Kapitel 40
Neuzeit
Kaum näherte Meta sich der Musikanlage, hörte sie ein Stöhnen. »Müssen wir uns jetzt wieder dieses Klassikgedudel antun?«, fragte David, der eine Schale mit geriebenem Parmesan auf den Tisch stellte.
Es gelang Meta gerade noch so, ein pikiertes Hochziehen der Augenbrauen zu unterdrücken. Da die Diskussion über die richtige Musik einfach nicht abriss, hatte sie in einer solchen Situation mittlerweile Übung.Also atmete sie einmal tief durch und sagte dann mit einem nur leicht aufgesetzten Lächeln: »Wie wäre es mit einem Kompromiss?«
Misstrauisch legte David den Kopf schief. Dass er sich jedoch ein höhnisches Lachen und Widerworte sparte, machte es Meta leichter, einen Schritt weiter auf ihn zuzugehen, als sie eigentlich vorgehabt hatte. »Können wir uns vielleicht auf Tom Waits einigen?«
David nickte zustimmend. »Eins von den neuen Alben?«
»Übertreib es nicht«, hielt Meta dagegen und machte sich daran, die CD herauszusuchen. Während die ersten Akkorde eines Klavierspiels durch den großzügigen Raum klangen, sah Meta sich zufrieden um. Die Wände zeigten sich in einem Elfenbeinton, auf dem ein zartrotes Rosenmuster rankte. Auf der Konsole, die David auf dem Dachboden eines zu renovierenden Hauses gefunden und restauriert hatte, stand in einem Wust aus Kerzen, gläsernen Schatullen mit getrockneten Blüten und Porzellanfiguren eine mit Paisleymuster überzogene Schale, in der ein bunter Frühlingsblumenstrauß ruhte. Meta brauchte sich diese Zusammenstellung bloß anzusehen, um Eve pikiert seufzen zu hören. Kitsch, purer Kitsch. Allerdings klang dieses Geräusch nachVergangenheit und ließ sie bestenfalls schmunzeln.
Nach den Erlebnissen in der Arena hatte sie sich wie eine Besessene in die Arbeit gestürzt: Innerhalb der letzten Wochen hatte sie die neue Sparte im Galerieangebot etabliert und parallel dazu auch noch das Apartment in ein behagliches Zuhause verwandelt. Zwar hatte David sie dabei tatkräftig unterstützt und es dieses Mal sogar gewagt, eigene Vorstellungen bei der Gestaltung einzubringen - was zu ihrer eigenen Verwunderung sehr harmonisch verlaufen war -, aber er hatte sie die Hälfte der Zeit darum gebeten, endlich einmal einen Gang herunterzuschalten. Dabei hatte er stets so besorgt ausgesehen, dass es ihr fast das Herz brach. Doch sie hatte einfach nicht anders gekonnt. Die Vorstellung, zur Ruhe zu kommen und sich mit den Geschehnissen seit Tillmanns Überfall auseinanderzusetzen, hatte nur Panik in ihr ausgelöst. Es war passiert - und damit basta. Sie hatte einfach damit zurechtkommen wollen, genau wie mit dem Wissen, dass David seine Zeit nicht nur mit Halberland und einem eifrigen Jannik im Gefolge auf den Baustellen verbrachte, sondern auch gemeinsam mit seinem Rudel, dessen einzelne Mitglieder er behutsam zu einem eigenständigeren Leben anleitete. Bei seinen Bemühungen, den Wolf in einem jeden von ihnen zu stärken, damit sie nicht länger auf die unmittelbare Nähe des Rudels angewiesen waren, war Maggie ihm eine große Hilfe. Auf Metas Hilfe wollte er nach Möglichkeit verzichten, da ihm Saschas Worte über das sensible Machtgefüge noch in den Ohren klangen. Seine eigentliche Aufgabe sah er ohnehin darin, dem Rudel ein Leben zu ermöglichen, das sowohl den Wolf als auch den Menschen befriedigte. Hierin bestand die wahre Herausforderung, denn bislang gab es keine Vorbilder, und selbst David zuckte immer noch zusammen, wenn er sich Fremden gegenübersah, als befürchte er, sofort entlarvt zu werden.
Zwar fiel es Meta erstaunlich leicht, den Wolf, der in ihrem Liebsten hauste, nicht nur zu akzeptieren, sondern geradezu willkommen zu heißen, doch die Veränderungen und Erfahrungen der letzten Wochen waren zu massiv gewesen, um sich einfach so mit ihnen abfinden zu können. Ihre Gabe, den Wolf zu rufen und ihm als Hüter zu dienen, hatte Ängste ausgelöst, und sie spürte, dass es David ähnlich ging. Schließlich hatte auch er die Ereignisse in der Arena, als sie dem Dämon die Möglichkeit gegeben hatte, seine wahre Macht zu entfalten, nicht angesprochen. Ihr war sogar, als ob David sich vor dem Potenzial, das sie in ihm entfachen könnte, fürchtete. Auch Meta setzte die Vorstellung, was sie eigentlich war, nachträglich mehr zu als in dem Moment, da sie sich einfach nur auf ihren Instinkt verlassen hatte.
David machte sich immer noch in der Küche zu schaffen, und Meta ließ die letzten Wochen an sich vorüberziehen. Keine einfachen Wochen.
Mitten in einem Kundengespräch hatte sie die Fassung verloren: Von einem Moment zum anderen schien es ihr, als ob man sie in einem schwarzen Kellerloch gefangen hielt, aus dem es kein Entrinnen gab. Bevor sie sich versah, war Amelias verblutender Leib vor ihrem inneren Auge aufgeblitzt und hatte alles andere überdeckt. Daraufhin weinte Meta hemmungslos. Glücklicherweise kam Rahel aus ihrem Büro herausgestürmt und nahm sich der vollkommen aufgelösten Freundin an.
Die darauffolgenden Tage waren ein einziges Ausharren gewesen, während Angst und Panik, gepaart mit Wut und Hoffnungslosigkeit, sich ihrer immer wieder bemächtigt hatten.
In dieser Zeit wich David nicht von ihrer Seite und setzte sich, ohne dass Meta etwas davon mitbekam, mit ihrer hysterischen Mutter und einem ernsthaft besorgten Vater auseinander. Obwohl David sich ihrer Familie gegenüber zunächst sehr verhalten zeigte, weil es ihn schmerzhaft daran erinnerte, dass er immer noch keinen Kontakt zu seiner eigenen Mutter aufzunehmen wagte, war er anscheinend gut darin. Die beiden waren zwar mitgenommen vor Sorge, ließen Meta aber in seiner Obhut zurück.
Allerdings war es Rahel gewesen, die ihr schließlich aus dem Elend heraushalf, indem sie einen jahrhundertealten Trick anwandte: Sie ließ Meta erzählen. Denn David konnte sie erst einmal nicht berichten, wie Karl sie bedrängt, Hagen sie fast überwältigt hatte und wie Amelia durch ihr Nichtstun gestorben war.Wie verstörend es gewesen war, als sich ihre Gabe mit einem solchen Paukenschlag offenbart hatte, dass sie es jetzt kaum wagte, sich erneut darauf einzulassen. Dieser Prozess war für beide Frauen äußerst schmerzhaft gewesen, aber sie hatten ihn überstanden. Die daraus erwachsene Freundschaft war ein Geschenk, wie es wohl nur aus großer Not entstehen konnte.
Every time I hear that melody Something breaks inside.
Versunken in die Musik stand Meta am Fenster und blickte ins milchige Sonnenlicht hinaus. Zwar waren die Tage schon deutlich länger und die Allee unter ihr war bereits mit einem ersten feinen Grün überzogen, aber die Sonne hatte noch nicht wieder zu ihrer vollen Kraft zurückgefunden. Ihr war dies äußerst lieb, sie wollte den Übergang der Jahreszeiten genießen wie eine Art zarter Neubeginn.
Hinter ihr stellte David mit einem Klirren eine Karaffe mit Wein auf den bereits üppig gedeckten Tisch. Als sie sich umdrehte, lächelte er sie liebevoll an. Nur zu gern folgte sie der Aufforderung, ging zu ihm und ließ sich von ihm in den Arm nehmen. Kaum stieg ihr sein betörender Duft in die Nase, vergaß sie die Anstrengungen, die sie im Bad unternommen hatte, um ihr Äußeres in das einer perfekten Gastgeberin zu verwandeln. Dafür fühlte sich Davids Oberkörper unter dem dünnen Pullover einfach zu verführerisch an.
Während ihre Finger bereits unter den Stoff geschlüpft waren und seine Rückenmuskulatur erkundeten, fiel Meta mit einem Schlag ein, wer heute außer ihrer Familie noch zum Essen eingeladen war. Die Rudelmitglieder mochten zwar nicht länger in Davids Gedanken eindringen können, aber die Fährten, die ihr Liebesspiel hinterließ, konnte selbst Jannik lesen. Und genau dieses Rudelmitglied hatte ihr Apartment zu seinem zweiten Zuhause erklärt.
Normalerweise steckte sie Janniks wissendes Grinsen, wenn er zum Rauchen auf den Balkon verschwand oder sich hinter der geöffneten Kühlschranktür verbarg, recht gut weg.Aber in der Gegenwart ihrer Eltern würde sie es nicht aushalten. Ausgesprochen widerwillig löste sie sich nach einem Kuss von David, was dieser mit einem Zusammenziehen der Augenbrauen bedachte.
»Jannik«, erklärte Meta entschuldigend, und sogleich spiegelte sichVerstehen auf Davids Gesichtszügen.Trotzdem fühlte sich Meta leicht gereizt. »Ich hätte da übrigens noch ein paar Regeln für das Essen heute: Jannik soll seinen Fressneid unterdrücken. Diese schlechten Tischmanieren sind schlichtweg peinlich. Und Burek darf nicht an uns Frauen herumschnüffeln, besonders nicht an Rahel. Mach das deinem Freund auf vier Pfoten bitte klar.«
David grinste sie lässig an, was Metas Unmut noch verstärkte. »Und was dich betrifft:Verzichte beim Essen bitte auf Leitwolfgehabe, falls jemand deine Kochkünste zu kritisieren wagt. Familie und Freunde haben das Recht, ihrem Naturell entsprechend mit dir umzugehen.«
Nun verging David seine herablassende Art. »Es geht mir schlicht auf die Nerven, wenn Rahel beim Kochen immer alles besser weiß.«
»Sie wird nicht heimlich angeknurrt.«
»Nun übertreib aber nicht«, entgegnete David, wobei er allerdings ertappt aussah. »Ich kann ausgesprochen gut mit Kritik umgehen, wenn sie berechtigt ist. Aber deine Freundin ist eine notorische … Besserwisserin.«
Meta entging keineswegs, dass ihm ein anderes Wort auf der Zunge gelegen hatte. Sie baute sich vor ihm auf und zog ihn am Ausschnitt seines Pullovers auf ihre Höhe hinab. »Kein Knurren, kein hinterhältiges Heranpirschen, damit Rahel sich so lustig erschreckt. Und wo wir schon dabei sind: keine dämlichen Anspielungen gemeinsam mit Jannik darüber, wo meine kleine Schwester sich die letzte Nacht rumgetrieben hat, nur weil ihr zwei ihre Fährte lesen könnt. Ihr habt vielleicht euren Spaß daran, Emma vorzuführen, aber meine Mutter leidet jedes Mal Höllenqualen, weil sie nicht begreift, um was es bei eurem Geplänkel geht. Elise hasst es, bei Tratschgeschichten nicht im Bilde zu sein.«
»Wenn ich mir Emmas Lebenswandel so anschaue, tut deine Mutter gut daran, keine Ahnung zu haben. Ich weiß nicht, was für ein Dämon Emma antreibt, aber sie ist ein echt wildes Mädchen.« Trotzdem hob David die Finger zum Versprechen hoch, wenn auch wahrscheinlich nur, weil er sich einen Belohnungskuss erhoffte.
Stattdessen zwickte Meta ihn in die Rippen. »Du wirst dich so brav aufführen, wie man es von dem Mann an meiner Seite erwartet. Kein halb verwilderter Wolf, kein abgebrühter Schläger und erst recht kein gerade volljährig gewordenes Liebesspielzeug.«
David lachte leicht rau auf. »Kein was? Dafür hat mich nun wirklich keiner aus deinem Umfeld gehalten. Meta, hat mich doch keiner, oder?«
Einen Augenblick lang ließ Meta ihn zappeln und unterstrich das Ganze mit einem anzüglichen Lächeln. »Toyboy«, flüsterte sie kaum hörbar, während David ein Knurren andeutete. Dann sagte sie zärtlich: »Einer gewissen bornierten Blondine aus dem Kunstgewerbe ist so etwas einmal durch den Kopf gegangen, wenn auch nur flüchtig. Aber die hat in meinem Leben schon lange nichts mehr zu melden.«