Kapitel 23

Zerbrechliche Gebilde

Die letzten Wochen waren wie im Flug vergangen. David wünschte sich sehnlichst, jeden einzelnen Moment einzufangen, jede Minute klar wie ein Bild zu bannen und Stück für Stück gegen seine unselige Vergangenheit auszutauschen. Er dachte an Larissa, die wegen der Toberei ihres jüngeren Bruders keine ruhige Minute in der kleinen Mietwohnung gefunden hatte. Seine in sich gekehrte, immer etwas leidende Schwester, die in seiner kindlichen Welt nichts anderes als eine Spielverderberin gewesen war. Aus Rache hatte sie ihm eines Tages ins Ohr geflüstert, es sei kein Wunder, dass ihr Vater sich nach seiner Geburt abgesetzt hatte.Wer wolle schon mit einem Kuckucksei in der Familie leben? Einer Familie, in der alle braune Augen wie Zartbitterschokolade hatten - bis auf einen. Auch wenn er Larissa damals bloß eine alberne Fratze gezeigt hatte, die Worte hatten sich bei ihm eingebrannt und ein Schamgefühl hinterlassen, das er nun endlich abstreifen wollte. Er würde diesen schwarzen Fleck in seinem Leben mit dem Gefühl von Geborgenheit übertünchen, das eine im Schlaf murmelnde Meta hervorrief, die sich so lange gegen seinen Rücken drängte, bis er sich umdrehte und sie in die Arme schloss.

Ja, so würde er es machen. An die Stelle eines tobenden Convinius, der nicht aufhören konnte, sich darüber zu ereifern, dass David seinem Dämon nicht ausreichend die Stirn  bot, trat Nathanel. Unwillkürlich zuckte David zusammen. Nein, nicht Nathanel, sondern ein lachender Halberland, der ihm auf den Rücken klopfte, weil sein versauter Witz so gut gewesen war.

Immer neue Erinnerungen tauchten auf, mit denen David sich nicht länger herumquälen wollte. Sein kaum zu bändigender Wolf, der ein Opfer ins Visier genommen hatte, das er zumindest ein wenig treiben wollte - wurde ohne Zögern gegen das wunderbare Bild eingetauscht, wenn er mit Meta in der Badwanne lag und ihre entspannten Gesichtszüge betrachtete.

Die Vergangenheit abzustreifen, war eine wahre Befreiung, so dass David sich letztendlich auch an die schmerzlichste Erinnerung heranwagte, die ihn in seinen Alpträumen heimsuchte: die vor Panik weit aufgerissenen Augen seiner Mutter Rebekka, die auf den Wolf gerichtet waren. Er hatte die Lefzen bedrohlich hochgezogen, und durch den grauen Leib konnte man die Umrisse der Küchenzeile erahnen. An den eben noch vor Zorn fluchenden Jungen, der sich die von einer Ohrfeige gerötete Wange hielt und jetzt vor Entsetzen kaum noch atmen konnte, wollte David nie wieder denken. Für den Wolf war Rebekka in diesem Moment lediglich jemand gewesen, der auf seinen Platz verwiesen werden musste. Beute, die frech geworden war. Er hatte gar nicht vorgehabt, sie zu verletzen. Doch für Rebekka, die schon so viel wegen ihres schwierigen Sohnes hatte ertragen müssen, war eine Welt zusammengebrochen. Dass David seinen Wolf gar nicht aufgefordert hatte, sie zu attackieren, hatte sie nicht verstanden. Vermutlich war es dieser Bruch gewesen, der ihn Convinius’ Einladung, bei ihm zu leben, hatte annehmen lassen. Er hatte das leichte Zittern von Rebekkas Händen in seiner Nähe nicht länger ertragen können, die ausweichenden Blicke, die ihm sagten, dass er zu einem Fremden geworden war.  Stattdessen legte er die Erinnerung an den Moment, als Meta ihn eingeladen hatte, bei ihr zu bleiben, wie eine schützende Decke über diesen Teil seiner Vergangenheit.

Es klappte, wenn vielleicht auch nur für eine kurze Zeit. Jeden Zweifel daran, dass sein neues Leben gefährdet sein könnte, weil sich sein Vorleben nicht einfach ausmerzen ließ, schob er beiseite. Er war ein verliebter Mann, dem sich eine wunderbare Welt auftat, so dass es ihm leichtfiel, alles Unangenehme auszublenden. Stunden voller Zweifel, Einsamkeit und Selbstverleugnung? Begraben unter Schnappschüssen aus seinem neuen Leben. So einfach ging das.

Allein bei der Vorstellung musste David lächeln, als er aus seinen verdreckten Stiefeln schlüpfte, bevor er die Wohnungstür aufschloss. Nach wie vor fühlte er sich in dem klinisch sauberen Flur von Metas Wohnhaus wie ein Fremdkörper, aber damit konnte er mittlerweile ganz gut leben. Wie auch mit den irritierten Blicken der anderen Hausbewohner, wenn sie ihm in Arbeitskleidung oder seinen eher schlichten Alltagssachen begegneten.

»Sind Sie mit den Arbeiten im oberen Apartment immer noch zugange?«, fragte der ältere Herr mit dem gebeugten Rücken ihn jedes Mal, wenn er David auf dem Weg zum Abendspaziergang im Foyer begegnete. Mittlerweile verkniff sich David den dezenten Hinweis, dass er kein von Meta angestellter Handwerker war - diese Information überforderte den guten Mann anscheinend. Denn ein Kerl wie er konnte unmöglich mit einem distinguierten Gentleman wie ihm unter einem Dach leben, geschweige denn an der Seite einer Frau wie Meta.

Obwohl David schon beim Betreten der Wohnung merkte, dass Meta nicht da war, genoss er den Moment. So fühlte es sich an, nach Hause zu kommen - auch wenn es immer noch von einem seltsamen Kribbeln begleitet wurde. Eigentlich lag  der alte Herr aus der unteren Etage gar nicht so falsch: Das Apartment sah tatsächlich aus wie eine Baustelle. Nun, nicht mehr ganz so schlimm wie vor einigen Tagen, als Meta wie im Rausch diesen roten Leuchter aus Glas von der Decke geholt hatte, ungeachtet der Tatsache, dass er in tausend Teile zersprang, als er auf dem Boden landete. Ähnlich war es auch vielen anderen Möbelstücken ergangen, und David hatte ordentlich damit zu tun gehabt, dem Tempo zu folgen, mit dem seine Liebste ihrer Ausräumwut nachkam. Im riesigen Wohnzimmer standen mittlerweile nur noch das Sofa, ein fast leeres Bücherregal, die Stereoanlage und eine Staffelei, auf der eine weiße Leinwand stand. Ein Geschenk von Meta.

Überall an den Wänden klebten Papierschnipsel, die mit unterschiedlichen Farben angemalt waren: Blassviolett, Lindgrün, sogar Kirschrot. Doch bislang hatte Meta sich nicht entscheiden können, welche Farbe sie für die gemütlichste hielt. David hatte sich aus dieser Diskussion bislang tunlichst herausgehalten, obwohl sie ihn immer wieder um seine Meinung bat. Aber sein Instinkt verriet ihm, dass es hierbei nur vordergründig um Demokratie ging und ihm ein falscher Kommentar das Genick brechen konnte.

»Ich weiß doch noch nicht einmal, welche Farbe ich auf meine Leinwand auftragen soll«, hatte er sich jedes Mal erfolgreich herausgeredet.

Im Badezimmer stieg David aus der verdreckten Arbeitskluft, die ihm die Zeitarbeitsfirma gestellt hatte. Nachdem er geduscht hatte, zog es ihn zu ebendieser Leinwand hin. Ein Form gewordenes schlechtes Gewissen, das er am liebsten mit auf den Sperrmüll gestellt hätte, wenn Meta nicht jeden Abend einen erwartungsvollen Blick darauf geworfen hätte. Auf einem Apfel kauend, stand er nun davor und lachte über sich selbst. Wenn eine leere Leinwand sein größtes Problem darstellte, dann war er wirklich ein glücklicher Mann.

Er schlenderte zu dem kleinen Stapel mit CDs hinüber, die Jannik ihm in den Karton gestopft hatte, und legte eine davon in die Anlage. Nach einem Anflug von Hemmung drehte er den Lautstärkepegel hoch, bis die Bässe laut durch den halbleeren Raum hallten. In seinem Inneren hörte er ein zufriedenes Grummeln - da mochte wohl noch jemand gern laute Musik.Aus einer Laune heraus schnappte David sich ein Stück von der Papierrolle, auf der Meta ihre Farbexperimente verewigte, und holte sich einen Kugelschreiber. Er setzte sich auf das Sofa, sprang noch einmal auf, um sich den dicken Katalog mit den Impressionisten zu holen, und legte ihn als Unterlage auf seine angezogenen Oberschenkel. Eine Sekunde später setzte er die blaue Mine an, ohne eine Idee zu haben, was er eigentlich malen wollte.

David war so vertieft in seine Arbeit, dass er Meta erst bemerkte, als sie im Zimmer stand und ihn beobachtete. »Wie kann dir bei diesem Krach auch nur eine läppische Inspiration zufliegen? Diese Musik klingt ausschließlich nach Chaos.« Sie hatte die Hände auf die Hüftknochen gestützt und den Kopf zurückgezogen - das tat sie immer, wenn sie den Eindruck erwecken wollte, etwas kühl zu betrachten, obwohl es sie in Wirklichkeit berührte.

»Sag bloß, du magst die Kings of Leon nicht.« David schenkte ihr ein schiefes Lächeln. Da die Kritik an seinem Musikgeschmack jedoch nicht spurlos an ihm vorüberging, blieb er kurzerhand sitzen, anstatt Meta zur Begrüßung in die Arme zu nehmen.

Trotz des kleinen Liebesentzugs gab Meta nicht nach. »Die Stimme des Sängers ging mir, ehrlich gesagt, schon im Hausflur auf die Nerven.Was malst du denn da?«

»Sei nicht so neugierig«, erwiderte David, immer noch schmunzelnd. Dann konzentrierte er sich erneut auf das Papier, das mittlerweile mit unzähligen blauen Strichen bedeckt  war. Seine Stirn legte sich in Falten, als sehe er die Skizze zum ersten Mal in seinem Leben.

Meta schnaufte, dann ging sie um das Sofa herum, um die Musik leiser zu stellen.Anschließend versuchte sie, einen Blick auf die Zeichnung zu werfen, doch David klappte im letzten Moment den Katalog samt Zeichnung weg, so dass sie auf seiner Brust lagen.

»Angeber«, sagte Meta leise. Dann drängelte sie sich neben ihn aufs Sofa und fragte zwischen einigen Küssen, mit denen sie seine Wange bedeckte: »Zeigst du es mir?«

Ein wenig unsicher hob David den Katalog an, und Meta holte behutsam das vom Kugelschreiber arg mitgenommene Papier hervor. Sie musste es ein Stück von sich weghalten, um zu erkennen, was es darstellte: das Skelett eines mehrstöckiges Gebäudes, aus unzähligen wilden Strichen zusammengesetzt, so dass es zu flimmern schien.Windschief, filigran. Ein Nachtbild.

»Eigentlich ist es Mist.« David legte sich die Hand über die Augen, als könne er den Anblick seiner eigenen Skizze nicht ertragen. »Ich wollte bloß meine momentane Stimmung einfangen, ein Bild, das zeigt, wie es mir zurzeit geht. Aber das sieht eher nach Vergangenheit aus.«

»Dieses Gebäude erweckt den Eindruck, als könne es sich nicht entscheiden, ob es einfallen oder allen Widrigkeiten trotzen soll«, sagte Meta, in den Anblick der Skizze versunken.

»Ich sollte die Malerei einfach bleiben lassen«, fuhr David eine Spur zu hitzig fort. »Mir geht es doch gut, ich bin zufrieden - die Überlegerei, was ich malen könnte, geht mir auf die Nerven.«

»Aber diese Skizze hier ist doch nicht das Ergebnis von deiner Grübelei, oder?«

David hielt inne und warf einen flüchtigen Blick auf das gebrechliche Gebäude.Tatsächlich hatte er in den letzten Tagen sehr viel darüber nachgedacht, wieder mit der Malerei anzufangen. Nicht etwa, um Meta zu beeindrucken, denn er fürchtete eher, sie zu enttäuschen. Aber der Gedanke daran, wie gut es ihm früher getan hatte, sich einfach aufs Malen zu konzentrieren und Convinius’ Forderungen und das ewige Drängeln des Wolfes auszublenden, hatte ihn nie losgelassen. Die Malerei war eine Heimat gewesen, die nur ihm allein gehörte. Auch wenn er sie heute nicht mehr zur Abgrenzung brauchte, so verspürte er dennoch den Wunsch, sich auszudrücken. Zwar waren ihm die unterschiedlichsten Themen eingefallen, aber keine Idee hatte sich derart verfestigt, dass er sie tatsächlich umgesetzt hätte.

Diese seltsame Skizze war einfach von selbst entstanden, und je länger David sie betrachtete, desto unwohler fühlte er sich. Er hatte einen Verdacht, aus welcher Quelle das Motiv gespeist wurde, wollte jedoch nicht weiter darüber nachdenken. Sein neues Leben war noch viel zu zerbrechlich, um es einer Belastungsprobe zu unterwerfen. Je weniger er sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzte, umso geringer war das Risiko, dass ihm die Gegenwart zwischen den Fingern zerrann. Zumindest redete David sich das ein, jeden Gedanken an einen verwaisten Jannik oder die brisante Situation, in der Maggie und ihr Rudel sich befanden, verdrängend. Ganz gleich, was sein Gewissen ihm einflüstern wollte, er hatte sich die Phase des Glücks verdient!

Obwohl Meta aufmurrte, ließ David die Skizze samt Katalog hinter der Sofalehne verschwinden, dann zog er Meta auf sich. Nach einer kleinen Rangelei richtete sie sich mit gespieltem Widerwillen auf, so dass sie auf seiner Hüfte zum Sitzen kam. Während David sich eine Hand unter den Kopf schob und sich entspannte, zeichnete sie Kreise auf seine Brust.

»Wie war dein Tag?«, fragte er.

Meta malte noch ein paar Achten auf Davids Rippenbögen, doch als er sich als kitzelresistent erwies, zuckte sie mit den Schultern. »Wenn man es so sehen will, war der Höhepunkt des Tages ein Anruf von meiner Mutter. Offensichtlich ist ihr Karl begegnet.«

Hastig warf Meta David einen prüfenden Blick zu, doch er verzog keine Miene. Sie hatte ihm äußerst knapp von ihrer letzten Beziehung erzählt und dass ihr Ex davon ausging, sie würde über kurz oder lang zu ihm zurückkehren. David hatte das Ganze mit einem Achselzucken abgetan, trotzdem hatte Meta den Verdacht, er befürchtete insgeheim, Karl könnte Recht behalten. Ihre Worte gründlich abwägend, fuhr sie deshalb fort: »Da meine Mutter das Thema in Gegenwart meines Vaters nicht anschneiden möchte, hat sie mich angerufen - während der Arbeitszeit! Das macht sie sonst nie. Elise hat auf sehr komplizierte Weise zu erfahren versucht, ob die Renovierung der Wohnung mittlerweile abgeschlossen sei und ob ich die Nase nun endlich voll von Neuerungen hätte.«

»So lautet also die elegante Umschreibung für Sex mit einem nichtsnutzigen Kerl, der sich bei dir eingenistet hat.« David lachte verhalten. »Und, hast du schon die Nase voll?«

Als Meta nicht sofort verneinte, hob er mit einem Ruck die Hüfte an und senkte sie so rasch wieder, dass sie fast das Gleichgewicht verloren hätte. Da sie Anstalten machte, mit eingeschnappter Miene von ihm runterzusteigen, packte er sie um die Taille und hielt sie fest.

Einen Moment lang wand Meta sich noch in seinem Griff, dann streckte sie sich würdevoll und strich die Haare hinter die Ohren zurück. »Ich habe meiner Mutter ausgesucht höflich geantwortet, dass der anhaltende Reiz des Neuen darin liegt, wie überraschend ausdauernd er ist, und ich deshalb keinerlei Veranlassung sehe, wieder in alte Muster zu verfallen.  Jedenfalls so lange nicht, wie mein neues Lieblingsspielzeug sich gut zu benehmen weiß.«

David schaute sie grinsend an, eine Sekunde, noch eine Sekunde - dann riss er die schallend lachende Frau zur Seite und begrub sie unter seinem Körper.

Als Meta einige Zeit später eng an seine Seite gekuschelt mit halb geschlossenen Augen döste, kreisten Davids Gedanken um ein Telefongespräch, das er schon seit Jahren führen wollte. Bislang hatte er sich aber nicht dazu durchringen können. Zum hundertsten Mal spielte er in Gedanken durch, wie seine Mutter wohl auf seine Stimme reagieren würde. Ob sie ihn überhaupt wiedererkannte? Oder wäre er gezwungen zu sagen, wer er war? Aber wer war er überhaupt für Rebekka? Der Sohn, den sie einem Fremden namens Convinius mitgegeben hatte, weil ihr die seltsamen Eigenarten des Jungen Angst einjagten? Oder war er das Kind, das sich nach etwas gesehnt hatte, was sie ihm nicht geben konnte - dafür aber ein Unbekannter? David hatte diesen Zwiespalt nie aufklären können, und auch heute fühlte er sich diesem Schritt noch nicht gewachsen. Hatte Rebekka ihn trotz allem geliebt? Er wusste es nicht.

Behutsam befreite er sich aus Metas Umarmung, was diese mit einem verträumten Lächeln zuließ. Sie streichelte ihm noch einmal über den Rücken, dann kugelte sie sich unter der Wolldecke zusammen. David schlüpfte in Hosen und Pulli und griff sich auf dem Weg zum Balkon Metas Handy. Dunkelheit und Kühle begrüßten ihn, als er mit nackten Füßen auf den Steinboden des ausgedehnten Balkons trat. Einen Augenblick konnte er nicht sagen, wer die Herbstluft mehr begrüßte - er oder der Wolf, so sehr fühlte er sich mit ihm eins. Im Hinterkopf dröhnte Convinius’ anklagende Stimme, dass er dem Dämon nicht über den Weg trauen durfte. Aber er wollte sich darauf nicht einlassen.

Auf dem Balkon waren weder Blumentöpfe noch ein Gartenstuhl zu finden. Laut Meta pfiff der Wind so unangenehm um das Haus, dass man sich ohnehin so gut wie nie nach draußen wagen konnte - wozu da eine Sitzgelegenheit? Aber David verstand auch so, dass Meta sich dem Gesetz der Stadt unterwarf und sich nicht freiwillig draußen aufhielt.

Es dauerte eine Zeit lang, bis es ihm gelungen war, die Telefonnummer einer bestimmten Bar herauszufinden, und noch länger, bis er Janniks Stimme vom anderen Ende der Leitung her hörte, der mürrisch seinen Namen nannte.

»Hi, wie geht es dir?«, fragte David und biss sich vor Aufregung leicht auf die Unterlippe. Obwohl er immerzu an seinen Freund hatte denken müssen, hatte er sich bisher nicht dazu durchringen können, sich mit Jannik in Verbindung zu setzen. Auch wenn das feige gewesen sein mochte, so ließ es sich einfach nicht leugnen, dass Jannik zu Hagens Rudel gehörte. Das Rudel, von dem eine Gefahr ausging, über die David lieber nicht nachdenken wollte. Ansonsten wäre er vielleicht zu dem Entschluss gekommen, dass er es Meta schuldig war, schleunigst seine Sachen zu packen und sich aus dem Staub zu machen.

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen, und David befürchtete schon, aus Versehen eine falsche Taste gedrückt zu haben, weil er das Handy so hart an sein Ohr presste. Doch dann hörte er Jannik schnaufen.

»Was meinst du, wie es mir geht, seit du dich verpisst hast?«

»Tut mir leid, aber was kann ich schon tun?«

»Zurückkommen vielleicht?« Jannik klang nicht so, als meinte er das ernst. Aus seiner Stimme sprach eine Bitterkeit, die gar nicht zu ihm passte.

»Hör zu, Jannik. Ich werde nicht zurückkommen. Ich habe auch schon mit Maggie darüber gesprochen …«

»Du willst nicht zurückkommen, definitiv?«, unterbrach ihn Jannik barsch. Bevor David etwas erwidern konnte, sagte er noch: »Dann kannst du mich mal am Arsch lecken.« Und legte auf.

Zuerst wollte David die Nummer erneut anwählen, doch mitten in der Bewegung verharrte er. Der Wolf regte sich - ein Angebot, Jannik eine Nachricht zu überbringen, die er nicht so leicht verweigern konnte wie ein Telefonat.Aber David zögerte. Er konnte seinen Freund verstehen. Er war in eine Welt aufgebrochen, in der es für Jannik keinen Platz gab, selbst wenn er in der Lage gewesen wäre, ihm über Hagens Grenzen hinaus zu folgen. Er spielte mit dem Gedanken, den Wolf aufbrechen zu lassen, verwarf ihn jedoch wieder. Es führte kein Weg zueinander - das hatte Jannik schon vor ihm begriffen. Jeder Versuch, einander trotzdem nahe sein zu wollen, würde es nur schlimmer machen.

David schlang die Arme um seinen Oberkörper und starrte ziellos in die Nacht, das tröstende Winseln des Wolfes ignorierend. Er hatte also auf dem Weg zu einem eigenen Leben ein weiteres Band durchschnitten. Nun war es bereits geschehen, und es hatte keinen Sinn, zurückzublicken.