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Wir waren Schicksalsgefährten, Lara und ich.
Ich wusste das schon in diesem ersten Sommer, in dem sie zu mir kam. Wir hatten beide eine üble Zeit hinter uns, jede auf ihre Weise, und diese Zeit - zwei Jahre waren es bei mir, bei Lara sicher mehr - hatte ihre Wunden hinterlassen. Wie tief Laras Wunden waren, begriff ich nur langsam.
»Wie dünn sie ist!«, sagte meine Mutter, als sie die rotbraune Stute zum ersten Mal sah. Ihr Seitenblick auf mich verriet, was sie nicht aussprach: genau wie du.
Sicher gibt es eine Menge Leute, die finden, dass man ein Tier nicht mit einem Menschen vergleichen kann, aber ich bin anderer Meinung. Tiere können genauso tief wie wir Schmerz und Angst, Freude und Liebe empfinden. Und sie können ebenso leiden wie wir. Sie haben nur keine Worte, um es auszusprechen, doch sie drücken ihre Gefühle auf andere Weise aus. Wer ihre Körpersprache und den Ausdruck in ihren Augen nicht deuten kann, wird nie lernen, sie zu verstehen, und nicht begreifen, wie ähnlich sie uns sind - »unsere kleinen Brüder«, wie die Indianer sagen.
Diesen Spruch kannte ich von Arne, der in diesem Sommer ebenfalls in mein Leben trat. Anfangs hätte ich ihn am liebsten zum Teufel geschickt. Später wusste ich, dass sich erst durch ihn für mich und auch für Lara alles zum Guten wendete.
»Ich lerne unheimlich viel von dir!«, sagte ich an einem Samstag Ende August zu ihm, als wir auf der Koppel standen und Fee bürsteten, Arnes Stute. Sie hatte sich in einer Schlammkuhle beim Bach gewälzt und war an den Flanken und an der Hinterhand mit einer schwärzlichen Dreckkruste überzogen. Nur am Kopf und an der Brust sah man noch die schöne Farbe ihres Fells, hell wie Schlagsahne, und Schweif und Mähne silbrigweiß wie unberührter Sand. Arne lächelte und streckte den Rücken. »Wie man Pferde putzt, meinst du? Das hättest du auch ohne mich gelernt.«
Wie immer wehrte er Anerkennung oder Lob ab, es machte ihn verlegen.
»Du weißt genau, was ich meine«, sagte ich. »Du bringst mir das Reiten bei. Und ich kriege langsam eine Ahnung davon, wie man mit Pferden umgeht.«
Doch das war es nicht allein. Irgendwie hatte er es auch geschafft, mir zu zeigen, dass das Leben schön sein konnte, sogar ohne Ronja, dass es nicht nur aus einer Kette von trüben, hoffnungslosen Tagen bestand.
Die Stirn an Fees Hals gedrückt, murmelte er: »Ich bin ein ziemlich bescheidener Lehrer. Aber du machst Fortschritte, hast du das gemerkt?«
»Bescheidene«, sagte ich, und wir lachten uns über unsere ausgestreckten Hände mit den Bürsten hinweg an.
Lara stand am Zaun, der die beiden Koppeln trennte. Vor fast drei Wochen hatten wir sie nach Eulenbrook gebracht. Wir ließen sie noch immer allein auf ihrer kleinen Weide stehen, da wir nicht sicher waren, wie sie mit den anderen Pferden - Fee, Jago und Robin - zurechtkommen würde. Sie schien eine Einzelgängerin zu sein, war nach wie vor sehr scheu und voller Ängste und kümmerte sich kaum um die andere Stute und die beiden Wallache.
Die Einzige, die sie manchmal mit gespitzten Ohren beobachtete, war Bonnie, Arnes Labrador-Mischlingshündin. Vielleicht hatte es in Laras früherem Leben ja einmal einen ähnlichen Hund gegeben, der wie Bonnie übermütig durch die Wiesen gerannt war und schnaubend in Maulwurfshügeln gewühlt hatte.
Manchmal dachte ich, dass Bonnie so ziemlich die Einzige war, vor der Lara keine Angst hatte. Sogar Schwalben, die in niedrigem Flug über die Koppeln segelten, konnten sie so erschrecken, dass sie entsetzte Luftsprünge machte und ihr durchdringendes Panikgewieher ausstieß.
Dass sie jetzt am Zaun stand und zu uns herübersah, deutete ich als gutes Zeichen.
»Ich bin immer happy, wenn Lara für irgendwas in ihrer Umgebung Interesse zeigt«, sagte auch Arne. »Wir müssen sie heute unbedingt noch putzen, sie sieht wie ein Erdferkel aus.«
Laras Fellpflege war eines der vielen Probleme, mit denen wir zu kämpfen hatten. Sie ließ sich an einigen Körperstellen nur ungern berühren, scheute zurück, wenn man es am wenigsten erwartete, riss sich los und stürmte davon. Dann stand man mit seiner Bürste in der Landschaft und machte ein dummes Gesicht.
»Aber ihre Haut hat sich gebessert«, sagte ich, wie um mich selbst zu trösten. »Die verkrusteten Stellen sind fast verschwunden. Wahrscheinlich hilft der Tee, den wir ihr jeden Tag ins Futter mischen.«
»Oder die homöopathischen Kügelchen, die Doktor Jansen uns für sie gegeben hat. Und die frische Luft und das gute Futter. Es ist wohl alles zusammen.«
Arne fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und hinterließ einen Schmutzstreifen. »Nur mit ihren Hufen sieht’s noch nicht besonders gut aus. Das wird eine längere Geschichte werden. Strahlfäule heilt nicht so schnell aus.«
Jetzt ließ Lara wieder einmal den Kopf hängen. Die Fliegen surrten um ihre Nase und setzten sich auf ihre Augen. Ich legte die Bürste ins Gras, zog das Fläschchen mit Citronell-Öl aus der Jeanstasche, ging zu ihr und fing an, sie mit dem scharf riechenden Öl zu betupfen - am Hals, unter dem Kinn, um die Ohren herum und auf der Blesse, die sich von ihrer Stirn bis zu den Nüstern zog.
Immerhin wich sie jetzt nicht mehr zurück, wenn ich sie berührte. Sie beschnupperte mich sogar leicht an der Schulter und blies mir ihren warmen Atem ins Haar.
Zur Abwechslung schwirrten die Fliegen jetzt um mich herum und folgten uns, als wir zum Bach gingen. Dort wusch ich Laras Augen mit dem klaren Wasser aus. Die Entzündung der Lidränder hatte nachgelassen, aber ihre Augen tränten noch immer, besonders wenn es windig war.
Bonnie kam uns nachgelaufen, planschte im seichten Wasser, sah mich herausfordernd an und kläffte. Ich warf einen Stein, und sie machte sich mit heftig wedelndem Schwanz auf die Suche danach, tauchte mit dem Kopf unter, scharrte mit den Vorderpfoten und schleppte schließlich einen anderen riesigen Stein ans Ufer, wo sie ihn sorgfältig an einer bestimmten Stelle neben einem Haufen anderer Steine ablegte, den wir »Bonnies Steinbruch« nannten.
Lara beobachtete sie aufmerksam. Das Wasser tropfte von ihren Nüstern, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, ein Funkeln in ihren Augen zu entdecken, das ich noch nie bemerkt hatte.
Dann kam Arne mit Fee und sagte: »Wir waschen beiden die Fesseln und säubern ihre Hufe. Vielleicht ist es einfacher mit Lara, wenn sie vorher sieht, dass Fee keine Probleme macht und alles ganz harmlos ist.«
Laras Hufpflege war immer eine verteufelte Prozedur, zu der man jede Menge Vorsicht und Geduld brauchte. Wir vermuteten, dass dabei früher jemand sehr grob mit ihr umgegangen war und sie vielleicht verletzt hatte.
So war es im Grunde mit allem. Die schlechten Erfahrungen, die Lara mit einigen ihrer Vorbesitzer - besonders mit dem letzten - gemacht hatte, hatten sie geprägt. Sie war voller Misstrauen und erwartete von jedem Menschen, der in ihre Nähe kam, erst einmal nur Übles. Arne war eine der wenigen Ausnahmen und auch mir vertraute sie jetzt Tag für Tag ein bisschen mehr.
Sie blieb in unserer Nähe, während wir Fees Fesseln und Hufe mit Schwamm, Bürsten und Hufkratzer reinigten. Fee machte keinerlei Probleme. Sie stand geduldig da und zuckte nur wegen der Fliegen ab und zu mit den Ohren, während ich nacheinander ihre Beine hob und die Hufe auskratzte.
Über uns kreisten Raubvögel, ließen sich vom Spätsommerwind tragen und stießen ihre wilden, klagenden Rufe aus.
Auf der anderen Seite des Zaunes lag Robin im Gras und döste.
Arne entfernte vorsichtig einen kleinen Stein aus Fees rechtem Hinterhuf und sagte: »Vielleicht könnten wir die beiden Stuten mal für einige Zeit zusammen auf Laras Koppel weiden lassen, was meinst du? Fees Gesellschaft würde Lara bestimmt guttun, sie ist ja total friedlich. Wenn wir Glück haben, werden die beiden sogar Freundinnen. So was gibt’s bei Pferden öfter.«
Ich nickte. Mein linkes Hosenbein war von unten bis oben klatschnass und voller Schmutz, mein helles T-Shirt sah aus, als hätte ich mich selbst im Schlamm gewälzt. Die Haare hingen mir ins Gesicht, aber ich hatte keine Hand frei, um sie im Nacken zusammenzubinden.
»Gute Idee. Daran habe ich auch schon mal gedacht. Die beiden vertragen sich ja anscheinend.«
Jetzt war Lara an der Reihe. Schnell wurde uns klar, dass der Anschauungsunterricht nichts genützt hatte. Sobald wir Lara ans Bachufer holten und den Hufkratzer in die Hand nahmen, wurde sie ängstlich, warf den Kopf zurück, schnaubte und versuchte, sich loszureißen.
Wir redeten mit Engelszungen auf sie ein. Arne massierte eines ihrer Ohren, was meistens eine beruhigende Wirkung auf sie hatte, und legte die freie Hand auf ihr Vorderbein, streichelte sie sanft und flüsterte leise Worte.
Ich nahm den Eimer, schöpfte Wasser und überspülte damit vorsichtig ihre Fessel, als wäre es ein Spiel. Nach einer Weile hörte sie auf, mit den Augen zu rollen, und wurde ruhiger.
Doch kaum versuchten wir, eines ihrer Beine zu heben, um an den Huf zu kommen, in dem sich Erdkrumen mit der dicken Schicht aus Heilsalbe zu einem zähen Schmutzfilm verbunden hatten, spannte sich jeder Muskel ihres Körpers.
Sie scheute wieder zurück und stieß ihr schrilles Angstgewieher aus. Wie immer ging es mir durch Mark und Bein, es verfolgte mich manchmal sogar bis in meine Träume - ein Klageschrei, der all die Schmerzen enthielt, die Menschen ihr in den sieben Jahren ihres Pferdelebens zugefügt hatten.
Arne und ich wechselten einen Blick. »Da müssen wir jetzt durch, alle drei«, murmelte er. »Irgendwann wird sie lernen, dass ihr bei uns nichts Böses passiert. Aber das dauert. Ich wollte, wir könnten es ihr erklären …«
Seltsamerweise war es wieder Bonnie, die die Lage entschärfte. Sie hatte ein Stück Holz gefunden und kam damit angetrabt, rannte um Lara, Arne und mich herum, legte den Stock vor Arne ins Gras und sah mit erwartungsvollen Augen zu ihm auf.
Vielleicht merkte Lara an ihrem Verhalten, wie groß das Vertrauen war, das die Hündin uns entgegenbrachte, vielleicht sprang auch ein Funke von Bonnies Lebensfreude auf sie über. Plötzlich lockerten sich ihre Muskeln, ihre Augen verloren den panischen Ausdruck. Sie ließ es zu, dass wir ihren Huf untersuchten und mit größter Vorsicht die festgeklebte Masse zwischen Fell, Haut und Horn entfernten.
Dabei redeten wir unaufhörlich mit ihr. »Das geht doch prima, siehst du, mein Mädchen?«, murmelte Arne, und ich sagte: »Wir müssen das sauber machen, damit deine Hufe heilen können, verstehst du? Keiner will dir etwas Böses antun, wir passen genau auf, dass es nicht wehtut …«
Arne griff nach der Salbe und strich die gesäuberten Vorderhufe dick damit ein. »So, das war schon mal der erste Streich, wie’s bei Wilhelm Busch heißt …«
Bei den Hinterhufen wurde Lara wieder unruhig, versuchte, sich loszumachen und zu entkommen. Ständig musste ich aufpassen und rasch zur Seite springen, wenn Lara wieder zu zappeln begann.
Wir waren alle drei geschafft, als ihre Hufe und Fesseln endlich einigermaßen gesäubert waren, und sahen wie nach einer Schlammschlacht aus.
»Wir sollten hier irgendwo eine Dusche haben«, sagte Arne, wischte sich Stirn und Nase mit dem Handrücken ab und verteilte den Schmutz dadurch regelmäßig im Gesicht.
»Es würde schon reichen, wenn wir den Bach so stauen könnten, dass ein kleines Becken entsteht.« Ich kauerte mich ins seichte Wasser, spülte meine Arme ab, schöpfte mit beiden Händen Wasser und wusch mir das Gesicht, so gut es ging.
»Ja, das machen wir nächstes Jahr. Im Moment gibt es so viel anderes zu tun, das wichtiger ist. Für den Herbst brauchen wir eine neue Koppel, da müssen Zäune gezogen werden. Und die Schutzhütte sollte vor dem Winter ausgebessert werden. Außerdem ist da auch noch die Schule, die mache ich leider nicht so mit links.«
Er schnitt eine Grimasse. Ein Kranz von Fältchen bildete sich um seine braunen Augen mit den goldenen Sprenkeln. Die Haut auf seinem Nasenrücken schälte sich schon wieder. Erdkrümel hingen in seinen hellen Augenbrauen.
Ich wandte den Blick ab, damit er nicht dachte, ich würde ihn anstarren.
»Bürsten wir noch rasch ihr Fell?«, fragte er. »Es muss ja nicht so gründlich sein, Hauptsache, der schlimmste Schmutz ist ab. Und dann gibt’s Ham-Ham.«
Ham-Ham war unser Codewort für Futter. Jetzt wo das Gras noch üppig wuchs, bekamen die Pferde hauptsächlich Karotten und ihre Haferration, für jedes eine bestimmte Menge, die genau abgemessen wurde.
Heute fütterten wir auch Robin, den Wallach, der Arnes Schwester gehörte, obwohl sie sich am liebsten selbst um ihn kümmerte. Doch wenn Fee, Lara und Jago ihr Futter bekamen, und Elisa war noch nicht da, konnten wir Robin unmöglich warten lassen. Die Gefahr, dass es aus Futterneid zu Beißereien zwischen ihm und den anderen kam, war zu groß.
Wie meistens nach der Arbeit mit den Pferden war ich ziemlich geschafft, als ich nach Hause kam. Dabei sollte ich für die Deutschstunde ein Referat vorbereiten und musste heute Nachmittag wenigstens ein Drittel davon schaffen. Morgen bekam ich Reitunterricht, und vorher wollten Arne und ich das Heu einbringen, das auf den Wiesen zwischen Eulenbrooks Gartenmauer und dem Wald ausgebreitet lag. Ein Bauer aus der Nachbarschaft hatte das Gras vor drei Tagen gemäht. Schon jetzt, im Spätsommer, war es Zeit, an die Wintervorräte für die Pferde zu denken.
Meine Mutter stand am Zaun und schnitt die Ligusterhecke.
»Gut siehst du aus!«, bemerkte sie. Ihre Stimme klang froh. »Schmutzig, aber glücklich. Und ich glaube, du hast zugenommen.«
Ich sah an mir hinunter. Meine Unterschenkel und Fesseln waren noch immer knochig wie Hühnerbeine, meine Arme und Hände dünn und braun wie bei einem Indianermädchen. Doch es stimmte, ich war nicht mehr so mager wie vor ein paar Wochen.
Die Zeit, in der ich kaum einen Bissen hinunterbrachte, ohne zu würgen und hinterher das Gefühl von Steinen im Magen zu haben, war vorbei.
Ich stellte mein Fahrrad ab. »Was gibt’s zum Abendessen?«, fragte ich.
Mama lachte. »Das war die schönste Frage, die ich seit Langem gehört habe«, sagte sie.