Kapitel 37
Treibjagd
Das Geräusch der zersplitternden Eisschicht, mit der der einsetzende Frost den regennassen Grund überzogen hatte, klang in Davids überempfindlichem Gehör wie eine Drohung. Unter der frischen Schneeschicht lagen Laub und Geäst, die sich im Handumdrehen in spiegelglatte Gefilde verwandeln konnten. Dennoch zügelte er das Tempo nicht, mit dem er durch den Wald jagte, trotz Dunkelheit und Schneefall, Hagens Fährte klar vor Augen. Er würde nicht innehalten, bevor er diesen Mann endlich zu Fall gebracht hatte. Und dann? Das Bild, das sein Wolf mit einer fiebrigen Wildheit heraufbeschwor, beantwortete diese Frage mehr als deutlich: Hagen war totes Fleisch.
Endlich entdeckte David die Umrisse des flüchtenden Mannes zwischen Bäumen und Sträuchern, obgleich er in seiner schwarzen Kleidung mit der Dunkelheit zu einer Einheit verschmolz. Dem Blick des Dämons war das gleichgültig, für ihn strahlte Hagen, als hätte er sich mit Benzin übergossen und angezündet. Einer lebenden Fackel gleich zog er eine Fährte wie eine Rauchspur hinter sich her, die in Davids Lunge brannte - ein vertrautes Gefühl in Hagens Nähe.
Auch Hagen war nicht entgangen, dass sein Verfolger aufschloss. Er warf einen gehetzten Blick über die Schulter, wobei er im Lauf mit der Schulter gegen einen Baum stieß und fast das Gleichgewicht verlor. Noch ein paar Meter, dann würde David ihn eingeholt haben.
Plötzlich stieß Davids Wolf einen Warnruf aus. Zu spät - unter ihm brach der Boden ein. Aber bevor er ganz in der Tiefe verschwand, gruben sich seine Finger in den Rand der sich auftuenden Grube. David fluchte. Er war tatsächlich in eine von Maggies Fallen geraten. Obgleich der Boden gefroren war, begann er unter seinem Griff bereits nachzugeben, da sein Körpergewicht ihn hinabzerrte.Verzweifelt versuchte er, an den Wänden mit den Füßen Halt zu finden, doch seine Stiefel glitten an der glatten Oberfläche jedes Mal ab, bevor er sich hinaufstemmen konnte. Der Wolf jaulte auf, als Davids Finger bei dem Versuch, sich hochzuziehen, beinahe den Rand zum Einsturz gebracht hätten. Gegen seinen Instinkt hielt David daraufhin still, die Stiefelspitzen leidlich an der Wand abgestützt, und konzentrierte sich auf seine missliche Lage.Wenn er auf dem Grund dieser Grube landen sollte, würde er zweifelsohne festsitzen - Maggie wusste, was sie tat. Dann konnte Hagen noch einmal auf ihn pinkeln, bevor er in die Arena zurückkehrte und sein Rudel erneut hinter sich vereinte. Bei dieser Vorstellung fühlte David sich versucht, seinen Wolf auszuschicken, auch wenn der allein vermutlich nicht gegen diesen starken Gegner gewinnen konnte.
Sein Wolf begann mit einem Mal zu knurren, und im nächsten Moment spürte David den Druck einer Schuhsohle auf seinen Fingerknochen. Mühsam hob er den Blick und sah einem aus dem Mund blutenden Leug ins Gesicht.
»Lass ihn noch ein wenig zappeln«, erklang Hagens atemlose Stimme. Mit einem sicheren Abstand spähte er über den Grubenrand. »So schnell kann sich das Blatt wenden, was, David?«
»Wir sollten dafür sorgen, dass er für immer in diesem Loch verschwindet, und dann schnellstens unser Rudel in unser Revier zurückbringen. Die Grube steht unter Wasser, bis sie ihn finden, wird er es wohl kaum schaffen.« Abwartend sah Leug seinen Anführer an, konstant den Druck auf Davids Hand verstärkend, die erschreckend schnell an Kraft verlor.
Doch Hagen konnte dem Vorschlag seinem Gesichtsausdruck nach wenig abgewinnen. »Was nutzt es mir, wenn er dort unten einfach krepiert? Dann ist sein Wolf verloren.«
»Wenn wir ihn rausholen … Sein Wolf ist stark, er ist stark«, erwiderte Leug mit deutlichem Widerwillen in der Stimme, während seine Finger unwillkürlich zu den Narben wanderten, die die Zähne von Davids Schattenwolf dort hinterlassen hatten.
Aber Hagen ließ sich nicht beirren. »Denk nach:Wenn ich die Macht von Davids Wolf nicht in mich aufnehme, sind wir verloren. Oder glaubst du etwa, dass Sascha mich nach alledem, was passiert ist, freiwillig anerkennen wird?«
Bei dieser Aussicht zuckte etwas in Leugs für gewöhnlich ausdruckslosem Gesicht, das bei Hagen ein verzerrtes Lächeln hervorrief. »Wenn David seinen Wolf ausschickt, lenkst du das Vieh lange genug ab, damit ich unserem Freund den Hals umdrehen kann. Wenn er ihn bei sich behält, schauen wir mal, wie lange er sich gegen uns beide behaupten kann. Nur …«, Hagen packte Leug brutal am Arm, als dieser sich gerade herunterbücken wollte, »… ich bin derjenige, der David tötet. Solltest du dich vordrängeln, wirst du den Wandel nicht überleben.«
Leug nickte stumm, dann umfasste er Davids Handgelenke, wobei sich der Schatten zwischen seinen Finger ausbreitete, und zog den schweren Mann mit einem Ruck aus der Grube heraus.
Mit einem unterdrückten Stöhnen schlug David bäuchlings auf dem gefrorenen Boden auf. Er spürte ein Knie zwischen seinen Schulterblättern, während Hände seinen Kopf zu umfassen versuchten. Doch bevor sie ausreichend Halt fanden, um ihm mit einem Ruck das Genick zu brechen, nahm Davids Schattenwolf Gestalt an und schnappte nach dem Angreifer. Nachdem der losgelassen hatte, verschmolz der Schatten wieder mit David und legte sich wie eine schützende Hülle um ihn.
Trotz der schmerzenden Muskeln stemmte David sich mit einer kräftigen Bewegung auf die Beine und wirbelte herum. Hagen grinste ihn herausfordernd an und setzte dabei einige Schritte zurück, wobei sein Schatten die Form eines Wolfes annahm und zwischen den beiden Männern stehen blieb wie ein Bollwerk. In seinem Rücken konnte David den schnell gehenden Atem von Leug hören. Allerdings stand der Mann zu weit weg, um ihn mit einem raschen Griff zu packen und in die Grube zu werfen. Er war gefangen zwischen zwei Gegnern, und das Einzige, was ihm blieb, war der Angriff.
David deutete eine Vorwärtsbewegung an, woraufhin Hagens Schattenwolf knurrte und das Nackenfell aufstellte. Fasziniert beobachtete David, dass er den Umriss des Wolfes trotz der Dunkelheit klar erkennen konnte, fast noch deutlicher als den sich dahinter verbergenden Hagen. So entging ihm auch ungeachtet der Drohgebärde nicht, wie der Wolf leicht zurückwich. Hagens Dämon mochte nach all den Opfern, mit denen sein Herr ihn gemästet hatte, noch so mächtig sein, aber sein Instinkt verriet ihm, dass er in diesem Kampf unterliegen würde.
»Irgendwie macht dein pelziger Freund hier den Eindruck, als würde er lieber das Weite suchen, als es auf ein Kräftemessen ankommen zu lassen. Da habt ihr beide ja tatsächlich mal etwas gemeinsam«, sagte David, während er einen weiteren Schritt auf den immer lauter knurrenden Schattenwolf zu tat, bis er sehen konnte, wie die Schneeflocken durch dessen Leib hindurchwehten.
In diesem Augenblick erklang erneut ein Wolfsgeheul, das von Saschas Kommen kündete. Nur, dass es dieses Mal erschreckend nahe war. Unwillkürlich blickte David in die Richtung, in der auch die Arena lag. Die Arena, in der er Meta zurückgelassen hatte.
Plötzlich wurde er von hinten angesprungen. Der Aufprall fühlte sich an, als hätte ihn ein Kran mit seiner Last gestreift. Trotzdem gelang es David, sich über die Seite abzurollen. Bevor Leug ihn packen konnte, tauchte er unter dem Schlag des Angreifers weg und rammte seinen Kopf in Leugs Magen. Und abermals holte David aus und gab seinem Angreifer einen Faustschlag gegen die Schläfe mit.
Nun sprang ihn Hagens Schattenwolf an und grub die Fänge in seinen Oberarm.Vor Schmerz und Überraschung brüllend, taumelte David zurück und stürzte fast erneut in die Grube. Mühelos drangen die Zähne des Wolfes durch Stoff und Fleisch. Allerdings war der Biss bei weitem nicht stark genug, um ernsthaften Schaden zuzufügen, dafür befand sich der Schattenwolf schon zu sehr in Auflösung. Dass er trotzdem angegriffen hatte, war einzig Hagens Willen zu verdanken. Als David den Wolf im Nacken zu fassen versuchte, griff er ins Leere. Der Schatten war bereits zu seinem Hüter zurückgeeilt, der auf David zuhielt.
Obwohl die Bisswunde wütend pochte, sein Arm taub wurde und der Rest seines Körpers vor Überanstrengung und Schmerzen ächzte, konzentrierte sich David auf Hagen, wohl wissend, dass Leug nur auf die Möglichkeit lauerte, ihn erneut anzugreifen.
Sein Wolf wollte dem Angreifer entgegenstürmen, doch David hielt ihn zurück, nutzte seine Macht nur dafür, sich zu schützen. Und als Hagen mit seiner ganzen Kraft auf ihn stürzte, um ihn unter seinem massigen Körper zu begraben, ließ David sich mitreißen. Gemeinsam rollten sie über den gefrorenen Grund, Stein und Geäst in ihrem Weg, keilten sich ineinander bei dem Bemühen, den anderen niederzuringen.
Obgleich es seine Hände waren, die Kleidung, Fleisch und Haare zu fassen bekamen, die sich zur Faust ballten und zuschlugen, sobald sich ihnen die Chance bot, fühlte er sich kaum wie ein kämpfender Mann. Seine Bewegungen waren zu schnell, zu instinktiv. Außerdem gelang es ihm einfach nicht, auf Distanz zu gehen, um Hagen gezielt zu attackieren. Dennoch fühlte sich diese wilde Art des Kampfes richtig an. Mehr als je zuvor verschmolz er mit dem Wolf, verließ sich auf dessen Kraft und Gespür, bis er Hagen endlich mit dem Rücken auf den Boden drücken konnte. Mit dem Unterarm quetschte er ihm die Luft ab und kniete sich auf den sich aufbäumenden Oberkörper.
Ehe David jedoch seinen Sieg begreifen konnte, erhielt er einen dumpfen Schlag im Rücken, der ihm die Luft aus den Lungen presste. Keuchend sackte er nach vorn, bis sein Gesicht beinahe auf Hagens zum Liegen kam. Dann traf ihn ein weiterer Schlag, dessen Aufprall David nutzte, um zur Seite abzurollen. Schwer atmend bemühte er sich, den Schmerz zu ignorieren, doch er konnte sich einfach nicht aufsetzen. Ohne abzuwarten, glitt der Dämon in seine Wolfsform über und baute sich schützend vor ihm auf.
Inzwischen hatte Hagen sich wieder erholt und tastete nach seinem Kiefer, wo ihn einer von Davids Fausthieben getroffen hatte. Dann forderte er Leug auf: »Lock seinen Wolf weg. Es wird Zeit, dieses Drama zu beenden.«
Leug nickte, obwohl ihm die Furcht ins Gesicht geschrieben stand. Aber ehe er den Wolf attackieren konnte, legte sich ein kräftiger Arm um seinen Oberkörper und zerrte seinen Kopf in den Nacken, bis sein hervorspringender Kehlkopf freilag. Hagen stieß ein Brüllen aus, dem nichts Menschliches mehr innewohnte. David richtete sich ein Stück auf und sah, wie Tillmann zwischen den Bäumen hervortrat und seinem stämmigen Kompagnon, der Leug im Schwitzkasten hielt, ein Zeichen gab, den strampelnden Mann in Richtung Grube zu verschleppen.
»Tut mir leid, dass Jagau und ich uns eingemischt haben. Aber bei einem Kampf um die Rudelspitze sollte es mit rechten Dingen zugehen.Vielleicht bekommt ihr beiden Pfeifen es ja noch hin, euch gegenseitig den Garaus zu machen«, erklärte Tillmann mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme.
David wollte etwas erwidern, doch der Schlag in die Nieren machte ihm zu schaffen - es fühlte sich an, als hätte Leug eine Klinge hineingerammt und sie stecken lassen. Der Schmerz ließ einfach nicht nach.Tillmann kümmerte sich jedoch ohnehin nicht um ihn, sondern musterte Hagen, sorgfältig darauf bedacht, außerhalb von dessen Reichweite zu bleiben. Hagen hatte seinen Wutanfall mittlerweile überstanden und stierte ihn an, als würde er ihn gleich zerfetzen. Irgendwo in der Dunkelheit erklang ein abgehackter Schrei, gefolgt von erstickten Flüchen, die darauf schließen ließen, dass Leug den Grund der Grube erreicht hatte.
»Klingt so, als könntet ihr beide euren Kampf nun fortführen. Und wenn’s geht, legt einen Zahn zu. Es wäre sinnvoll, wenn euer Scheißrudel einen Anführer hat, bevor Sascha an die Tür klopft und den Job übernimmt.«
»Maggies Brut«, stieß Hagen zwischen gefletschten Zähnen hervor. »Hätte ich bloß auf dein Gedärm als Tribut bestanden, anstatt mich von Nathanel beschwatzen zu lassen, dich ziehen zu lassen.Aber wer kann von einer listigen alten Hure wie deiner Mutter schon erwarten, dass sie mit sauberen Karten spielt?«
Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde Tillmann die Beherrschung verlieren und sich auf Hagen stürzen, der ihm ohne Zweifel trotz seiner Angeschlagenheit überlegen war.
»Verfluchter Schweinehund«, brachte Tillmann mühsam hervor, während er sich in die Macht seines Dämons hüllte. Als Hagen ihm nicht mehr als ein abschätziges Grinsen zuwarf, wollte er angreifen - ein solch vorhersehbarer Schachzug, dass er auf jeden Fall gescheitert wäre.
Im letzten Moment fing David, der sich inzwischen aufgerappelt hatte, ihn ab und zerrte ihn bei der Schulter herum. Tillmann stieß ein drohendes Fauchen aus, aber David kümmerte sich nicht weiter darum: Hagen hatte den günstigen Moment ausgenutzt und war zwischen den Büschen verschwunden.
Getrieben von einem Zorn, der ihn seinen unwilligen Körper vergessen ließ, jagte David Hagens glühend roter Silhouette durch die Finsternis nach. Es musste ein Ende haben - und zwar jetzt. Er spürte nicht mehr, wie seine Füße auf den Boden schlugen, bemerkte weder Dickicht noch Äste, die ihm im Weg waren, auch nicht das Brennen in seiner Brust. Hagen war vor ihm, ganz dicht, das war das Einzige, was in diesem Moment zählte. David streckte den Arm aus, doch es reichte noch nicht. Während er einen Wutschrei ausstieß, nahm sein Dämon die Form eines springenden Wolfes an und brachte einen Herzschlag später Hagen zu Fall. Noch während der stürzte, war David hinter ihm und riss mit aller Kraft seinen Kopf herum. Als Hagen auf den Boden aufschlug, war bereits alle Lebenskraft aus seinem Körper gewichen.
Von einem plötzlichen Zittern geplagt, drehte David den schweren Mann auf den Rücken. Er blickte in seine starren Augen, in denen sich schwarze Strähnen verfangen hatten. Selbst im Tod trug er noch einen Ausdruck von Siegessicherheit auf den Zügen. Während David beobachtete, wie Schneeflocken sich auf die leicht offen stehenden Lippen setzten, kehrte sein Wolf zu ihm zurück und winselte leise.
»Ist gut«, sagte David und streckte die Hand nach ihm aus, damit sie wieder eins werden konnten. Nachdem der Wolf zu ihm zurückgekehrt war, begriff er schlagartig, wovor sich der Dämon fürchtete: Über Hagens Leichnam manifestierte sich der Schatten wie ein dicht gewebtes Tuch. Ein letztes Mal verließ der Wolf seinen Hüter. Nein, dachte David und versuchte, rückwärts davonzukriechen. Kein weiterer Wandel, nicht jetzt, das stehe ich nicht durch.