen.«
Lara und Fee hatten sich vor dem Regen in die
Schutzhütte geflüchtet, wo auch Bonnie lag, an einem alten Knochen
nagte und darauf wartete, dass Arne endlich den Heimweg antrat.
Jago stand unter den Bäumen und ließ den Kopf hängen; er sah so
trübselig aus, wie nur Pferde im Freien bei strömendem Regen
aussehen können.
Wir gingen zum Schuppen an der Gartenmauer, in dem
das Futter aufbewahrt wurde, direkt neben der hinteren Pforte zu
Eulenbrooks Garten. Arne stapfte mit schweren Schritten neben mir
her. Seine Stiefel waren bis zum Schaft voller nasser Erdklumpen,
genau wie meine, und verursachten beim Gehen schmatzende Geräusche.
Unsere Jeansbeine sahen aus, als hätten wir uns im Schlamm
gewälzt.
»Jetzt füttern wir noch rasch die Pferde und dann
nichts wie unter die Dusche!«, sagte er. »Und trink heißes
Zitronenwasser mit Whisky und braunem Zucker. Das ist ein
schottisches Spezialrezept, damit einen die Grippe nicht erwischt.
Übrigens müssen wir erst mal die Herbstzeitlosen ausrotten, ehe wir
die Pferde auf die neue Weide bringen. Ich hab mindestens zwei
Dutzend gesehen und bestimmt schießen bei dem Regen noch mehr davon
aus dem Boden.«
Ich hatte sie auch entdeckt und hübsch gefunden,
wie sie so elfenzart zwischen den Gräsern leuchteten. Dass sie
giftig waren, wusste ich nicht.
»Die Pferde können ernsthaft krank werden, wenn sie
ein paar von den Blüten fressen«, erklärte Arne. »Man muss höllisch
aufpassen, dass die Wiesen frei davon sind. Es gibt sowieso mehr
giftige Gewächse, als man denkt - Eiben, Goldregen, Schöllkraut,
Lerchensporn, Buschwindröschen -, ich könnte dir auf Anhieb
Dutzende von Pflanzen aufzählen.«
»Aber wissen die Pferde nicht selbst, was gut für
sie ist und was ihnen schadet?«
Wir öffneten die Schuppentür, froh, dem Regen zu
entkommen. Eine Maus huschte zwischen den Futtersäcken hervor und
verschwand hinter einem Balken. Bonnie jagte ihr schnaubend und
schnüffelnd nach.
»Sie wissen es genauso wenig wie die meisten
Menschen. Kann sein, dass sie früher mal einen Instinkt dafür
hatten, als sie noch Wildtiere waren.«
Im Dämmerlicht des Schuppens streckte Arne die Hand
aus und wischte mir mit einer zarten, flüchtigen Bewegung das
Wasser von der Wange. Einen Augenblick lang wollte ich seine Hand
festhalten und an mein Gesicht drücken, doch ich tat es
nicht.
»Danke«, sagte er.
»Du brauchst mir nicht zu danken! Die Koppel ist ja
auch für Lara! Wieso denkst du immer, du allein wärst für alles
verantwortlich?«
Er seufzte leicht. »Ja, du hast recht, das meine
ich. Vielleicht weil ich mit Elisa immer in dieser Rolle war. Sie
sorgt zwar für ihr eigenes Pferd, aber alles andere ist irgendwie
meine Sache, und ich hab mir die Verantwortung aufs Auge drücken
lassen.«
Er sagte es ganz sachlich, ohne Anklage gegen seine
Schwester. »Sie findet es auch sicher nicht unfair, dass sie heute
nicht aufgetaucht ist und uns mit den Pfosten allein gelassen hat.
Wenn sie hilft, ist das total freiwillig; von mir erwartet sie
aber, dass ich mich um alles kümmere. Und mein Vater hat einen
stressigen Beruf. Er hilft sowieso, wo er kann.«
Ich füllte mit dem Messbecher Hafer in Laras Eimer,
dazu eine Mischung aus zerstoßenen Oreganound Hopfenkräutern. Es
fiel mir nicht leicht, ruhig zu bleiben und zu verschweigen, dass
ich Elisa für eine verwöhnte, launische Person hielt, die nur an
sich selbst dachte.
»Vielleicht würde es ihr nicht schaden, wenn sie
auch mal einen Teil der Verantwortung übernehmen müsste«, murmelte
ich nur. »Es tut den Leuten nicht immer gut, wenn man sie in ihrem
Egotrip unterstützt.«
»Mhm, da hast du sicher recht. Aber wenn sich etwas
eingespielt hat, ist es ziemlich schwierig, es nachträglich zu
ändern. Ich hab schon oft versucht, ihr klarzumachen, dass sie sich
unfair verhält, wenn sie von mir erwartet, dass ich den
Stallburschen für sie spiele. Aber sie reagiert nur sauer und fühlt
sich angegriffen.«
»Das ist auch eine Art, Kritik abzuwehren, um sich
nicht ändern zu müssen«, sagte ich.
Wir breiteten Plastiksäcke über die Eimer, damit
das Futter nicht nass wurde, luden alles auf die Schubkarre und
schoben sie über die aufgeweichte Koppel zur Schutzhütte, wo
inzwischen alle drei Pferde warteten. Elisa und Robin waren noch
immer nicht aufgetaucht.
»Vielleicht steht Robin im Stall der Vandammes«,
meinte Arne. »Erik wird Elisa bestimmt mit dem Auto zurückbringen,
wenn es weiter so gießt.«
Nass und schmutzig radelte ich nach Hause. Meine
Mutter machte einen gewaltigen Aufstand und zwang mich, ein heißes
Bad zu nehmen. Sie mixte mir sogar den »Toddy« nach Arnes
Rezept.
Trotzdem wachte ich am folgenden Morgen mit Kratzen
im Hals auf. Nachmittags, als ich meinem Vater im Laden half,
begann meine Nase, wie verrückt zu laufen. Abends hatte ich schon
Gliederschmerzen und einen heißen Kopf.
Ich darf nicht krank werden!, dachte ich. Ich hab
Arne versprochen, morgen mit ihm die Drähte um die Herbstkoppel zu
ziehen. Er braucht mich, ich kann ihn nicht hängen lassen...
Doch nachts hatte ich Fieberträume und am nächsten
Tag war ich richtig krank.