Kapitel 38
Bluthandel
Eigentlich wollte Meta die Augen nicht öffnen. Ob dort draußen Licht oder Schatten herrschte - sie konnte es nicht sagen. Sie fühlte sich schwerelos, als hielten sie seidene Bahnen mitten in einem leeren Raum. Doch die Bahnen, die sie trugen, wurden enger und enger, schnitten ihr ins Fleisch, so dass sie es trotz ihrer Erschöpftheit kaum noch aushielt. Als sie mit bleiernen Gliedern begann, sich zu regen, setzte ein seltsames Hallen ein, dumpf und fern. Sie wollte nicht wissen, was es war - trotzdem kam es immer näher.
»Will nicht«, flüsterte Meta und erschrak, als ihre eigene Stimme in den Ohren dröhnte.
Das Hallen verwandelte sich in ein Lachen, zuerst tief, dann stetig heller.Ein Frauenlachen.Verwirrt öffnete Meta die Augen, und was sie sah, war blasse Haut und feuerrotes Haar. Die Frau, die vorgetäuscht hatte, sie anzugreifen, damit sie die Wölfe einließ, hielt sie in den Armen und drückte sie fest an sich, während Metas schwerer Kopf auf ihrer Schulter ruhte. Sie duftete nach frisch gefallenem Laub und schwerem Erdreich, wie der Park, der sich um die Arena erstreckte.Augenblicklich kehrte das Leben in Metas Körper zurück und verscheuchte die Taubheit.Vorsichtig löste sie sich aus der Umarmung und sah die Frau fragend an. Die lächelte sie an.
»Ich bin Maggie«, sagte sie und strich Meta über das Haar, als wäre sie ein kleines Mädchen, das belohnt werden musste. »Was du eben getan hast, war großartig. Ich kann es immer noch nicht fassen.«
»Was genau habe ich denn getan?«, fragte Meta mit einer Zunge, die sich anfühlte, als hätte sie ihr Volumen verdoppelt und würde nun die gesamte Mundhöhle ausfüllen.
Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte Maggie sie noch einmal in ihre Arme schließen, doch ein fernes Wolfsheulen ließ sie zusammenfahren. Maggie biss sich auf die Unterlippe, dann richtete sie sich auf und zog Meta gleich mit auf die Beine, obwohl die schwach protestierte.
»Du hast Davids Rudel nicht nur beruhigt, sondern auch wieder vereint«, erklärte Maggie, während sie Meta den Arm um die Hüfte legte, damit diese auf dem Weg zu den Rängen nicht über ihre eigenen Beine stolperte.
»Davids Rudel?« Meta war noch viel zu benommen, um die Geschehnisse vor und nach ihrer Bewusstlosigkeit zu begreifen. Es konnte nicht mehr als ein paar Minuten her sein, dass David Hagen nachgestürzt war, aber für Meta fühlte es sich unendlich viel länger an.
Maggie, die Metas Irritation als Angst um David deutete, zog sie näher an ihre Seite. »Es wird Davids Rudel sein, sobald er zurückkommt. Und er wird zurückkommen, das verspreche ich dir.«
Im undurchdringlichen Dunkel auf den Rängen erkannte Meta Menschen. Sie standen dicht beisammen und tauschten leise Worte miteinander aus, die nicht mehr als zärtliche Laute zu sein schienen. Auf dem Boden glaubte sie zwei seltsam verrenkte Gestalten zu erkennen, von denen keine Regung mehr ausging. Einige Rudelmitglieder standen gekrümmt da oder hielten sich Stofffetzen an blutende Wunden.Auch wenn Meta sich nicht sicher sein konnte, so mutmaßte sie, dass das Rudel deutlich geschrumpft war. Einige waren geflohen, wurde ihr schlagartig klar.
Als sie zusammen mit Maggie vor die Ränge trat, richteten sich die Blicke von Davids Rudelmitgliedern ausschließlich auf sie. Meta erkannte eine Zuneigung bei ihnen, die ihr die Ohrränder rot färbte. Sie hatte diesen Menschen, nein, diesem Rudel etwas geschenkt und sie damit an sich gebunden, ohne dass sie es gewollt hatte. Doch bevor Meta diesem Gedanken nachgehen konnte, berührte sie etwas an den Waden: Der zerzaust aussehende Mischling schlich ihr um die Beine und sah sie erwartungsvoll an. Meta bückte sich und tätschelte ihm den Kopf.
»Ihr habt den Ruf gehört: Sascha und sein Rudel werden jeden Moment hier eintreffen.« Maggies Stimme war klar und deutlich. Nichts deutete darauf hin, dass diese Frau auch nur die Spur von Unsicherheit verspürte. »Wir werden ihn draußen empfangen und so lange hinhalten, bis David zurückgekehrt ist. Es wird nicht leicht sein, Sascha von seiner sicher geglaubten Beute fortzuscheuchen, ohne dass er zuschnappt. Deshalb werden unsere beiden Rudel geschlossen auftreten, nur dieses eine Mal, ansonsten können wir uns gleich alle hinknien und Sascha freien Zugriff auf unser Genick anbieten. Ein Angebot, das er auf keinen Fall ablehnen würde. Also Bewegung!«
Es erklang breites Zustimmen, aber Maggie kümmerte sich bereits nicht mehr darum und winkte einen bulligen Mann aus ihrem Rudel zu sich. »Anton, sieh zu, dass du noch ein paar von diesen Ölkanistern ranschleppst und die Feuerschalen draußen anzündest.Wir wollen Sascha doch einen ordentlichen Auftritt bieten.« Dann wandte sie sich Meta zu, die sie aufmerksam ansah. »Wir werden leider noch ein weiteres Mal auf deine Hilfe zurückgreifen müssen: Wenn Hagen endlich tot ist, wird das Rudel es spüren. Dann wirst du nach David rufen müssen, denn er wird den Wandel dort draußen nicht allein überstehen.«
Meta nickte stumm. Zwar wusste sie nicht, wie sie Maggies Bitte nachkommen sollte, aber sie würde es versuchen. »Wie kannst du dir so sicher sein, dass David gewinnt?« Die Frage war heraus, bevor Meta sich dessen überhaupt bewusst war.Als er auf dem Grund des Pools gestanden hatte, hatte er so unendlich erschöpft ausgesehen …
»Alles, was Hagen will, ist Blut und Macht. David will endlich sein Leben in die eigene Hand nehmen, und heute Nacht bietet sich ihm endlich diese Chance. Er wird sie ergreifen, glaub mir.«
Erneut ging eine solche Woge des Selbstvertrauens von Maggie aus, dass Meta gar nicht anders konnte, als ihr zuzustimmen. Außerdem sehnte sie sich nach dem Augenblick, wenn das Rudel den Tod seines einstigen Anführers signalisierte und sie ihren Ruf aussenden konnte … den David hoffentlich auch vernehmen würde. David wird ihn hören, ganz bestimmt, versuchte Meta, sich zu beruhigen. Sein Wolf wird mich auch dieses Mal hören und ihn mitbringen - so wie er mich zu David gebracht hat. Mit einem Schwindelgefühl erinnerte sie sich an den Moment, als der Wolf sie mitgerissen hatte, während er zu seinem Hüter zurückkehrte. Diese Erinnerungen an die Welt des Dämons waren nicht mehr als Fetzen eines flüchtigen Traums.Aber sie hatten sie die gerade erst erweckte Macht des Dämons am eigenen Leib spüren lassen. Dabei konnte sie nicht sagen, dass es sich falsch angefühlt hätte. Nur verwirrend.
Gemeinsam schritten die beiden Rudel nach draußen und sammelten sich schweigend auf der einen Seite der Außenarena, während in den Schalen Feuer entzündet wurde. Obwohl es im Freien kaum kälter war als unter der zerstörten Kuppel und das Rudel so dicht gedrängt hinter ihr stand, dass sie die Wärme ihrer Körper spüren konnte, zitterte Meta. Mit klammen Fingern stellte sie den Kragen ihres Mantels auf und steckte anschließend ihre Hände in die Ärmel. Dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf das Rudel. Schneeflocken landeten auf ihren Haaren und Wimpern.
Die Berührungen, während die Wölfe sie als Portal benutzt hatten, hatten einen Weg hinterlassen. Ähnlich dem von David, dem sie mit dem Schattenwolf gefolgt war, um die Arena zu finden. Wie der, den sie nutzen würde, um ihn zu rufen, sobald er seinen Kampf beendet hatte.Wenn es nur endlich so weit wäre. Die Gedanken schossen ihr kreuz und quer durch den Kopf, und sie war sich nicht sicher, wie lange sie die Anspannung noch aushalten konnte. Zu viel war in zu kurzer Zeit geschehen, hatte nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Seele und Weltsicht durcheinandergewirbelt. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie, da war sich Meta sicher, nur noch vorangehen. Wenn sie zu lange stehen blieb, würde sie zerbrechen. Doch nun nahm sie eine aufsteigende Furcht um sich herum wahr, die verriet, dass sich Saschas Rudel näherte.
Frustriert schlug Meta die Augen wieder auf und sah, wie die ersten dunklen Gestalten auf die Mauer der Arena kletterten und sich langsam von ihr herunterließen. Saschas Rudel sammelte sich in vollkommenem Schweigen. Sie sind viel mehr als wir, schoss es Meta durch den Kopf, und unwillkürlich sah sie sich nach einem Fluchtweg um. In ihrem Rücken entstand Unruhe, die sich jedoch schon im nächsten Moment wieder legte. Meta blinzelte, dann begriff sie: Maggie hatte ihre Stellung dazu benutzt, die Ängstlichen und Schwachen zu beruhigen. Das also hatte Rahel gemeint, als sie sagte, es gebe einen guten Grund dafür, dass Anführer einen solchen Zugang zu ihren Leuten hatten. Ein guter Anführer nutzte seine Stärke, um zu führen, nicht um zu manipulieren.
Die Neuankömmlinge verharrten reglos am Fuß der Mauer, eine kaum entwirrbare Einheit aus Körpern. Die Gesichtszüge wurden stets nur kurz von den gierig aufschnellenden Flammenzungen beleuchtet, ehe sie erneut hinter einem Vorhang aus Dunkelheit und Schneeschleiern verschwanden. Kein Anzeichen eines Grußes oder auch eines Angriffs, nur stummes Ausharren, das nichts anderes als ein Kräftemessen war. Doch was immer Sascha mit dieser Demonstration erreichen wollte - panische Flucht des zahlenmäßig unterlegenen Rudels oder eine Maggie, die unterwürfigVerhandlungen anbot -, es blieb aus.Vermutlich stand Davids Rudel weiterhin unter dem Eindruck der Verbundenheit, die es mit ihrer Hilfe erlebt hatte. Außerdem weiß Maggie offensichtlich, was sie tut, dachte Meta und merkte, dass sie sich absurderweise ebenfalls zu entspannen begann.
Unvermittelt tat sich eine Lücke in dem Rudel bei der Mauer auf, und ein etwas kurz geratener, nichtsdestotrotz beeindruckender Mann trat hervor.Weder die Frostluft noch das zunehmende Schneetreiben schienen ihm etwas auszumachen. Er stand hemdsärmelig da, während der durchnässte Stoff ihm am Leib klebte und das Flammenspiel eine ausgeprägte Muskulatur verriet. Ohne eine Miene zu verziehen, blickte er herunter, und erst als Maggie einige Schritte auf ihn zuging, deutete er mit dem Kopf einen Gruß an.
»Sascha.« Im Vergleich zu diesem vor Kraft und Selbstherrlichkeit strotzenden Mann wirkte Maggie wie ein Schatten. Aber Meta hatte gerade erst gelernt, wie viel Macht einem dadurch verliehen werden konnte. »Ich verstehe, dass du in Sorge bist, aber es bestand trotzdem kein Grund, hierherzukommen.« Dabei vermied sie das Wort eindringen ebenso wie den Hinweis, dass er mit seinem gesamten Rudel ihr Revier betreten hatte. »Es ist nur noch eine Frage von Minuten, dann ist Hagen als Anführer abgelöst, und die alte Ordnung ist wiederhergestellt.«
Einen Augenblick lang sah es so aus, als hätte Sascha nichts von dem gehört, was Maggie gesagt hatte. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf die beiden Rudel zu seinen Füßen gerichtet, gerade so, als könne er sie einzig und allein durch seine Präsenz zur Unterwerfung zwingen. Dann wanderte sein Blick zu der zerstörten Glaskuppel.
»Ich bin mir nicht sicher, ob Hagen mich im Moment überhaupt noch interessiert«, sagte er mit dunkler Stimme, nicht sonderlich darum bemüht, laut zu sprechen. Trotzdem hatte jeder seine Worte verstanden, und eine Sekunde später fand sich Meta umkreist von Menschen, die sie nicht kannte und die ihr dennoch so vertraut waren, dass sich ihre Berührungen angenehm anfühlten. »Die Frau - ich will sie mir ansehen«, forderte Sascha.
»Das kann ich nicht entscheiden. Sie gehört zu David. Du wirst warten müssen, bis er wieder hier ist«, erklärte Maggie mit einem Tonfall, als würde sie lediglich einen übereifrigen Geschäftspartner vertrösten. Doch ihre plötzlich hochgezogenen Schultern verrieten, dass sie befürchtete, Saschas Ansinnen nicht lange widerstehen zu können.
Ein höhnisches Lächeln schlich sich auf Saschas Gesicht. »Selbst wenn es diesem Sturkopf, auf den du alles gesetzt hast, tatsächlich gelingen sollte, Hagen aus dem Weg zu schaffen, wird der Wandel ihn nicht so rasch aus seinen Klauen entlassen. Das weißt du doch genau, Maggie.«
Erst bei diesen Worten begriff Meta, dass Sascha es nur allzu gern auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen würde, um Hand an sie zu legen. Da ging ein Ruck durch das Rudel: Hagen war tot. Meta keuchte auf - auf dieses Zeichen hatte sie gewartet. Doch als sie versuchte, sich auf David zu konzentrieren, sah sie nur Sascha, der mit gerunzelter Stirn einige Treppen heruntergestiegen war, gefolgt von einer kleinen Nachhut. Einige seiner Leute scherten währenddessen zu beiden Seiten aus. Gott, sie kreisen uns ein! Voller Angst wich Meta zurück, da drehte Maggie sich um und suchte ihren Blick. Zuerst wollte Meta sich nicht darauf einlassen, zu sehr bannte sie der Anblick Saschas, der sich langsam näherte, aber dann ließ sie sich auf die vertrauten blauen Augen ein. Dieselbe Farbe wie Davids Augen. Einen Herzschlag später sendete Meta ihren Ruf aus, und vor Erleichterung hätte sie fast gelacht, so leicht gelang es ihr. Alle Angst war vergessen, und sie verschwendete auch keinen Gedanken daran, was passieren würde, wenn David den Ruf beantwortete, nachdem er gerade erst den Anführer getötet hatte.
Der Ruf hallte nach und schuf eine hell leuchtende Sphäre, die Meta umhüllte wie ein Kokon. Nur undeutlich nahm sie daher die plötzlich ausbrechende Unruhe wahr.Was auch immer passierte, es war gleichgültig, bis der Ruf beantwortet wurde. Meta registrierte, dass die Körper, an die sie sich bislang gelehnt hatte, in Bewegung gerieten, dass jemand brüllte und jemand anderes fluchte. Einen Moment später wurden auch diese Eindrücke von dem Licht getilgt. Eine ungeheure Druckwelle breitete sich aus und zwang alle in die Knie. Nur Meta taumelte einen Schritt zurück, fing sich und schlug sich vor Glück die Hände vor den Mund. David hatte geantwortet.