Kapitel 15
Das Ritual
Malik wanderte durch die Vorhalle, deren Boden völlig verdreckt war. In der letzten halben Stunde waren unzählige Schuhsohlen durch sie zur Treppe hinübergehetzt. Unablässig rieb sich der Türsteher über die Oberarme, als könne er so die Anspannung, von der das ganze Palais erfasst war, abschütteln. Heute Abend würde kein gewöhnliches Treffen stattfinden, so viel stand fest. Was auch immer Hagen bei dieser kurzfristig einberufenen Zusammenkunft bekanntgeben wollte, es würde Auswirkungen auf das Rudel haben.
Auch an Davids Armen richteten sich sämtliche Härchen in dem Moment auf, als er durch den verwahrlosten Eingang schritt. Ein sicheres Zeichen dafür, dass das Rudel sich versammelt hatte und vor Aufregung bebte. Draußen auf der Straße war er auf Burek getroffen, doch anstatt ihn freudig zu begrüßen, hatte der Hund sich bei seinem Anblick mit eingezogener Rute in den Schatten einer Häuserwand zurückgezogen. Kein gutes Zeichen, hatte David gedacht und war trotz seiner Verspätung vor dem Eingang stehen geblieben, bis er den dringlichen Wunsch umzukehren wieder unter Kontrolle hatte.
Bevor er voller Hast die Treppen zu den oberen Räumen hinaufsprintete, traf sein Blick noch Maliks. Entgegen dessen sonstiger Gewohnheit sagte der stets schlecht gelaunte Wächter nichts. Er fixierte den jungen Mann lediglich, dann nuschelte er etwas Unverständliches.
Aber David hatte nicht die Zeit, darüber nachzudenken, warum er dieses Mal vor höhnischen Kommentaren verschont blieb. Ihm setzte der drängende Ruf zu, der ihn völlig unvermittelt erreicht hatte. Er hatte gerade herausfinden wollen, ob Meta sich für diesen Montagabend schon etwas vorgenommen hatte. Bereits am Nachmittag hatte er versucht, sie telefonisch zu erreichen, doch es war nur ihre Mailbox angesprungen.
Mittlerweile füllte Hagens Forderung, sich augenblicklich im Palais einzufinden, den gesamten Platz hinter seiner Stirn aus. Er verdrängte alles Persönliche bis zu dem Augenblick, als er durch die Tür zum Audienzsaal schritt, in dem ein vielstimmiges Gemurmel zu hören war. Schlagartig kroch ihm die Hitze den Hals hinauf, und er war froh, auf die Schnelle nur nach einer Kapuzenjacke gegriffen zu haben. Ein Raum voller Leiber, durch die das Adrenalin gemeinsam mit der Erregung des Wolfes tobte, würde sich innerhalb kürzester Zeit in eine Sauna verwandeln.
Obwohl der Saal einen großen Durchmesser hatte, schien er überfüllt. Das lag daran, dass die ganze Meute sich vom riesigen Tisch fernhielt.Alle waren sie so peinlich darauf bedacht, einen Abstand zu diesem Zeugnis von Hagens Macht einzuhalten, dass sie einander lieber auf die Füße traten.
Immer noch im Türrahmen stehend, ließ David den Blick über die Köpfe streifen, und wie immer verursachte die schiere Größe des Rudels ihm ein mulmiges Gefühl. Wir sind zu viele, dachte er und spürte, wie seine Finger sich vor Anspannung um den Türgriff schlossen, bis es schmerzte. Kein Rudel sollte so groß sein, da es eigentlich keinem Anführer gelingen konnte, es im Gleichgewicht zu halten.Allerdings glich Hagen auch keinem der anderen Rudelführer. Es war also sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
David bemerkte einige bekannte Gesichter, entzog sich jedoch schleunigst der Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübten. Zwar gab es im Rudel die eine oder andere Person, in deren Nähe er sich wohlfühlte, doch es war ihm nie gelungen, sich ihnen zu öffnen. Es ist der Dämon, der diese Gesellschaft auswählte, dachte David jedes Mal widerwillig. Deshalb entzog er sich, wo er nur konnte, selbst wenn ihm seine distanzierte Haltung zu einem Fremden in der einzigen Gesellschaft machte, die ihm geblieben war.
Um diese schmerzliche Erkenntnis abzuschütteln, versuchte David, Jannik ein Zeichen zu senden, damit sie zueinanderfanden. Jannik war das einzige Rudelmitglied, dem er sich nicht hatte entziehen können. Dieser Bursche war einfach noch schwerer loszuwerden als der eigene Schatten, wenn er einen erst einmal ins Herz geschlossen hatte.Aber David wurde sehr schnell klar, dass er in diesem Saal kaum zu Jannik durchdringen konnte: Hagens Ruf hing wie eine Bleidecke über ihnen und absorbierte alles. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als sich durch die Menge zu zwängen, bis er seinen Freund gefunden hatte. Dabei hätte er sich am liebsten unauffällig in eine Ecke zurückgezogen, um aus sicherer Entfernung herauszufinden, was Hagen plante.
Einen Augenblick lang pochte ihm das Herz bis in die Kehle, als ihm der Gedanke kam, dass Jannik die kleine Unterredung mit Maggie tatsächlich nicht für sich behalten hatte und sie sich nun vor dem gesamten Rudel für ihren Verrat verantworten müssten. Nein, das kann es nicht sein, entschied David.Wenn Hagen etwas von diesem Treffen erfahren hätte, dann hätte er bestimmt eine große Inszenierung daraus gemacht. Mathol und sein undurchdringlicher Kamerad Leug wären sofort mit großer Begeisterung bei ihm aufgeschlagen, und Hagen selbst hätte sich nicht um das Vergnügen einer kleinen Privataudienz bringen lassen, bevor er ihn dem Rudel vor die Füße warf. Nein, es wird um dieses elende Kräftemessen mit Sascha und seinem Haufen gehen, worum auch sonst?
Vermutlich würde ihnen heute Abend ein Ritual ins Haus stehen. Es wäre das erste seit langer Zeit, an dem das ganze Rudel teilnahm: Das Rudel jagt, dem Anführer steht jedoch das Vorrecht zu, die Beute zu schlagen. Da er die Macht besitzt, das Rudel zu leiten, muss er von diesem Recht keinen Gebrauch machen. Je moderner die Zeiten wurden, desto seltener griffen die Anführer auf dieses Recht zurück - aus gutem Grund. Der Wolfsdämon verlieh übermenschliche Kräfte und potenzierte die Sinne, aber er machte nicht unsterblich. Da nur sehr wenige Kinder mit dieser verräterischen blauen Augenfarbe geboren wurden, war es unleugbar klüger, nicht zu viele Menschen zu reißen. Das würde nur unnötige Aufmerksamkeit auf das Rudel lenken. Jene, die sich oder den Wolf nicht beherrschen konnten, fielen deshalb sehr schnell den Gesetzen ihres eigenen Rudels zum Opfer.
David atmete noch einmal tief ein, dann schob er sich in den überfüllten Saal und sah in unzählige Augenpaare, die von demselben tiefen Blau waren wie seine eigenen. Instinktiv senkte David den Blick und wurde Teil der Menge, zumindest so lange, bis Mathols beißende Stimme ihn herausriss.
»Sieh an«, sagte Hagens Schläger, der sich selbst im größten Gedränge an ausreichend Platz erfreuen durfte. »Unser Stargast des heutigen Abends ist endlich eingetroffen.«
David deutete eine schiefe Verbeugung an. Seit Meta mit dem Taxi davongefahren war, war ihm bewusst geworden, dass er im Verlauf der anbrechenden Nacht in irgendeiner Weise für ihre gemeinsamen Stunden würde bezahlen müssen. Doch selbst jetzt, da er einem schadenfrohen und sichtlich gereizten Mathol gegenüberstand, änderte sich nichts an seiner Überzeugung, dass es das wert gewesen war.
»Das hat Spaß gemacht, nicht wahr? Deine kleine Süße hat aber auch ein ordentliches Durchhaltevermögen«, hakte Mathol nach und trat einen Schritt weiter auf David zu. Der stellte gerade fest, dass er nicht länger Schulter an Schulter mit den anderen stand, da sie lautlos auf Distanz zu ihm gegangen waren. Ein rascher Blick bewies ihm, dass die meisten sich ohne Anteilnahme über die Gesichter rieben oder zu Boden schauten, wobei sie immer weiter zurückwichen. Einige jedoch beobachteten den Schlagabtausch mit Interesse, die Freude darüber, Zeuge einer Demütigung zu werden, funkelte unverhohlen in ihren Augen.
Ekel wallte in David hoch, als er sich wieder Mathol zuwandte. »Das war wohl eine Neuigkeit für dich, dass man im Bett Spaß haben kann - ansonsten hättest du dich kaum so daran aufgegeilt.«
Mathols Augen verengten sich zu Schlitzen, während er eine junge Frau, die ihm im Weg stand, mit einem groben Stoß zur Seite beförderte, ihr überraschtes Aufjaulen ignorierend.
Obwohl David wusste, was ihm blühte, wenn Mathol die letzte Distanz zwischen ihnen überbrückt hatte, ging er seinerseits auf ihn zu, die Muskeln in Armen und Rücken angespannt, die Hände zu Fäusten geballt. Auch wenn ihm beim Treppenaufstieg eben noch die Oberschenkel von der Erschöpfung der letzten Stunden geschmerzt hatten, jetzt fühlte er jene hitzige Energie durch seinen Körper strömen, die dem Wolf gehörte. So ungewohnt es sich auch anfühlen mochte, dieses Mal schlug David das Angebot des Dämons nicht aus. Zumindest seine Kraft würde er in Anspruch nehmen, um nicht sofort von Mathol niedergestreckt zu werden.
Augenblicklich richtete der Wolf sich auf. Er umfing David wie einen schützenden Mantel im Schneesturm und stimmte ein freudiges Geheul an, das durch den Audienzsaal hallte, bis auch die letzten Köpfe in seine Richtung herumfuhren. Obgleich Mathol ihm in der Rangordnung überlegen war, schien auch Davids Wolf die Auseinandersetzung nicht zu scheuen.
In Mathols Gesicht zuckte es, dann zog er die Lippe zurück, bis das mächtige Gebiss freilag. »Du kleiner Pisser«, knurrte er. Mit einem Satz baute er sich vor David auf und verpasste ihm einen heftigen Stoß gegen die Brust.
David taumelte zurück, fing sich aber wieder und wehrte einen Faustschlag ab, der auf sein Gesicht zielte. Derartig herausgefordert, wollte der Wolf die Führung an sich reißen, doch David drängte ihn im letzten Augenblick zurück. Zu sehr fürchtete er sich vor dem, was der Dämon anrichten könnte, wenn er erst einmal seinem Willen entglitten war.
Mathols Angriffe waren brutal und folgten so schnell aufeinander, dass David kaum begriff, wie er sie überhaupt abwehrte. Aber als Mathol mit rotglühendem, verzerrtem Gesicht einen Schritt zurücksetzte, um Luft zu holen, stand er immer noch aufrecht. Ein Wunder, das David nicht recht begreifen konnte. Erneut stürmte Mathol auf ihn zu, die Hände klauenartig vorgestreckt. Er grub seine Finger in den Stoff von Davids Jacke, um ihn mit aller Gewalt zu Fall zu bringen.
»Los, runter auf den Boden. Ich werde dir zeigen, was Spaß macht!«, brüllte er, dass ihm der Speichel von den Lippen flog.
David versuchte unterdessen nur noch, Mathol abzuschütteln und gleichzeitig seinen vor Wut rasenden Wolf unter Kontrolle zu halten. Doch ganz gleich, wie sehr er sich auch anstrengte und alle Hemmungen, brutal zurückzuschlagen, abstreifte, Mathol wich keinen Deut zurück. Als der Mann jedoch Davids Unterarm zwischen die Zähne bekam und zubiss, brüllte David zornentbrannt auf und trat Mathol die Beine weg. Gemeinsam stürzten sie zu Boden.
Mathol stierte seinen Gegner an, der ihn mit dem ganzen Gewicht seines Körpers zu Boden drückte, dann gab er endlich das Fleisch frei. Obwohl sein Wolf darauf drängte, den unter ihnen liegenden Mann endgültig zu bezwingen, zögerte David. Seine ganze Maskerade flöge auf, wenn er diesen Mistkerl jetzt unterwarf. Aus diesem Grund wollte er schon von ihm ablassen und sich in die Höhe stemmen, als Mathols Mundwinkel verräterisch zuckten. Hochschnellend versuchte er, seine Zähne in Davids Kehle zu versenken. Doch David reagiert prompt und stoppte Mathols Angriff, indem er seine Stirn gegen dessen Nasenbein krachen ließ. Vor Wut und Schmerz brüllend, sank Mathol auf den Boden zurück. Ehe David zum nächsten Schlag ausholen konnte, um ihm noch etwas ganz anderes als die Nase zu brechen, wurde er im Nacken gepackt und außer Reichweite gezerrt.
Nathanels Wolf schleuderte David beiseite, dann platzierte er sich mit einem warnenden Knurren zwischen ihm und Mathol, der sich mühselig aufrappelte. Dabei machte er keinerlei Anstalten, erneut anzugreifen, obwohl ihm anzusehen war, wie viel ihn diese Selbstbeherrschung angesichts der gerade erlittenen Niederlage kostete.
Einen Augenblick später trat Nathanel hinzu und verschmolz wieder mit seinem Schatten. »Ab jetzt gehört die Aufmerksamkeit Hagen«, sagte er so ruhig, als herrsche nicht der geringste Zweifel daran, dass die beiden Kämpfenden seine Anordnung befolgen würden. Und tatsächlich ließ sich niemand zu einem Kommentar oder gar zu einer Drohgebärde hinreißen. Der beeindruckende Beweis seiner Macht hatte Nathanel den Respekt des ganzen Saales eingebracht. Denn außer Hagen und ihm vermochte sich kein anderer aus dem Rudel von seinem Schatten zu trennen. Diese Loslösung forderte viel zu viel Macht und Kraft - vom Menschen genauso wie vom Wolf.
Während Mathol sich widerstrebend hinter Nathanel verzog, kauerte David weiterhin auf dem Boden, vertieft in einen Kampf mit seinem verletzten Stolz und seinem weiterhin aufbegehrenden Wolf. Er war kurz davor, sich über Nathanels Befehl hinwegzusetzen, als die Seitentür des Audienzsaals aufschwang und Hagen in Begleitung von Amelia eintrat.
Obgleich Amelia nicht gerade klein war, wirkte sie an der Seite ihres imposant gebauten Gefährten fast grazil. Ihr dunkelgolden schimmerndes Kleid, das sie an diesem Abend trug, verstärkte dagegen Hagens Düsterheit. Es wirkte wie eine abgesprochene Inszenierung: Sonne und Schatten. Wieder einmal beschlich David der Verdacht, als stimme Hagen hinter verschlossenen Türen ein schrilles, fast gebrochenes Lachen an, das nicht zu seinem dominanten Auftreten als Rudelführer passen wollte, aber unendlich furchterregender war. Etwas an dem Mann wies auf einen tiefen Sprung hin, den er mit aller Macht zu kaschieren versuchte.
Er ist kein echter Anführer eines Rudels, schoss es David unvermittelt durch den Kopf. Einen Moment lang befürchtete er, den Gedanken laut ausgesprochen zu haben. Doch der Einzige, der ihm einen aufmerksamen Blick zuwarf, war Nathanel. Einige Herzschläge lang befürchtete David, ertappt worden zu sein, doch da wandte sich der ältere Mann schon wieder von ihm ab. Ohne eine Regung im Gesicht sprach er leise zu dem vor sich hin fluchenden Mathol. Der gab ein zustimmendes Krächzen von sich, dann schritt er durch die erstarrte Menge und verschwand. Bevor er sich ebenfalls zum Gehen abwendete, nickte Nathanel David zu, der nach wie vor auf dem Boden kauerte. Erst da richtete er sich auf und bemühte sich, den Stoff seiner Kapuzenjacke über der Brust glattzustreichen. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass die Falte, an der er sich wie im Wahn abarbeitete, in Wirklichkeit ein Riss im Stoff war. Ein sichtbarer Beweis für Mathols Rage. Mit steifen Bewegungen zog er die Jacke aus und ließ sie einfach auf den Boden fallen.
Einen Augenblick später ging jemand neben David in die Hocke, so dass er instinktiv ein warnendes Knurren ausstieß. Aber es war nur Jannik, der sich nach der Jacke bückte. Er hängte sie über seinen Arm, dann schenkte er David ein verlegenes Lächeln. Die Angst stand dem jungen Mann noch deutlich ins Gesicht geschrieben, und David konnte eine Mischung aus Scham und Erregung an ihm riechen.
»Das war heftig«, sagte Jannik leise.
David nickte, während er auf seiner Unterlippe kaute, die blutig schmeckte, wie er verblüfft feststellte. Er sah Hagen mit verschlossener Miene durch das Rudel streifen, als wäre er ein natürlicher Bestandteil der Gruppe. Nur die Art, wie sie alle leicht zurückschreckten, erweckte den Eindruck, als wolle sich ein Raubtier unter eine Herde mischen.
Hastig versuchte David, diesen Gedanken zu verdrängen, und blinzelte angestrengt. Im selben Moment traf ihn Hagens Blick. Der hünenhafte Mann verzog seinen Mund zu einem Lächeln, und David glaubte etwas Verschlagenes darin zu entdecken, das ihn hart schlucken ließ. Hagen tauschte noch ein paar Sätze mit Nathanel aus, dann kam er auf David zu.
»Mir gefällt, was du da angeschleppt hast«, sagte Hagen und senkte das Kinn auf die Brust, so dass David ihm notgedrungen in die Augen sehen musste. Es dauerte etwas, bis ihm klarwurde, wovon Hagen sprach. Er hatte eine harsche Zurechtweisung wegen der gemeinsamen Stunden mit Meta oder wegen des Zweikampfes mit Mathol erwartet. Die namenlose Frau dagegen, die er letzte Nacht in das Palais gebracht hatte, hatte er völlig vergessen.
»Nathanel wollte das so«, erwiderte er und bemühte sich um ein ausdrucksloses Gesicht.
Hagens Lächeln blieb wie eingebrannt haften. »Amelia sagte mir schon, dass es dir schwerfällt, dich zu deiner Beute zu bekennen.«
»Man könnte meinen, dass es David leichter fällt, eine Frau zu bespringen, als sie zu erlegen. Ein guter Wolf sollte beides können.« Wie aufs Stichwort hatte sich Amelia zu ihnen gesellt und schmiegte sich an die Seite ihres Gefährten. Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, gefiel David noch weniger als ihre Worte. Amelia betrachtete ihn mit einer unverhohlenen Vorfreude, als wisse sie etwas, das ihm bislang entgangen war. Hilfesuchend wandte er sich zu Nathanel, aber der sah demonstrativ an ihm vorbei.
»David, warum kommst du nicht mit nach vorn? Was wir heute Nacht zu besprechen haben, könnte dich interessieren«, bot Hagen freundlich an, als habe Amelia die anzügliche Bemerkung niemals gemacht.
Kurz spielte David mit dem Gedanken, das Angebot höflich auszuschlagen und sich mit Jannik in die Nähe des Ausgangs zu stellen. Dann begriff er, dass es sich nicht um ein Angebot, sondern um einen Befehl handelte. Jannik, der dies deutlich schneller verstanden hatte, wich bereits zurück und schenkte ihm noch ein schiefes Lächeln.
Mit schlecht verborgenem Widerwillen folgte David dem Rudelführer zum großen Tisch, auf dem wie immer die Pelzdecke ausgebreitet lag. Hagen platzierte sich dahinter und stützte sich mit beiden Armen darauf ab.Amelia setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf eine Tischecke und strich sich mit einer trägen Bewegung das goldbraune Haar zurück, während Nathanel sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnte und sichtlich mit seiner Erschöpfung kämpfte.
Davids Versuch, sich in die Reihen des Rudels zurückfallen zu lassen, wurde von einem plötzlich auftauchenden Leug verhindert, der sich hinter ihm aufbaute wie eine Mauer. Den Kiefer vor Wut zusammengepresst, fügte sich David und gesellte sich zu Nathanel, der ihn nicht weiter beachtete. Von Mathol war unterdessen keine Spur zu entdecken.
Hagens Blick glitt über die gut vierzig Gesichter seines Rudels, Männer wie Frauen, mehr junge als alte, denn etwas in dem Dämon oder der Lebensweise im Rudel sorgte dafür, dass sie kein besonders langes Leben führten. Die meisten von ihnen waren unauffällige Gestalten, in ihrer zurückhaltenden Art schon fast seltsam anmutend. Alltagsgesichter, die keine Aufmerksamkeit auf sich lenkten, den Blick gesenkt, als müssten sie das leuchtende Blau ihrer Augen verbergen.Vermutlich hatten sie alle schon zu viel Aufmerksamkeit wegen ihrer Andersartigkeit auf sich gezogen. Nur einige Gestalten stachen aus diesem grauen Einerlei hervor. Sie versuchten offenbar, sich darin zu übertrumpfen, Hagens grimmiges Auftreten nachzuahmen.
Allerdings hatte der Rudelführer für die Gesichter, mit denen er sich üblicherweise am häufigsten umgab, heute keinen zweiten Blick übrig. Stattdessen konzentrierte er sich auf diejenigen, die hastig die Lider niederschlugen und sich vor lauter Unsicherheit im Gedränge des Rudels verbargen. Anstelle von Wärme und Vertrauen schlug Hagen eine auf Vorsicht gedrillte Anspannung entgegen, aber er erwartete auch nichts anderes. Er gehörte nicht zu jenen Anführern, die viel auf Zuneigung und ehrlich erworbenen Respekt gaben. Seit er die Führung übernommen hatte, war es weniger darum gegangen, dass Miteinander von Mensch und Wolf erträglich zu gestalten, als darum, den Einfluss des Anführers zu stärken - und zwar außerhalb des Rudels. Darum ging es Hagen.
Dadurch unterschied er sich von seinen Vorgängern und auch von den anderen Rudelführern in der Stadt. Es drängte ihn danach, sein Jagdrevier zu vergrößern, damit seine über die Jahre pervers angewachsene Reißlust befriedigt werden konnte. Einige behaupteten hinter vorgehaltener Hand, dass es bei den Ritualen schon lange nicht mehr darum ging, den Jagdtrieb des Rudels zu befriedigen und den Wolf zu stärken, damit er das Revier behaupten konnte. Sondern dass alles darauf abzielte, den Dämon zu brechen, etwas aus ihm zu machen, was er nicht war: eine blutdurstige Bestie.
Wenn die Sprache auf dieses Thema kam, hielt David sich zurück. Denn jählings erscholl Convinius’ vertraute Stimme, die ihn mahnte, dass der Wolf ohne Zweifel eine mörderische und widernatürliche Bestie sei. Die Mitglieder eines Rudels, hatte Convinius stets abfällig behauptet, redeten sich gegenseitig ein, es mit einem Wesen zu tun zu haben, das ein natürlicher Teil von ihnen war und Gemeinsamkeiten mit einem echten Wolf aufwies. Aber Convinius hatte den Wolf einen Dämon, einen grausamen Fluch genannt, der einen zur Einsamkeit verpflichtete. Lange Zeit hatte David ihm geglaubt, doch mittlerweile wusste er nicht mehr, was er davon halten sollte. Obwohl er nur am Rand des Rudels lebte, hatte er doch beobachten können, dass viele von ihnen sich mehr nach Ruhe und Geborgenheit als nach Opfern sehnten.
David hasste diese Grübeleien, denn er wollte am liebsten gar nicht darüber nachdenken, genauso wenig, wie er sich mit seinem Wolf auseinandersetzen wollte. Da er ihn nicht rief und die meisten seiner Kämpfe ohne seine Mithilfe bestritt, hatte sich der Dämon die letzten Jahre nur selten gemeldet und kauerte im Inneren seines Hüters wie in einer dunklen Höhle. Ein verwaistes, gezähmtes Geschöpf - bis jetzt. Seit Meta in Davids Leben getreten war, war der Wolf zweifellos reger geworden. Sein wildes Aufbegehren während des Kampfes mit Mathol war der beste Beweis dafür. Es schien, als hätte Meta den Wolf hervorgelockt. Oftmals kam es David sogar vor, als sehne der Dämon sich genauso nach ihrer Nähe wie er. Dass er bei dieser Vorstellung einen eifersüchtigen Stich verspürte, machte das Ganze noch verwirrender. Seit der ersten Nacht, die er mit dieser leidenschaftlichen und zugleich kühlen Frau verbracht hatte, ließ sich die Gleichgültigkeit, mit der er durchs Leben gewandelt war, nicht länger aufrechterhalten. Obwohl ihm seine Affäre mit Meta trotz der hämischen Blicke seines Rudels wie ein Geschenk vorkam, gefiel ihm das vitale Interesse seines Wolfes nicht im Geringsten.War es doch die Schuld dieses Dämons, dass er sein Leben nicht nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten konnte.
Als Hagen nun zu einer Begrüßung ansetzte, um die Zusammenkunft zu eröffnen, versuchte David mit aller Macht, das unterschwellige Knurren seines Wolfes zu überhören, das ihm in den Ohren dröhnte. Zumindest teilten sie ihre Abneigung gegenüber diesem Mann.
»Wir haben uns in der letzten Zeit selten versammelt, aber wir wissen alle, dass dies ein gutes Zeichen ist: Alles läuft bestens, unser Rudel gedeiht. Es gedeiht sogar so gut, dass wir einige neue Mitglieder in unserer Mitte begrüßen dürfen. Solche, die die Einsamkeit aufgegeben haben, nachdem sie unseren starken Ruf vernommen haben, und solche, die ihrem alten Rudel entwachsen waren.«
Bei diesen Worten ging ein kaum wahrnehmbares Raunen durch den Audienzsaal, in das David unbedacht mit einstimmte, obwohl er in der Nähe von Hagen stand. Doch er konnte sich dem geäußerten Missbehagen nicht entziehen. Gewiss war es immer wieder einmal vorgekommen, dass jemand von einem Rudel in ein anderes wechselte: verlorene Machtkämpfe, Liebesgeschichten … Aber die Neulinge, von denen die Rede war, wurden von dem Blutgeruch angezogen, der Hagen umgab wie ein dunkler Heiligenschein. Zwar standen sie inmitten ihres neuen Rudels, doch sie wirkten stets allein. Nicht, dass es ihnen etwas ausgemacht hätte, denn all ihre Blicke galten ohnehin nur Hagen, dem Gebieter über Tod und Leben in dieser Stadt voller Opfer. Nun, viele Menschen spürten die Anwesenheit des Dämons und verhielten sich entsprechend vorsichtig, wenn sie auf den Straßen unterwegs waren. Auch die modernen Zeiten voller Kameras, Handys und anderem elektronischen Zeug machten es nicht unbedingt einfacher. Man musste sich seine Beute besonnen aussuchen, wenn man keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Und Hagen wusste, wie man an Opfer herankam, für die sich niemand interessierte. Welche Bündnisse man knüpfen musste, um Menschen in seine Gewalt zu bringen, deren Namen niemand kannte und die keine Spuren in der Stadt hinterließen.
Bei diesem Gedanken brach David der Schweiß aus. Vor seinem inneren Auge sah er die junge Frau, die in einem zerknitterten Kleid und wundgelaufenen Füßen irgendwo in der Zimmerflucht des Palais auf einer alten Matratze schlief. Zu wissen, dass es diese Frau gab, war der Preis, den er dafür zahlen musste,Teil eines Rudels zu sein. Schließlich hatte Convinius ihm das unentwegt eingebläut - auf eine Art und Weise, dass David immer noch die Spuren dieser Lehrstunden an seinem Leib trug. Wer Teil eines Rudels ist, akzeptiert das Jagen, das der Anführer als Stellvertreter für die Seinen übernimmt. Genau das tat Hagen, wenn er Namenlose als Lohn für seine Dienste forderte. Er jagte sie für das Rudel und riss die Beute, um zu erstarken, so dass kein feindliches Rudel auf die Idee verfiel, ein Kräftemessen zu wagen. Der Wolf war ein Dämon, ein Raubtier, dessen Instinkte befriedigt werden mussten - darin bestand die oberste Pflicht eines Anführers. Wer also das Jagen ablehnte, wählte zwangsläufig die Einsamkeit. Anders als Convinius hatte David die Einsamkeit nicht ertragen können.
Als wäre es Davids plötzlichen Schuldgefühlen gelungen, trotz Hagens überwältigender Präsenz zu Nathanel durchzudringen, warf dieser ihm einen nachdenklichen Blick zu. Hastig schaute David zu Boden.
Unterdessen kümmerte Hagen sich nicht weiter um das Murren des Rudels, sondern gestand ihm sogar einen gewissen Raum zu - ein Beweis seiner Macht. Sobald er nämlich wieder die Stimme erhob, wurde es schlagartig still.
»In einem Rudel kann man nichts lange geheim halten. Daher wissen wohl schon alle, dass wir die Grenzen unseres Reviers neu abstecken müssen. Dank unserer als blutig verschrienen Bräuche sind wir das mächtigste Rudel in dieser Stadt.« Während sich in Hagens Stimme ein erregter Ton schlich, gruben sich seine Finger in die Pelzdecke. »Die Stadt gehört uns, sie ist unser Revier.« Die absolute Überzeugung, die er ausstrahlte, griff auf das Rudel über und erfüllte den Saal mit einer knisternden Atmosphäre.
Dort, wo das Rudel besonders gedrängt stand, konnte David Hände beobachten, die plötzlich zur Seite ausscherten, um den Nebenmann zu berühren, Leiber, die sich vor- und zurücklehnten, Arme und Hüften, die aneinandergerieben wurden. Der Wunsch, miteinander zu verschmelzen, griff rasend schnell um sich. In der Menge erkannte er Jannik, der die Augen geschlossen hielt und den Kopf gegen die Schulter einer älteren Frau gelehnt hatte, von der David glaubte, dass es Ruth war. Doch er konnte nur ihre Rückseite erkennen, da sie in den Armen eines Mannes lag.Auch er selbst war diesem rasch um sich greifenden Bedürfnis ausgeliefert und ertappte sich dabei, wie er sich möglichst dicht neben Nathanel stellen wollte, so dicht, dass sie sich unweigerlich berühren würden. Als könne eine Berührung die seltsame Erregung mindern, die Hagens Ruf in ihm geweckt hatte.
Es war das Eingeständnis von Zusammengehörigkeit, einander zu brauchen. Es entspann sich eine dem Wolf eigentümliche Energie, die sie miteinander verband. Ein wunderbares, wohliges Gefühl, das einen bestärkte und dem Leben einen Sinn verlieh. Diese Verbundenheit war einer der Gründe gewesen, warum David nach Convinius’ Tod Hagens Vorschlag, sich seinem Rudel anzuschließen, nicht abgelehnt hatte. Nach diesem Gefühl der Zugehörigkeit hatte er sich immerzu gesehnt, ganz gleich, wie hoch der Preis dafür sein mochte.
Doch bevor David tatsächlich seinem Bedürfnis nachgab und zu Nathanel ging, der nach wie vor allein und seltsam distanziert an der Wand lehnte, kam ihm erneut die junge Frau in den Sinn. Das Wissen um den Preis für diese Zusammengehörigkeit versetzte ihm einen Stich.
Amelia war inzwischen über den Tisch zu Hagen geklettert, und als er erneut zu sprechen begann, legte sie ihre Lippen an sein Ohr, als flüstere sie ihm etwas zu.
»Ich denke, der Weg, den wir beschreiten werden, ist allen hier klar: Wir werden Maggie das Angebot machen, sich uns anzuschließen. In der nächsten Zeit werden wir ihr zeigen, dass sie ihre Grenzen nicht aufrechterhalten kann. Im Augenblick mag sie sich zwar noch tot stellen, aber wir werden sie zwingen, unsere Grenzüberschreitungen nicht länger zu ignorieren.« Hagen streichelte bei diesen Worten über den Rücken seiner Gefährtin. Dabei hielt er seinen Blick gesenkt, gerade so, als erzähle er sich seinen Plan selbst. »Dann werden wir sehen, was Sascha und sein Haufen zu der neuen Situation sagen. Hält er still - gut. Fängt er an zu knurren - besser.Wir sind zahlreich und stark genug, um ihn aus der Stadt zu jagen. Um die kleinen Rudel in den Vorstädten müssen wir uns keine Sorgen machen, die werden sich aus unseren Geschäften schön raushalten. Und wir werden uns beizeiten um sie kümmern.«
Hagen hielt inne und sah sich um. Doch es gab weder Widerspruch noch begeisterte Zurufe. Über diesen Punkt waren sich in der Tat alle einig, ganz gleich, was der Einzelne darüber denken mochte. Hagen hatte diesen Weg schon vor langer Zeit eingeschlagen, und wer Bedenken geäußert hatte, war entweder verstummt oder hatte das Revier verlassen - freiwillig oder mit Nachhilfe, wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte. Bei diesem Zusammentreffen war eigentlich nur ausgesprochen worden, was sie schon lange ahnten: Sie würden gegen Sascha in den Krieg ziehen. Für welchen Lohn? Darüber wurde nicht gesprochen.
Trotzdem hielt die Anspannung an, als erwarte ein jeder, dass noch etwas anderes kommen würde, als sei der Höhepunkt dieses Treffens noch nicht erreicht. Hagens Mund verzog sich zu einem Lächeln, während er geschmeidig auf den Tisch kletterte und sich in eine lauernde Haltung hockte. Unwillkürlich drängte die Menge sich näher an ihn heran in der Hoffnung, er würde endlich in sie eintauchen, sie alle vereinen.
»Uns stehen einige Herausforderungen bevor, weshalb ich meinen engsten Kreis ausdehnen werde.« Langsam drehte Hagen sich um die eigene Achse und schob sein Kinn unnatürlich weit vor. Seine Augen fixierten David, der instinktiv zurückwich und gegen Leug stieß. Blitzschnell drehte Leug ihm den Arm auf den Rücken, Davids Fluchen dabei ignorierend. »Uns zerrinnt die Zeit zwischen den Fingern, David«, erklärte Hagen mit einer lockenden Stimme, doch das gierige Funkeln in seinen Augen erzählte eine andere Wahrheit. »Leider kann ich nicht länger Rücksicht auf deinen Widerwillen nehmen. Ich habe mir so viel Mühe gemacht, dich in dieses Rudel zu locken. Nun wirst du auf dich nehmen, was es braucht, um ein ernstzunehmendes Rudelmitglied zu werden. Ich wünschte mir, du wärst in der Vergangenheit nicht so widerborstig gewesen, dann hätten wir diesen Weg Schritt für Schritt gehen können. Heute Nacht, befürchte ich, wirst du ihn mit einem Anlauf nehmen müssen.«
David erstarrte, während die Worte langsam zu ihm durchdrangen. Wie ein verzerrtes Echo hallten sie wider und ließen sich nur mühsam zusammensetzen. Und während sein Verstand Hagens Worte noch nicht begreifen konnte, flutete ihm schon die Vorfreude des Rudels entgegen: In ihrem Kreis würde heute Nacht ein Wolf zu seinem großen Sprung ansetzen. Die Begeisterung wallte auf, riss auch jene mit, die sich dem Jagdwillen des Dämons für gewöhnlich nicht leichtfertig unterordneten.
David selbst hatte einige Jagdgeschichten gehört, denn in der engen Gemeinsamkeit des Rudels erzählte man sich viel und gerne. Aber er war noch nie Zeuge geworden, kannte bislang nur die grauenhaften Überbleibsel vom nächsten Morgen, wenn Hagen sich ausgetobt hatte. In diesem Rudel war das Ritual zu einem eifrig gehüteten Privileg geworden, dessen Erleben der Anführer nur noch mit einigen Auserwählten teilte. Nun, David hatte während seiner Zeit mit Convinius erlebt, was es bedeutete, wenn der Dämon freigelassen wurde - auf derartige Privilegien konnte er gut und gern verzichten. Sein Wolf sehnte sich zwar nach der Jagd und einem gelegentlichen Kräftemessen mit seinesgleichen, aber Sehnsucht nach Blut und Tod hatte er bislang noch nicht offenbart.
Während David versuchte, sich aus Leugs Griff zu winden, schaute er hilfesuchend zu Nathanel. Der hagere Mann erwiderte seinen Blick auch unumwunden, doch darin war nichts als distanzierte Kälte zu finden. Es gelang David kaum, seine Enttäuschung zu verbergen, und als er dicht neben sich Hagens Lachen hörte, wagte er es nicht, ihn anzusehen.
Hagen schien seine Verletztheit noch vertiefen zu wollen: »Bedank dich bei Nathanel hierfür. Er war der Meinung, dass bei dir Eile geboten sei.« Die Stimme war zwar gesenkt, dennoch war die Gehässigkeit herauszuhören.
Einen Herzschlag lang spielte David mit dem Gedanken, Hagen anzugreifen, sich jetzt schon für das zu rächen, was ihm gleich angetan werden würde. Doch er riss sich zusammen. Leug in seinem Rücken wusste, was er tat, so dass er bei dem Versuch eines Angriffs nicht weit käme.Vermutlich lieferte er Hagen mit seiner Unbeherrschtheit auch noch einen Grund zum Spott.
Plötzlich schwenkte die Aufmerksamkeit des Rudels um, und auch David verspürte unvermittelt ein Zerren, als würde er von einer Leine gezogen werden. Der Auslöser: Ein lädiert aussehender Mathol bahnte sich seinen Weg durch die Menge und führte die junge Frau an seiner Seite, die David ins Palais gebracht hatte. Sie wirkte betäubt, doch nicht, als habe man ihr Drogen eingeflößt, sondern vielmehr, als habe sich ihr Geist vor lauter Entsetzen hinter eine Mauer zurückgezogen. Zwar hielt Mathol sie grob am Arm gepackt, aber sie torkelte, ohne Widerstand zu leisten, neben ihm her.
Beim Anblick ihres gräulich schimmernden Gesichtes, das vom strähnigen Haar umrahmt war, und dem Kleid, das um ihren Körper schlackerte, wurde David speiübel. Wie eine Feuerschneise fraß sich ihre Angst zu ihm durch, traf ihn so hart, dass er kaum zwischen ihren und den eigenen Empfindungen unterscheiden konnte. Mathol trieb sie bis vor den riesigen Tisch, packte sie bei den Hüften und hievte sie hinauf. Dort blieb sie einfach sitzen, genau so, wie er sie abgesetzt hatte.Aus dem Rudel erklang spärlich unterdrücktes Aufstöhnen, ein nur durch den Instinkt geleitetes Bedürfnis, seine Triebe nicht länger im Zaum zu halten, sondern vorzustürmen und zu jagen. Aber niemand wagte es, sich derartig gehenzulassen.
Hagen, dessen gieriger Blick ebenfalls auf die Frau geheftet war, trat nun einen Schritt zurück und breitete einladend die Arme aus. Ein Zeremonienmeister, der das Büfett eröffnete. »Nun, David, was sagst du zu meinem Geschenk? Amelia hat sie extra für dich ausgesucht, sie meinte, ihr Aussehen würde dich anspornen. Zierlich, blondes Haar … Irgendwie habe ich das Gefühl, das Mädchen schon einmal gesehen zu haben.« Er lachte trocken, und ein paar andere stimmten mit ein. »Der Tradition nach ist sie natürlich deine Beute. Schließlich hast du sie hierhergebracht. Also, greif zu.« Hagen grinste anzüglich.
Den Schmerz in seiner Schulter ignorierend, lehnte David sich so weit vor, wie Leugs Griff es zuließ. »Du kannst mich nicht dazu zwingen«, sagte er leise. Dabei klang eine solche Gewissheit durch, dass Hagens Mundwinkel sich bedrohlich tief nach unten verzogen.
»Warum sollte ich mir die Finger an dir schmutzig machen?«, konterte er. Trotz seiner Worte packte er David ins Haar und zerrte ihn mit brachialer Gewalt nach vorne. Hinter ihnen stöhnte Leug vor Überraschung auf, als er Davids Arm gezwungenermaßen freigab.
David stolperte einige Schritte, während er vor Schmerzen die Augen zukniff. Es fühlte sich so an, als wolle Hagen ihn mit bloßen Händen skalpieren. Dann stieß er mit voller Wucht gegen die Tischkante und kippte vornüber. Hagen half dem Ganzen noch nach, indem er seine Finger in Davids Nacken grub und ihn niederdrückte, bis sein Gesicht in dem borstig abstehenden Pelz versank.
Von dem Fell ging ein seltsamer Geruch aus, und seine Berührung glich ganz und gar nicht der einer toten Haut. David kam es vor, als hätte man sein Gesicht mit Gewalt in den Schoß des Dämons gezwungen und dieser würde sich ihm nun entgegenstemmen. Entsetzt riss er den Mund zu einem Schrei auf, woraufhin unzählige Härchen über seine Lippen tanzten. Er wollte zurückweichen, doch Hagen hatte sich direkt hinter ihn gestellt und verhinderte den Fluchtversuch mühelos. Nicht einmal seine Arme zitterten, als David sich mit aller Kraft zu entwinden versuchte. Stattdessen drückte er dessen Gesicht erneut nieder.
Der Wolf in seinem Inneren heulte gequält auf, bevor er sich in den tiefsten Winkel von Davids Seele zurückzog. David glaubte ersticken zu müssen, trotzdem war es ihm unmöglich, einzuatmen, so sehr ekelte er sich vor dem Pelz. Die Berührung rief einen derartigen Widerwillen in ihm wach, dass er ihn nicht einmal zügeln konnte, als ihm die Beine unter dem Körper wegzusacken drohten. In weiter Ferne spürte er die Aufregung des Rudels, aber er hoffte nicht darauf, dass ihm jemand zu Hilfe eilen würde - niemand war Hagen gewachsen, und sie alle wussten das nur zu genau. Außerdem - wer wollte schon jemandem zur Seite stehen, der sich gegen den Anführer auflehnte?
Ohne sagen zu können, ob sein Körper einfach wegen des Sauerstoffmangels ermattete oder ob er sich letztendlich Hagens Willen unterwarf, gab David den Widerstand auf. Einen Moment später löste sich der Griff in seinem Nacken, obgleich Hagen bedrohlich dicht hinter ihm stehen blieb. Für einige Atemzüge war es ihm auch gleichgültig. Er war nur darauf bedacht, den Kopf zur Seite zu drehen und seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Dann richtete er sich vorsichtig auf, musste jedoch feststellen, dass Hagen ihm kaum Spielraum ließ. Ungelenk kletterte er auf den Tisch und nutzte die Gelegenheit, in die Menge zu schauen. Alle Augen ruhten auf ihm. Er konnte die Gier sehen, die Lust an der Jagd, die Hagen auf ihn machte und die er selbst gleich auf die namenlose Frau machen würde. Er suchte nach Jannik und fand sein blasses Gesicht schließlich in den hinteren Reihen. In dem Jungen kämpfte ein Wettstreit zwischen Entsetzen und jener Fiebrigkeit, die das gesamte Rudel gefangen hielt. Aber auch eine Spur von Scham, weil er seinem Freund nicht zu Hilfe gekommen war. Jannik senkte den Blick, und auch David hielt es nicht länger aus, seinen Freund anzusehen.
Neben ihm regte sich die Frau. David reagierte auf ihre Bewegung, bevor er es überhaupt begriff. Sie hatte sich den hochgerutschten Kleidersaum über die Oberschenkel gezogen und zuckte bei Davids hastiger Bewegung zusammen. Als sie sich das Haar hinter die Ohren strich, erinnerte diese Geste David so schmerzlich an Meta, dass er beinahe vor Erbitterung aufgestöhnt hätte. Ihre grünen Augen machten es nicht besser, vor allem, weil aus ihnen neben der ganzen Furcht, die sie empfand,Verachtung gleißte. David rutschte auf sie zu und wollte beruhigend die Hand nach ihr ausstrecken, da schoss ihr Arm hervor, und sie hielt ihren Zeigefinger ausgestreckt in die Luft. Mitten in der Bewegung erstarrte er und blickte sie stumm an.
Die Frau öffnete ihren Mund, aber erst beim zweiten Anlauf drangen auch Worte mit einem kaum verständlichen Akzent heraus: »Was willst du, mich hier bumsen? Auf diesem Fell, vor denen da?«
»Das wäre schön, was?«, tönte Mathol, der weiterhin die Stellung neben ihr hielt, und lachte dreckig. »Nein, Mädchen. Der Junge wird dich gleich fressen.« Blitzschnell beugte er sich vor und schnappte mit seinen riesigen Zähnen in die Luft, dass es klackte. »Streng dich an, David, dem Publikum muss schließlich etwas geboten werden.«
Als Mathol sich ihr mit seiner immer noch blutenden Nase entgegenneigte, wich die Frau mit einem spitzen Schrei zurück, bis sie gegen Davids Arm stieß. Wie ein in die Enge getriebenes Tier blickte sie wild von einem zum anderen.
Mathol schien die Situation äußerst gut zu gefallen, er ließ sogar ein angriffslustiges Knurren hören, bei dem sich sämtliche Haare auf Davids Unterarmen aufstellten. Es mochte eine Sache sein, ein Opfer zu jagen und in die Ecke zu drängen. Aber es zu quälen, lag gewiss nicht in der Natur des Wolfes. Das Rudel sah das offensichtlich ähnlich, denn eine Welle von Missmut durchströmte den Raum.
Plötzlich schob sich Amelia zwischen Mathol und den Tisch, berührte die Frau an der Schulter und sagte eindringlich: »Lauf! Lauf, so schnell du kannst.«
Als habe sie lediglich auf diesen Anstoß gewartet, sprang die Frau vom Tisch. Doch kaum kamen ihre Füße auf dem Boden auf, knickte sie um und fiel auf die Knie.Vollkommen aufgelöst, versuchte sie, auf allen vieren weiterzukriechen, hielt jedoch mit schmerzverzerrtem Gesicht inne und fasste sich an den verdrehten Knöchel.
In das Rudel geriet Bewegung, bestimmt durch den Wunsch vorzupreschen und der eindeutigen Anweisung ihres Anführers, sich zurückzuhalten.Auch Mathol blieb zähneknirschend hinter Amelia stehen, deren Nasenflügel angesichts des ausgelieferten Opfers vor Anspannung vibrierten. Die offenkundige Jagdlust stand im krassen Gegensatz zu ihrem sorgfältig geschminkten Gesicht.
Unterdessen nutzte David den Moment, um vom Tisch, der ihm mehr denn je wie ein Opferaltar erschien, hinabzusteigen. Allerdings hatte sich Hagen nicht von dem Durcheinander ablenken lassen und machte einen bedrohlichen Schritt auf ihn zu. Dabei bot er die ganze Autorität auf, die der Wolf ihm zur Verfügung stellte. Er ergriff Davids Oberarm und grub seine Finger hinein, dass David befürchtete, der Knochen könnte bersten.
Als Hagen zum Reden ansetzte, zitterte seine Oberlippe vor Anspannung. »Du wirst sie dir jetzt schnappen. Oder ich lasse dieses Miststück herbringen, das dich die letzten Wochen fast um den Verstand gebracht hat. Dann werde ich dafür sorgen, dass du stattdessen ihr das verfluchte Genick brichst«, flüsterte er so leise, dass David die Worte kaum verstand. »Mir ist es völlig egal, wie, aber du wirst deinen Wolf jetzt, verdammt noch mal, stärken!«
Benommen schüttelte David den Kopf, gleichgültig, dass sich über Hagens Antlitz ein Schatten auszubreiten drohte, der ihn vernichten konnte. Doch in diesem Moment wurden auch seine Sinne in ein Grau getaucht, das die Welt anschließend um ein Vielfaches lebendiger erscheinen ließ. Ohne dass er darum gebeten hatte, war ihm der Dämon zu Hilfe geeilt. Flüchtig schloss er die Augen, als sein Wolf mit ihm verschmolz.
»Du willst also, dass ich ein Opfer stelle - Hauptsache, der Dämon in mir wird stärker?«, fragte David seinen Anführer, der kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. »Irgendein Opfer?«
»Ja«, erwiderte Hagen mit einer Stimme, in der nichts Menschliches mehr zu finden war. »Sofort.«
Mit einem Satz war David wieder auf dem Tisch und überquerte ihn mit zwei langen Schritten. »Mathol, hierher!«, rief er, und es klang wie ein Befehl.Widerwillig riss der Angesprochene den lauernden Blick von der tränenüberströmten Frau, der er Zentimeter für Zentimeter auf ihrem Weg durch den Audienzsaal gefolgt war.
»Halt’s Maul. Hättest sie dir ja nehmen können, jetzt gehört sie mir«, knurrte Mathol, kehrte aber dennoch zum Tisch zurück.
»Ich will nicht die Frau - ich will dich«, erwiderte David und verpasste dem Mann kurzerhand einen Tritt gegen die Stirn.
Noch während Mathol mit ungläubigem Ausdruck nach hinten kippte, kam David auf dem Boden auf und räumte Amelia, nicht ohne eine gewisse Genugtuung, mit einem Stoß aus dem Weg.
Zuerst sah es so aus, als wollte Amelia ihn anspringen, um sich für diese Unverschämtheit zu rächen, doch dann hielt sie inne, weil sie begriff, was David vorhatte. Auf ihren Zügen spiegelte sich eine verzückte Vorfreude, und sie warf Hagen, der Davids ungestümen Angriff auf Mathol beobachtete, eine Kusshand zu.
Blitzschnell drehte sich der gestürzte Mathol auf die Seite und versuchte, David mit seinen schweren Stiefeln zu treffen. Aber David wich den Tritten geschickt aus. Mit geschmeidigen Bewegungen umkreiste er Mathol, der nicht wagte, sich aufzusetzen.
»Verfluchter Scheißkerl«, schrie Mathol, außer sich vor Zorn.
Das Rudel bebte vor Aufregung und baute sich um sie herum auf, um nur keinen Augenblick dieses Schauspiels zu verpassen. Einige feuerten David sogar an. Mathol war für seine Grausamkeit und sein Vergnügen daran, Schwächere zu quälen, verhasst. Niemand wollte sich auch nur eine Sekunde davon entgehen lassen, wie David diesen Mistkerl in die Schranken verwies.
Mathol, der Demütigungen selbst kaum ertrug, war mittlerweile so aufgebracht, dass er keinen Gedanken mehr an seine Deckung verschwendete, sondern zum Angriff ansetzte. Auf diese Gelegenheit hatte David nur gewartet. Aber als er vorpreschte, um sich den fluchenden Mann zu schnappen, wurde er im letzten Moment von einem brutalen Schlag in die Nieren überrascht. Alle Kraft verließ ihn, und er fiel vor Schmerzen auf die Knie. Immerhin gelang es ihm, zur Seite auszuweichen, bevor ihn ein weiterer Schlag treffen konnte. Während er sich schwer atmend aufrichtete, erblickte er Mathols Kumpanen Leug, der ihn gegen jede Regel von hinten angegriffen hatte.
Unterdessen hatte Mathol sich aufgerappelt und war in Angriffsstellung gegangen. »Wenn du brav stillhältst und mir die Kehle präsentierst, beiße ich dir vielleicht nur etwas anderes durch«, bot Mathol an und umrundete David, so dass dieser zwischen ihm und Leug gefangen war.
Doch David ignorierte diese Aufforderung ebenso wie das gebannte Ausharren des Rudels, Hagens stummes Drängen, Amelias Erregung und das durchdringende Aphrodisiakum, das nichts anderes als die Furcht der zum Opfer bestimmten Frau war. Stattdessen schob er sämtliche antrainierten Hemmungen beiseite und rief seinen Wolf. Als der Dämon Gestalt annahm, hielt er ihn nicht zurück, sondern ließ ihn gewähren, während er die Grenzen zwischen der inneren und äußeren Welt überquerte. Ehe einer der beiden Männer angreifen konnte, stürzte sich Davids Schattenwolf auf Leug, der voller Bestürzung unter dem schemenhaften Angreifer zusammenbrach.
Zugleich schleuderte David Mathol erneut zu Boden, bevor dieser überhaupt begriff, wie ihm geschah. Mit einer schier übermenschlichen Kraft, die sich allein aus seiner Wut speiste, drückte David die Schultern des Mannes auf den Boden. Seine Finger gruben sich durch Stoff und Fleisch, und er spürte, wie unter dem Druck ihrer Kraft Knochen nachgaben und zerbrachen. Er stierte Mathol an, bereit, ihn zu töten.
Da kehrte Davids Schattenwolf zurück, baute sich hinter Mathols Kopf auf. Die Lefzen des hochgewachsenen, schweren Wolfes waren zurückgezogen und entblößten die Reißzähne eines natürlichen Raubtieres. Seine angespannte Schultermuskulatur zeichnete sich unter dem grauen Fell ab, die krallenbewehrten Pfoten stemmten sich gegen den Boden und verursachten dabei nicht das leiseste Geräusch - ein Schatten und zugleich eine Bestie, die bereit dazu war, ihre Fänge in reales Fleisch zu schlagen.
David nickte dem Wolf unmerklich zu, während er den Griff um Mathols Schultern verstärkte. Als ihm einen Herzschlag später Blut ins Gesicht spritzte, zuckte er nicht zurück. Er behielt seine Hände auf Mathols Schultern und sah ausdruckslos dabei zu, wie der Mann unter ihm, von Krämpfen geschüttelt, verblutete.
Zunächst waren Mathols Augen noch weit aufgerissen, obgleich auch auf sie ein roter Funkenregen niederging. Dann begannen die Lider zu flattern, bis schließlich das einst strahlende Blau verblasste. David sah in leere Augen, und einen Moment später tat sich eine braune Iris auf, starr und leblos.
Mit größtmöglicher Konzentration löste David die Finger von dem toten Mann und richtete sich mit steifen Bewegungen auf. Mathol lag ausgestreckt da, die tiefe Wunde an seinem Hals gnädigerweise vom dunklen Blut bedeckt. Mit zittrigen Fingern griff David nach dem Saum seines T-Shirts und wischte sich damit über das Gesicht. Als er den Blick hob, durchfuhr ein Flackern seinen Schattenwolf, als zuckten Blitze über einen Gewitterhimmel. Die Konturen des riesigen Tieres vibrierten, doch bevor es sich auflösen konnte, setzte es zum Sprung an und verschmolz mit Davids Körper.
David keuchte auf und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Rasant breitete sich direkt unter seiner Haut ein Brennen aus, als würde dort etwas hineingeätzt werden - eine Markierung, wie er voller Abscheu erkannte.Trotzdem widerstand er dem Bedürfnis, sich zu kratzen, bis die verseuchte Haut in Fetzen herunterhing. In seiner Verzweiflung konzentrierte er sich auf sein Innerstes, stieß jedoch nur auf eine Leere, als läge das gerade Erlebte bereits Jahrtausende zurück und hätte eine Einöde hinterlassen. Aus weiter Entfernung nahm er wahr, wie die Rudelmitglieder sich ihm vorsichtig näherten, hörte ihren Herzschlag, spürte ihre Atemlosigkeit. Eine stille Andacht.
Erneut blickte David auf den blutverschmierten Leichnam zu seinen Füßen, als dieser plötzlich von einem Schatten umhüllt wurde. Immer neue dunkle Schlieren woben ein Netz, breiteten sich wie ein graues Leichentuch aus, bis die Umrisse von Mathol nur noch zu erahnen waren. Während David das Geschehen voller Unglauben beobachtete, zog sich der Schatten zu einem heulenden Wolfskopf zusammen, der ein ohrenbetäubendes Klagelied ausstieß.
Gepeinigt schloss David die Augen, und hinter seinen Lidern setzte eine Explosion ein, der er sich unmöglich entziehen konnte. Er wurde mitgerissen, ohne zu begreifen, wie ihm geschah. Obwohl die Explosion gleißend hell erschien, so wusste David doch, dass es kein Licht gab, sondern nur eine grenzenlose Schwärze, die sich endlos verdichtete. Ein Teil von ihm wurde in diese Finsternis gerissen und neu geboren - das erkannte er, ohne es zu verstehen. Er hörte in weiter Ferne das Heulen seines Wolfes, aber er konnte es nicht deuten. Dieses Universum gehörte dem Dämon. Dies war sein Schattenreich, dem er zu entfliehen versuchte, indem er sich in der Brust der Menschen neben ihrer einzigartigen Seele einnistete und mit ihrer Hilfe auf die Welt blickte.
Als David die Augen wieder aufschlug, hatte er keinen Begriff davon, wie lange er im Schattenreich gewesen war. Dafür war das Bild, das seine Umgebung abgab, um ein Vielfaches detaillierter geworden: Rudelmitglieder, deren Dämon sich ihm vorher entzogen hatten, erstrahlten nun in einem eigenen Spektrum. Ihre Empfindungen offenbarten sich ebenso wie ihre Bedürfnisse. Bewegungen warfen vibrierende Bahnen, lichtlose Ecken zeigten mit einem Mal Konturen, und der Raum nahm eine seltsame Dimension an. Er erkannte Leugs verängstigten Wolf, bevor er den Mann sah, der mit beiden Händen eine blutende Halswunde umfasst hielt. David wurde übel vor lauter Verwirrung. Er schwankte, doch der Wolf in seinem Inneren richtete sich auf und verhalf ihm zu neuer Kraft.
Als David das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, nahm er einen dunklen Schatten neben sich wahr, von dem ein widerwärtiger Geruch ausging: versengtes Haar, vor Hitze geronnenes Blut. Obwohl sich ihm Hagens Dämon nicht offenbarte, sah David den Anführer in einem neuen Licht. Sein Wolf, dachte David benommen, es ist nicht Hagens Wolf, mit dem etwas nicht stimmt. Tief in seinem Innern hörte er das Echo eines zustimmenden Grollens. Instinktiv wollte er zurückweichen, als Hagen dicht vor ihn trat, doch sein Körper steckte immer noch im Schrecken der Veränderung fest, unfähig, sich einer weiteren Herausforderung zu stellen.
»Nun«, sagte Hagen, während er Davids Kinn umfasste und eindringlich dessen Gesicht betrachtete. »Das hatte ich mir zwar anders vorgestellt, aber dieser Weg ist unleugbar auch eine Möglichkeit, in der Hierarchie des Rudels aufzusteigen. Sehr weit nach oben. Hätte nicht gedacht, dass du dich so sehr nach Mathols Platz sehnst und ihm deshalb kurzerhand die Kehle zerfetzt. Sich von seinem Wolf zu trennen, ein schöner Trick. Es muss dich viel Kraft gekostet haben, diese Fähigkeit vor mir und dem Rudel zu verbergen.Warum hast du eigentlich nie gezeigt, welchen Rang du aufgrund deiner Stärke wirklich beanspruchen könntest? Wenn ich das gewusst hätte, wäre das ganze Drama hier unnötig gewesen, denn du weißt ja schon, wie man den Wolf in diese Welt lockt und ihm eine Form gibt.«
Einen Augenblick hielt Hagen inne, als dächte er darüber nach, noch etwas zu sagen. Dann wandte er sich ab und fixierte die junge Frau, die vor Entsetzen zusammengekauert auf dem Boden lag, eingekeilt vom Rudel, das ihre Anwesenheit bis zu diesem Moment vergessen hatte.Als die Mitglieder sich nun Hagens geifernden Blickes bewusst wurden, sprengten sie hastig auseinander. Niemand stellte sich dem Anführer in den Weg, wenn er sich auf ein Opfer stürzte.
Ohne nachzudenken, spannte David die schmerzenden Muskeln in seinem Körper an, um Hagen davon abzuhalten. Doch ehe er etwas unternehmen konnte, traf ihn der Wille seines Anführers wie ein Schlag gegen die Brust, der seine Lungenflügel in Brand setzte. Während David einen Schmerzensschrei unterdrückte, blickte Hagen ihn lächelnd an, den Beweis seiner Macht genießend. Ganz gleich, wie stark der Dämon in David sein mochte, Hagen war ihm dennoch überlegen.
»Jagdzeit«, flüsterte Hagen, nachdem er seinen Triumph über den jüngeren Mann ausreichend ausgekostet hatte. Dann stürzte er sich auf die wehrlose Frau.
David stand da, gefangen von Hagens Autorität, unfähig, sich zu rühren. Auch sein Wolf war erstarrt, fast, als hätte ihm Hagens Machtbeweis jeden Lebensfunken geraubt. Nur ein leises Wimmern war zu hören. Erst als das Schreien der Frau verebbt war und sich Jannik ihm schreckensbleich näherte, löste sich der Bann. Jannik hielt ihm seine zerschlissene Jacke hin, und er nahm sie ohne ein Wort entgegen. Der Junge sah ihn flehend an. Obgleich David die Angst, die Jannik quälte, geradezu auf seiner Zunge schmecken konnte, wandte er sich ab und ging.
Kurz schaute er zu Hagen hinüber, der Amelia und einige andere in geduckter Haltung dabei beobachtete, wie sie die beiden geschlagenen Opfer ausschlachteten. Nathanel dagegen stand immer noch an die Wand gelehnt, als habe er sich in der ganzen Zeit nicht ein Mal gerührt. Gegen seinen Willen tastete David nach ihm. Da war nichts, zumindest nichts, was Nathanel ihn spüren lassen wollte.Verräter, dachte David und verspürte einen qualvollen Stich.
Er hatte das Palais schon eine Weile hinter sich gelassen, als ihn der Ruf seines Anführers erreichte. Hagen war endlich bewusst geworden, dass der gerade erst gestärkte Wolf seines Rudels das Fest ohne Erlaubnis verlassen hatte. Während Hagens Forderung, sofort umzukehren, in seiner Dringlichkeit immer massiver wurde, ging David in einen leichten Lauf über. Er würde nicht zurückkehren, ganz gleich, was es ihn kostete.