Kapitel 33

Am Scheideweg

Im diesigen Licht der Morgendämmerung schlugen die Flammen empor, dem sanften Schneefall trotzend. Er hatte die Straße in eine weiße Decke gehüllt, auf der sich nun brennendes Rot spiegelte. Mit einem tosenden Lärm griffen die Flammen um sich und spien Rauchschwaden in den grauen Himmel. Das trockene Holz des Dachstuhls hatte das Feuer beflügelt, doch das Mauerwerk der unteren Etage hatte seinen Ehrgeiz empfindlich gebremst. Zwar fraß es sich durch Treppen und Holzböden, aber seine Macht reichte nicht aus, das alte Haus zum Einsturz zu bringen.

Erleichtert stellte David, der mit Jannik im Schatten eines Nachbarhauses stand, fest, dass das Feuer auch nicht auf den Garten übergriff. Der wochenlange Regen und der eingekehrte Frost boten den gierig züngelnden Flammen keinen Weg, um noch weiteres Unheil zu stiften. Obwohl er sich sagte, dass es ihn nichts mehr anginge, hoffte David, dass das Haus wieder saniert und nicht einfach abgerissen werden würde. Trotz des Anblicks der rotglühenden Zerstörung fühlte es sich nach wie vor richtig an, Nathanel auf diese Weise bestattet zu haben. Letztendlich war das Haus nur ein weiteres Opfer des Dämons geworden. Und so, wie es aussah, würde David noch etwas ganz anderes opfern müssen, bevor der Tag zu Ende ging.

Als die Feuerwehr sich in Stellung gebracht hatte und auch die ersten Polizeiwagen vorfuhren, machten die beiden Männer sich wortlos auf den Weg. Burek, der draußen auf die Wiederkehr seines Herrchens gewartet hatte, war zuerst überglücklich auf sie zugestürzt, hatte seine Begrüßungsgesten aber sogleich eingestellt, als er die bedrückte Stimmung wahrnahm. Also hatte er die Rute eingezogen und sich an Janniks Beine geschmiegt, was dieser mit einem beruhigenden Brummen belohnt hatte.

Bis zu Metas Wohnung würden sie ein paar Straßen weit laufen müssen, und der Gedanke daran, was ihn dort wohl erwartete, schnürte David die Kehle zu. Die Vorstellung, Meta wieder gegenübertreten zu müssen, war fast so erschreckend wie das Bild einer verlassenen Wohnung, in der ein Netz aus Fährten von einer gewaltsamen Entführung erzählte. Dass Hagen Meta, wenn er sie erst einmal in seinen Fängen hatte, Gewalt antun würde, daran hegte David keinen Zweifel. Unwillkürlich verfiel er in einen Laufschritt, doch die Anstrengung des Wandels und die Furcht drohten ihm die Atemluft zu rauben. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, und er stolperte fast über die eigenen Füße.Während er wankend zum Stehen kam, spielte er mit dem Gedanken, jene Kraftquelle in seinem Inneren anzurufen, die für das ganze Elend verantwortlich war.

Aber er widerstand: Der Wolf hatte sich losgerissen und Nathanel getötet. David fühlte sich besudelt, und das Wissen, dass der Mörder dieses Mannes in ihm hauste, trieb ihn fast in den Wahnsinn. Und wenn er auch die Macht des Dämons nun mehr als je zuvor in seinem Leben brauchte, war er fest entschlossen, sich von ihm loszusagen.

Kaum war dieser Entschluss gereift, überkam David unwillkürlich das Gefühl, als sammle sich alle Lebensenergie im Zentrum seines Leibes. Aber sie floss in seinen Schatten, der in die Gestalt eines Wolfes hinüberwechselte. Der Wolf blieb vor ihm stehen, die Schnauze bebend vor Anspannung. Dringender als je zuvor versuchte er, zu David durchzudringen, ihm etwas mitzuteilen. Doch David lehnte sich vor Erschöpfung bloß gegen eine Häuserwand und schloss die Augen. Das Einzige, was er jetzt wollte, war, dass der Schatten ging und nie wieder zurückkehrte. Als habe der Wolf ihn erhört, verschwand er.

Kurz darauf schloss Jannik endlich zu ihm auf, packte ihn beim Ellbogen und zog ihn behutsam voran. »Was rennst du denn so, Mann? Du bist im Gesicht weiß wie ein Laken.Wenn du vor Metas Tür zusammenklappst, ist auch niemandem geholfen.«

David nickte unwillig, ließ aber zu, dass Jannik ein langsameres Tempo vorgab. Einige Minuten später tauchte das Haus auf, in dem David die letzten Wochen so unbeschwert ein und aus gegangen war.

»Siehst du was?«, fragte David, die Stimme heiser vor Ungeduld.

»Nein, nichts beim Haus selbst. In der Nachbargasse sind irgendwelche Wolfsspuren … schon ein bisschen älter und nicht aus unserem Rudel. Eigentlich solltest du das besser draufhaben als ich, mein Freund.«

David ging nicht darauf ein, sondern wandte sich dem Hund zu, der zwischen ihnen beiden Platz gemacht hatte. »Na, Burek, was meinst du: Ist hier jemand, dem wir besser nicht begegnen sollten?« Der Rüde legte den Kopf schief und wedelte freundlich. »Das heißt wohl, dass Hagen sich hier nicht hat blicken lassen. Sonst wäre Burek wohl kaum so locker drauf.«

»Warum rufst du nicht einfach deinen Wolf und gehst auf Nummer sicher?« Jannik klang direkt spöttisch. »Du hast Panik, richtig? Mann, ich kann es nicht glauben: Du hast Hackfleisch aus Mathol gemacht und Nathanel besiegt, aber du traust dich nicht, deinen Wolf zu rufen.«

»Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst«, erwiderte David leise und warf Jannik einen Blick zu, der den jungen Mann zurückweichen ließ. Dann ging er auf die Haustür zu, deren Schlüssel noch immer in seiner Hosentasche steckte. Auf dem Flur begegnete ihnen der alte Herr von unten auf dem morgendlichen Gang zum Bäcker. Höflich zog er den Hut.

»Heute sogar mitVerstärkung unterwegs?«, fragte er freundlich, um dann Bureks struppiges Fell mit einem kritischen Blick zu mustern. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit war der Hund mit ihnen in das Haus gekommen.

Metas Wohnungstür war intakt, und als David die noch im Dämmerlicht liegende Diele betrat, stieg ihm sogleich der wohlige Duft entgegen, den er in den letzten Wochen mit dem Wort Zuhause verbunden hatte. Das war, bevor Tillmanns Rachegelüste alles zerstört hatten. Ein hastiger Blick auf die Garderobe verriet, dass Meta nicht daheim war, denn der Mantel, den sie seit Anfang November trug, hing nicht an seinem Platz. Obwohl es ihr gar nicht ähnlich sah, war sie anscheinend in aller Herrgottsfrühe in Richtung Galerie aufgebrochen.

Jannik drängelte sich an David vorbei, dicht gefolgt von Burek, der schnurstracks ins Wohnzimmer lief und sich dort ohne Zögern auf das Sofa legte. »Mag sie keine Möbel, oder warum ist das hier so leer?«, fragte Jannik und verschwand in Richtung Küche, woher schon eine Sekunde später das Aufschnappen des Kühlschranks zu hören war.

Eigentlich wollte David sofort wieder aufbrechen, doch die vertrauten Räume lockten ihn. Ehe er sich versah, stand er im Schlafzimmer. Das Bett war immer noch mit der lavendelfarbenen Wäsche bezogen wie vor einigen Tagen, und bei dem Gedanken, dass sich dort noch die Spuren von ihnen beiden vermischten, zog sich sein Magen schmerzend zusammen. Ein Blick in den Kleiderschrank verriet, dass seine Sachen unangerührt an Ort und Stelle hingen. Nur der Rosenstrauß auf der Kommode, der am Samstag nicht ausgewechselt worden war, erinnerte daran, dass ihr gemeinsames Leben auseinandergebrochen war: Die verwelkten Blätter waren abgefallen und lagen verstreut auf dem weiß lasierten Holz.

David fuhr sich mit der Hand über die Augen und hielt einen Moment inne. Dann blieb sein Blick an seinem Spiegelbild hängen. Ein verwilderter und zerschlagen aussehender Mann sah ihm entgegen, die Augen tief in den Höhlen liegend, das Gesicht verunstaltet von Schlieren verkrusteten Blutes. Unvermittelt blitzte die Vorstellung auf, wie er in einem solchen Zustand Meta in der Galerie gegenübertrat und sie davon zu überzeugen versuchte, dass er sie in Sicherheit bringen musste. Ein schattenloser Irrer, vor dem sie ohne Zweifel voller Furcht zurückweichen würde. Hastig lief er ins Badezimmer, um seinen Kopf unter den Wasserhahn zu halten.

In der Zwischenzeit hatte Jannik es sich mit einem beladenen Teller auf dem Sofa neben Burek gemütlich gemacht, und als David schließlich eintrat, grinste er ihn mit vollen Backen an. »Alles sehr nett hier. Könnte ich mich glatt dran gewöhnen, besonders an den vollen Kühlschrank. Burek gefällt es hier übrigens auch.« Dabei warf er einen Schinkenfetzen in die Luft, den der Hund mühelos auffing.

»Freut mich«, erwidert David trocken und kniete sich vor die Musikanlage. Anscheinend hatte Meta sich als Letztes ein altes Rockalbum angehört, von dem sie einmal erwähnt hatte, dass die Stimme des Sängers der seinen ähnelte. Um ein Lächeln zu unterdrücken, biss David sich auf die Unterlippe. Ganz gleich, wo er auch suchte, nichts deutete darauf hin, dass Meta ihn aus ihrem Leben verbannt hatte. Eigentlich hatte er erwartet, bestenfalls einen Karton mit seinen Habseligkeiten vor der Tür vorzufinden, inklusive der schriftlichen Aufforderung, ihr nie wieder unter die Augen zu treten. Doch auf dem Esstisch lag sogar noch seine Zeichnung von dem hinfälligen Haus, die er vor einer gefühlten Ewigkeit angefertigt hatte.

»Also, falls es dich interessiert: Metas süße Freundin ist hier gewesen, die mit den vielen Locken«, brachte Jannik zwischen zwei Bissen hervor. »Bestimmt haben dir die beiden Frauen gründlich den Arsch bearbeitet, weil du Meta nicht nur einen vorgeflunkert, sondern dich auch noch aus dem Staub gemacht hast, nachdem du aufgeflogen bist.War wohl nicht gerade deine beste Vorstellung.«

Trotz Janniks Sticheleien verspürte David Erleichterung. Alles sah danach aus, als ob Meta am Morgen ganz normal zur Arbeit aufgebrochen sei, ohne dass Hagen oder jemand aus seinem Gesinde sie belästigt hatte. Den Tag würde sie in der Galerie oder an anderen sicheren Orten verbringen. Er hatte also ausreichend Zeit, sie zu finden, bevor Hagen ihrer in Maggies Revier habhaft werden konnte.

»Schubs Burek von dem Sofa, bevor er noch etwas anderes als die Decke einsaut, und dann hauen wir ab«, sagte David, der es mit einem Mal gar nicht mehr erwarten konnte, die Galerie zu betreten. Selbst wenn Rahel ihm die Pest an den Hals wünschen sollte, weil er sein Versprechen, sich von Meta fernzuhalten, brach. Damit würde er genauso leben können wie mit einem Aufblitzen von Furcht in Metas Augen, solange sie ihn nur in ihrer Nähe duldete, bis er sie in Sicherheit gebracht hatte.

Doch bevor David seinen Freund, der sich hastig die Essensreste in den Mund stopfte, hochziehen konnte, sprang Burek winselnd vom Sofa und versuchte, sich hinter Davids Beinen zu verstecken. Auf Janniks Gesicht breitete sich augenblicklich ein panischer Ausdruck aus. »Scheiße«, flüsterte er und ließ den Teller auf den Boden fallen.

Mit langen Schritten hielt David auf die Wohnungstür zu, die bereits mit einem Knall aufsprang. Abrupt blieb er stehen. Maggies rot leuchtender Schopf tauchte auf, und sie lächelte ihn müde an. »Guten Morgen, David«, sagte sie. »Ich habe Besuch mitgebracht.«

Hinter Maggie betrat ein Mann um die vierzig die Diele: Er war von durchschnittlich hohem Wuchs, allerdings mit breiten Schultern und kräftigen Oberarmen - trotz der winterlichen Temperaturen trug er nicht mehr als ein kurzärmeliges Hemd und Stoffhosen. Am Handgelenk hing eine schwere Digitaluhr, die zu dem altmodischen Bürstenhaarschnitt passte. Seine Augen lagen unter schweren Lidern, so dass das verräterische Blau kaum mehr als ein Schatten war. Die Mundwinkel seines unpassend sinnlichen Mundes hingen herunter, während er den Blick gelangweilt umherschweifen ließ. Maggie musste den Mann an ihrer Seite gar nicht vorstellen, denn obwohl David ihn noch nie zuvor gesehen hatte, wusste er, um wen es sich handelte: Sascha hatte es gewagt, diese Straßen, die nun unter Hagens Herrschaft standen, zu betreten.

An Saschas Seite gesellte sich eine Frau, deren dunkelblondes Haar ihr wie ein Vorhang eng ums Gesicht hing, was die ohnehin langgestreckten Züge unvorteilhaft betonte. Ihr Blick war zwar auf David gerichtet, aber sie schien durch ihn hindurchzusehen. Zu seinem Erstaunen konnte er beobachten, wie sie mit Hilfe des Wolfes versuchte, Witterung aufzunehmen, jedoch scheiterte.

Was auch immer der Wandel nach Nathanels Tod aus dem Dämon gemacht hatte, er schützte David vor aufdringlichen Übergriffen anderer Wölfe - sogar in einer Situation, da er einen eigenen Weg eingeschlagen hatte. Obgleich David selbst in diesem Moment auf die Hilfe des Dämons verzichten wollte, fühlte er sich ohne die Berührung seines langjährigen Begleiters seltsam nackt.

Die Frau stieß ein frustriertes Schnaufen aus, das Saschas Desinteresse endlich brach. »Der alte Mann wusste offensichtlich ganz genau, was er tat, als er sich von dir töten ließ«, sagte er mit einer schleppenden Stimme, die Sprache durchwirkt von einem Akzent, der David an unendlich weite Wälder im Dämmerlicht denken ließ. »Loreen dringt für gewöhnlich zu jedem von uns durch und sollte es auf jeden Fall bei einem tun, dessen Wolf sich aus dem Staub gemacht hat.«

Irgendwo im Hintergrund keuchte Jannik erschrocken auf, der erst jetzt bemerkte, dass sich an Davids Körper kein Schatten schmiegte.

Sascha reagierte nicht darauf, sondern hing einem Gedanken nach, bevor er weitersprach. »Es ist wirklich zu schade, dass ich nicht dabei sein werde, wenn du Hagen herausforderst.«

Beim Anblick dieses kaltblütigen Mannes verspürte David das dringende Bedürfnis, ihn ohne Vorwarnung zur Tür hinauszustoßen. Sascha wohnte eine abstoßende Verrohung inne, die nur von einer ausgeprägten Vernunft im Zaum gehalten wurde.Aber anstatt seinen Instinkten zu folgen, entschied sich David dafür, nach den Wolfsregeln zu spielen: Bewusst wandte er sich von Sascha ab und konzentrierte sich auf Maggie, der dieses Revier schließlich immer noch gehörte.

»Warum kommst du mit deinen neuen Freunden nicht herein? Einer von euch sollte sich allerdings gegen die ramponierte Tür lehnen, damit sie nicht endgültig aus dem Rahmen fällt.«

Zu seiner Überraschung ging Maggie wirklich auf ihn zu, und als sie an ihm vorbeischritt, streifte sie leicht seinen Oberarm - eine beabsichtigte Geste, um ihn zu beruhigen. »Tut mir leid, dass wir hier mit einem solchen Radau eindringen, aber deine Fährte ist sehr verwirrend. Deshalb waren wir unsicher, was uns hinter der Tür erwarten würde.«

»Ich bin Gast in deinem Revier, Maggie. Wie könnte ich  dir etwas antun?«, fragte er, selbst verwundert über den warmen Unterton in seiner Stimme.

Maggie sah ihn kurz an, dann ging sie auf den Esstisch zu, wo die Zeichnung lag. Eine Zeit lang studierte sie das Papier, ungerührt von der Anwesenheit Janniks, der auf dem Sofa herumzappelte. Dem Jungen war die Anspannung ins Gesicht geschrieben, und es war ihm hoch anzurechnen, dass er sich nicht gemeinsam mit seinem wimmernden Hund hinter dem Möbelstück versteckte.

»Ich mache mir auch keine Sorgen, dass du mir etwas antun könntest, ganz gleich, welche Stärke der Wolf dir verliehen haben mag«, sagte Maggie, wobei ihre Fingerspitzen das vom Stift zerfurchte Papier abtasteten. »Aber dein Unwille, den Wolf anzunehmen, zwingt mich dazu, eine Entscheidung zu treffen, die mich mehr als alles andere quält.«

Mit einem Schlag war es um Davids Selbstbeherrschung geschehen. Bevor er begriff, was er tat, stand er vor Maggie und packte sie an den Schultern. Es gelang ihm gerade noch, sie nicht durchzuschütteln. Hinter sich konnte er Sascha knurren hören, doch Maggie gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er sich zurückhalten sollte.

»Komm zur Sache, Maggie«, forderte David sie mit rauer Stimme auf. »Du weißt, warum ich in diese Wohnung zurückgekehrt bin. Das Einzige, was mich im Augenblick interessiert, ist, Meta aus der Schusslinie zu bringen, in die sich dein Revier verwandelt hat.«

»Daran sind Nathanel und du ja nicht gerade unschuldig. Ich habe mich auf dich verlassen und stand am Ende völlig allein da.«

»Das ist mir, ehrlich gesagt, scheißegal.« Mit einem Ruck gab er Maggies Schultern frei und trat einen Schritt zurück.

»Tatsächlich?« Eine Welle feuerroten Haares war ihr über  die Braue gerutscht, und als Maggie sie zurückschob, zitterten ihre Finger. »Wenn wir uns gegenseitig zerfleischen, wirst du anschließend lediglich froh darüber sein, dass es ein paar weniger von uns gibt?«

Wütend hob David die Arme in die Luft, dennoch konnte er sich ihren Worten nicht entziehen. »Du weißt, wie ich über den Wolf denke: Wenn man ihn nicht niederhält, verwandelt er sich in einen blutrünstigen Dämon. Er lauert doch nur auf seine Chance. Ich habe es gerade am eigenen Leib erlebt, verdammt. Warum sollte ich mir also um dich und deinen Haufen Gedanken machen?«

»Du kennst mich, David. Und trotzdem hältst du mich für jemanden, der zulässt, dass eine Bestie in mir immer weiter zu Kräften kommt? War Nathanel so? Du redest einen solchen Unsinn, Convinius hat dir wohl den Verstand verdreht!«

Maggie sah ihn an und offenbarte damit ihre verletzten Gefühle. David wünschte sich plötzlich inniglich, er hätte sich nicht von Sascha abgewandt. Eine Auseinandersetzung mit diesem kaltblütigen Mann wäre bei weitem einfacher zu ertragen gewesen.

»Um zu verstehen, wozu der Wolf in der Lage ist, braucht man nur lange genug in einem Rudel zu leben.« Davids Mund bewegte sich wie von selbst. »Je höher der Rang, desto größer ist die Lust am Jagen. Und wer jagt, wird über kurz oder lang auch töten.Also komm mir nicht so, Maggie.Wir wissen beide, was es kostet, den Wolf zu stärken.«

Aber so leicht war ihr nicht beizukommen. »Jagen ist nicht gleich Töten, und Töten ist nicht gleich Morden. Wir sind Wandler zwischen den Welten und keine Bestien. Du kannst Hagen nicht als Gradmesser nehmen. Sein Problem ist nicht der Wolf, sondern er selbst.«

David setzte gerade zu einer Entgegnung an, als Sascha unvermittelt auf sie zutrat. Seine starke körperliche Präsenz und  die Tatsache, dass er ihm viel zu nahe war, weckte in David das Bedürfnis, den Mann fortzustoßen. Trotzdem verharrte er an Ort und Stelle, wohlwissend, dass Saschas Provokation am besten mit Aushalten entgegenzutreten war.

»Dieses Gerede ist Zeitverschwendung«, erklärte Sascha, scheinbar die Ruhe in Person, die Hände in den Hosentaschen. Nur eine kaum wahrnehmbare Gereiztheit in der Stimme verriet, dass er nicht im Geringsten mit der Situation zufrieden war - weder mit der Tatsache, so lange ignoriert worden zu sein, noch mit dem vertrauten Umgang zwischen Maggie und David. »Der Bursche hält sich für einen Mörder, weil er mit diesem alten Wolf kurzen Prozess gemacht hat. Deshalb sind wir jetzt alle Mörder für ihn. Kann uns doch recht sein, solange er bloß Hagen beseitigt. Den zweiten Mann seines Rudels hat er ja auch schon auf dem Gewissen.«

Bei dieser unterschwelligen Kampfansage spannte David seine Muskeln an.Vermutlich war es nur Maggies Anwesenheit geschuldet, dass Sascha ihn noch nicht direkt herausgefordert hatte. »Wenn du so scharf auf Hagens Tod bist, dann kümmere du dich doch darum. Oder reicht es bei dir dafür nicht?«, gab er in dem vollen Bewusstsein zurück, Sascha damit unnötig zu reizen. Aber seine Nerven waren für Spielereien zu strapaziert.

Erstaunlicherweise stürzte sich Sascha nicht sofort auf ihn, sondern setzte ein träges Grinsen auf. »Ich würde Hagen nur allzu gern das Licht ausblasen, diesem abartigen Hurensohn. Kann ich aber nicht, denn das hier ist schließlich immer noch Maggies Territorium. So gesehen, bin ich gar nicht anwesend.«

David stutzte kurz, dann begriff er, worauf Sascha hinauswollte: Offensichtlich hatte Maggie nicht vor, ihr Revier kampflos aufzugeben. Statt von einem der beiden großen Rudel überrannt zu werden, spielte sie die beiden Anführer gegeneinander aus. Kluges Mädchen, dachte David. Dann sah er Sascha abfällig an. »Wenn du nicht hier bist, dann solltest du am besten auch deine Schnauze halten.«

Nichts in Saschas Gesicht regte sich, dennoch wankte David eine Sekunde später unter einem Angriff. Jemand hatte ihn angesprungen, doch es war kein Schatten. Ohne nachzudenken, packte er blindlings zu und bekam eine sich windende Loreen zu fassen. »Bastard«, fauchte sie ihn an. Mit ihren erstaunlich langen Nägeln hatte sie ihm die Wange aufgekratzt, und wenn David sie nicht rechtzeitig abgewehrt hätte, wäre sein Auge ebenfalls verletzt worden.

Mit stummem Groll hielt er Loreens Handgelenke fest, und erst als Maggie leise seinen Namen nannte, ließ er die vor Schmerzen wimmernde Frau wieder los. Unter dem gleichgültigen Blick ihres Herrn sank Loreen auf den Boden, die geschundenen Handgelenke an die Brust gepresst.

Als er hinter sich eine Bewegung wahrnahm, kreiste David um die eigene Achse.Aber es war lediglich Jannik, der ihm mit weit aufgerissenen Augen zu Hilfe geeilt war. Jetzt allerdings schien ihn sein Mut bereits wieder zu verlassen, denn er wich zurück, als Davids Blick ihn traf.

»Warum hat sie nicht ihren Wolf zu Hilfe gerufen?«, fragte Jannik, die Stimme vor Aufregung unnatürlich laut.

Verwirrt blinzelte David, dann schüttelte er den Kopf. Er begriff es selbst nicht. Eigentlich wäre es ein Leichtes für Loreen gewesen, seinen Griff abzuschütteln. Im Gegensatz zu ihm konnte sie jederzeit auf die Macht des Dämons zurückgreifen. Schließlich würde Sascha niemanden an seiner Seite dulden, dessen Wolf schwach war.

»Loreen hat ihren Wolf gerufen«, erklärte Maggie, die die Auseinandersetzung teilnahmslos beobachtet hatte, »aber er ist ihr nicht gefolgt. Der Dämon weiß, wann er einem überlegenen Gegner gegenübersteht.«

»So geht das meinem Wolf ständig«, warf Jannik mit einem überdrehten Kichern ein.

»Willkommen in der Königsklasse«, sagte Sascha, als habe der schmale Junge niemals den Mund aufgemacht. All seine Aufmerksamkeit war auf David gerichtet. »Begreifst du jetzt, dass es deine Bestimmung ist, Hagen herauszufordern?«

»Du kannst mich mal«, erwiderte David, hielt den Blick jedoch gesenkt, als wäre er mit den Gedanken woanders.

Angesichts dieser Anmaßung pochte Saschas Schlagader an seinem breiten Hals wie wild, und seine Nasenflügel zeichneten sich scharf ab, als er tief Luft einsog. »Du willst dich der Herausforderung, gegen Hagen anzutreten, also nicht stellen? Der Wolf ist dir gleichgültig, du willst nicht einmal seine Hilfe annehmen, um der Fährte dieser Frau zu folgen, um die sich - laut Maggie - bei dir alles dreht? Nun, dann verrate ich dir mal etwas: Deine Freundin ist seit gestern Morgen nicht mehr in dieser Wohnung gewesen. Hast du eine Ahnung, was das bedeutet?« Während sich auf Davids Gesicht eine aschfahle Blässe ausbreitete, verzogen sich Saschas Mundwinkel tatsächlich zu einem grimmigen Lächeln. »Hagen hat sie längst in seinen Klauen. Und wir kennen ihn alle gut genug, um zu wissen, was er mit ihr anstellen wird.«

Als David in Richtung Wohnungstür stürmen wollte, packte Sascha ihn im letzten Augenblick und schleuderte ihn zu Boden. David schlug schmerzhaft auf der Seite auf und schlitterte weiter, bis der Esstisch ihn stoppte. So schnell es ging, kam er wieder auf die Beine, aber ein dräuender Schatten hatte sich bereits vor ihm aufgebaut.

»Ruf deinen Wolf zurück«, forderte David Sascha auf. Da der bloß mit den Schultern zuckte, erkannte David, dass nicht Sascha, sondern Maggie der Schatten fehlte. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in den Magen.

»Was soll das, verflucht?«

Obwohl Maggie aussah, als bewahre sie lediglich ein schmales Band vor dem endgültigen Auseinanderbrechen, erwiderte sie Davids verzweifelten Blick. »Hagen wartet im Park auf dich. Eigentlich hatte er diese Frau bloß geraubt, um dich in die Knie zu zwingen. Aber jetzt, da er weiß, was Nathanel zugestoßen ist, will er deinen Tod.«

»Anton hat also keine Zeit damit verloren, Hagen auf die Nase zu binden, was auf dem Dachboden geschehen ist.« Obwohl ihm eher danach zumute war, vor Verzweiflung zu schreien, stieß David ein bitteres Lachen aus. Der Schattenwolf tänzelte bei diesem unerwarteten Geräusch leicht zurück, das schemenhafte Gebiss gefletscht.

Maggie nickte, dann machte sie eine elegante Bewegung, woraufhin der Schatten zu ihr zurückeilte. »Hagen ist ganz gebannt von der Vorstellung, dich in seine Gewalt zu bringen. Es geht ihm um viel mehr, als dich einfach nur zu töten und damit einen ernstzunehmenden Rivalen loszuwerden: Da er dich nicht zähmen kann, will er dich brechen.« Mit jedem Wort sackten ihre Schultern ein Stück weiter hinunter. »Es tut mir unendlich leid, David, aber das ist meine einzige Möglichkeit, um mein Rudel zu retten. Als ich Sascha treffen wollte, war Hagen wie im Wahn. Er ist so besessen von dir, dass er gar nicht auf die Idee kommt, ich könnte ihn in eine Falle laufen lassen. Im Gegensatz zu Nathanel, der meine Pläne sehr wohl erkannt hat.«

»Dann hast du also nicht nur vor, aus mir und Meta Opferlämmer zum Wohlergehen deines Rudels zu machen, sondern du hast auch Nathanels Entscheidung hingenommen, sich von mir zerfleischen zu lassen?«

»Nathanel verstand, dass es nur diesen einen Weg gibt, um Hagen endgültig aus dem Weg zu räumen«, erwiderte Maggie ungeduldig. Die Vorwürfe hatten wieder Leben in ihr Gesicht gebracht.

»Nein«, mischte Sascha sich ein. »Es gibt noch einen anderen Weg: Wenn es diesem engstirnigen Burschen hier nicht gelingen sollte, Hagen zu töten, wird mein Rudel die Angelegenheit übernehmen - so wie wir es abgesprochen haben, Maggie.Wir haben uns bereits an der Grenze gesammelt. Hagens Rudel mag uns zwar zahlenmäßig überlegen sein, aber unsere Wölfe sind stark und nicht bloß verwildert. Am Ende dieser Nacht werden wir das Gleichgewicht zwischen den Rudeln wiederhergestellt haben. Nur, dass es entweder einen  Toten oder sehr viele geben wird. Hagens Clan muss auf die richtige Größe gestutzt werden.«

Maggie machte einen Schritt auf David zu, was dieser mit einem Ballen der Fäuste bedachte. Doch Maggie ließ sich von einer solchen Geste nicht abschrecken. »Verstehst du jetzt endlich, in was für einer Lage wir sind - du und ich? Hier geht es nicht nur um meine, sondern auch um deine Leute - obwohl die dir ja egal zu sein scheinen.«

»Wir sind ihm überhaupt nicht egal!«, mischte Jannik sich in die Unterhaltung ein. Vor lauter Nervosität zupfte er an seinen Haarfransen. Er warf David einen hoffnungsvollen Blick zu, und als sein Freund nicht sofort verneinte, setzte er ein leises »nicht wahr, David?« nach.

Von einem Moment auf den anderen fühlte David sich wie ausgebrannt. Nur seine Hülle stand noch bewegungslos in dem schwach nach Rosen duftenden Zimmer, die Wange brennend von den frischen Kratzspuren, der Rippenbogen erfüllt von einem dumpfen Schmerz. Die Sorge um Meta drohte ihn nicht länger um denVerstand zu bringen, die Trauer um Nathanel war wie fortgewischt und Maggies Verrat genauso unwichtig wie JanniksVertrauen in ihn. Er stand einfach nur da, spürte, wie die Zeit verstrich, und hoffte, dass sich dieser Zustand niemals mehr ändern würde. Um ihn herum war Chaos ausgebrochen, Wahnsinn und Bedrohung griffen  schneller um sich als jedes zerstörerische Feuer.Als Jannik neben ihn trat und ihn vorsichtig am Ellbogen berührte, reagierte er nicht einmal ansatzweise.

»David, wir sind dir doch nicht egal?«, fragte der Junge erneut.

Endlich drang die Stimme seines Freundes zu ihm durch, aber ehe David beschwichtigend den Kopf schütteln konnte, antwortete Sascha: »Zumindest bist du ihm nicht egal, kleiner Mann.«

Mit einer ungeahnt schnellen Bewegung war Sascha vorgeprescht und hielt den um sich schlagenden Jannik im festen Griff.Als David angreifen wollte, umfasste Sascha Janniks Kinn und deutete mit einer ruckartigen Bewegung an, wie leicht es ihm fallen würde, dem Jungen das Genick zu brechen.Augenblicklich hielt David inne.

»Sieh es als Anreiz dazu an, Hagen den Garaus zu machen«, erklärte Sascha, seine Stimme voller Verachtung für den jungen Mann vor sich, dessen Lippen vor unterdrücktem Zorn blutleer und fest aufeinandergepresst waren. »Du solltest ein wenig dankbarer aussehen, denn wenn du alles zu meiner Zufriedenheit erledigt hast, dann bekommst du nicht nur deinen Kumpanen hier in einem Stück wieder, sondern auch ein Rudel und meinetwegen sogar die ausgeweideten Reste von dieser Frau, die Hagen dir geraubt hat.«

»Wenn ich mit Hagen fertig bin, werde ich als Erstes darüber nachdenken, wer als Nächstes auf meiner Liste steht«, erwiderte David so leise, dass es kaum mehr als ein Flüstern war.

Doch Sascha verstand ihn bestens. Zum ersten Mal zuckte er zurück und ließ einen Anflug von Zweifel erkennen. »Wir geben beide nur acht auf das, was uns gehört.« Mit diesen Worten reichte er den fluchenden Jannik an Loreen weiter, die augenblicklich dafür sorgte, dass der Junge für weitere Beschimpfungen nicht mehr ausreichend Luft in den Lungen hatte.

»Wenn ihr Jannik etwas antut, werde ich dir keine Gelegenheit geben, dich auf deinem Revier in Sicherheit zu bringen.«

»Wenn du Hagen getötet hast und seinen Platz im Rudel einnimmst, wie es sich gehört, werde ich keinen Grund mehr haben, dich unter Druck zu setzen. Fang endlich an, dich wie ein Wolf zu verhalten.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, folgte Sascha Loreen und ihrem Gefangenen zur Tür hinaus, allerdings nicht, ohne dabei sicherheitshalber über die Schulter zurückzublicken.

Maggie blieb noch einen Moment stehen, unschlüssig, ob sie es wagen konnte, auf David zuzugehen und ihn zu berühren. »Es tut mir leid. Ich warte im Park auf dich.« Dann ging auch sie.