Kapitel 35
Die Arena
Im Laufe des Morgens hatte sich der Schneefall der letzten Nacht in einen Regenvorhang verwandelt, der die Welt mit einem bleiernen Grau überzog. Die bis vor einigen Stunden noch dichte Schneedecke war bis auf einige schäbige Reste geschmolzen, so dass eine schwärzliche Laubschicht zwischen den weißen Feldern zum Vorschein kam. Die Rinde der Bäume war dunkel vor Feuchtigkeit, während die Äste unbeweglich ihre nackten Finger emporreckten. Irgendwo hinter der undurchdringlichen Wolkenhülle musste die Sonne gerade ihren Zenit überschritten haben, doch es gelang ihr kaum, Kraft zu entfalten. Die Luft trug bereits wieder eine Ahnung von Frost mit sich. Nicht mehr lange, und der Regen würde erneut in dichten Schneefall übergehen.
Als David die schmiedeeiserne Pforte durchschritt, die in die Mauer des Parks eingelassen war, spielte er kurz mit dem Gedanken, den Wolf zu rufen, damit er erkennen konnte, an welchem Ort Hagen ihn erwartete. Burek, der sich erst aus seinem Versteck hinter dem Sofa hervorgetraut hatte, nachdem Sascha und Maggie das Apartment verlassen hatten, stand mit eingezogener Rute neben ihm. Obwohl alles in David danach drängte voranzugehen, ließ er sich neben dem Hund auf die Knie nieder und kraulte ihn hinter den Ohren.
»Hey, Burek«, flüsterte er ihm zu. »Du brauchst nicht so zerknirscht zu sein. Ich wäre Jannik an deiner Stelle auch nicht gefolgt, schließlich macht Sascha den Eindruck, als würde er Hunde gern fressen. Außerdem kann ich ein wenig Hilfe gut gebrauchen. Das ist jetzt viel wichtiger, damit wir beide unseren Kumpel in einem Stück zurückbekommen. Also, wo sind die anderen aus dem Rudel?«
Zwar sah Burek trotz des Zuspruchs alles andere als glücklich aus, aber er streckte seine Nase in den Wind und fiel in einen leichten Lauf. David folgte ihm, den Blick zu Boden gesenkt, jeden Gedanken an das, was ihm bevorstand, verdrängend. Burek suchte sich einen Pfad zwischen den kahlen Bäumen, umkreiste das stetig dichter werdende Gestrüpp und lief schließlich einen mit Birken bepflanzten Hügel hinauf.
Mann und Hund waren so sehr in ihren Gang vertieft, dass sie gar nicht bemerkten, wie sich hinter den Bäumen ein zementgraues, flaches Gebäude auftat. Erst als David fast dagegengelaufen wäre, machte er Halt und blickte auf. Doch er begriff nicht recht, womit er es zu tun hatte.Vor ihm ragte die gut drei Meter hohe Mauer eines Gebäudes auf, rundlich geschwungen und ohne irgendeinen Eingang oder auch nur eine Fensterluke. Dafür drang etwas anderes zu ihm durch: ein feines Lärmen. Jemand musste sich im Innern aufhalten, ein aufgeregt rumorendes Publikum. Burek schien etwas Ähnliches durch den Kopf zu gehen, denn er stieß ein leises Wimmern aus.
David zuckte mit den Schultern und versenkte die Hände in den Jackentaschen. Offensichtlich hatte er sein Ziel erreicht. Also machte er sich auf, das Gebäude zu umrunden.
Schon bald passierte er einen verwaisten Lieferanteneingang, dessen Zufahrt mit einer verrosteten Kette verriegelt war. Berge verrotteten Laubs sammelten sich in den Ecken und unterstrichen den Anschein des Gebäudes, schon länger in Vergessenheit geraten zu sein. Ein Stück dahinter breitete sich eine kleine Terrasse aus, auf der früher einmal die Tische eines Cafés gestanden haben mochten. Das Gatter, das ansonsten wohl den gläsernen Vorbau des Gebäudes abschirmte, war mit Gewalt ein Stück beiseitegeschoben worden. Dahinter klaffte eine ungastliche Dunkelheit. Doch anstatt in den Eingang zu schlüpfen, ging David zu einer angrenzenden schulterhohen Mauer hinüber, von der bunte Farbe abblätterte. Trotzdem waren noch die Umrisse eines Delfins zu erkennen, der durch einen roten Reifen sprang.
Mit einer behänden Bewegung erklomm David die Mauer, hinter der er den Bruchteil einer in den Hügel eingelassenen Arena erkennen konnte. Obwohl Burek zu jaulen anfing, sprang David auf der anderen Seite der Mauer hinab und durchquerte Gestrüpp, bis er die obersten Sitzreihen erreichte, die nicht mehr als in Beton gegossene Treppenstufen waren. Das Herzstück der Arena bildete ein trockengelegter Pool, dessen hellblau getünchter Grund trotz des trüben Lichts leuchtete. Hinter dem Schwimmbecken ragte eine Kuppel auf, welche die Stirnseite des Gebäudes ausmachte. Geschwungene Stahlträger hielten eine mächtige Glasfront, auf der Moos und eine Blätterdecke lagen, so dass man nicht hindurchschauen konnte. Erst auf den zweiten Blick erkannte David, dass das Glas an vielen Stellen geschwärzt war, als habe jemand im Inneren ein Feuer angezündet, das die Scheiben mit Ruß überzogen hatte. Ein schwacher Feuerschein schien durch das Schwarz zu züngeln. Obwohl kaum ein Blick in das Innere der Kuppel möglich war, hatte David die Ahnung, dass diese Arena auf der anderen Seite der Glaswand noch einmal gespiegelt war. Je länger er das verdreckte Glas betrachtete, desto sicherer meinte er, umhereilende Schatten dahinter zu erkennen. Sie suchten sich einen Platz auf den Treppenstufen, ungeduldig auf den Beginn einer Show wartend. In der Mitte des Pools war ein Steg eingelassen, an dem zu jeder Seite eine Öffnung in die Kuppel führte.
Behutsam stieg David die glitschigen Treppen hinunter, während sich in ihm eine bislang unbekannte Einsamkeit ausbreitete. Vor einigen Tagen noch war sein Leben zum ersten Mal vollkommen gewesen, und dann war ihm Stück für Stück der Boden unter den Füßen weggebrochen. Nun hatte er nicht einmal mehr seinen Schatten an der Seite. Während David langsam in den Pool hinabglitt, versuchte er, nicht darüber nachzudenken, vor welcher Wahl er gleich stehen würde: Meta oder Rudel - Mensch oder Dämon? Das Wohlergehen von beiden war im Augenblick Hagens Willkür unterworfen, und David sah keinen Weg, diese Machthoheit zu brechen. Er konnte nur auf Hagens widerliches Verlangen, ihn zu unterwerfen, vertrauen. Etwas anderes, worauf er bauen konnte, hatte er nicht.
Als er neben dem Steg im Pool zum Stehen kam und sich den Regen aus den Augen wischte, dachte er darüber nach, wieder hinaufzuklettern und einen Blick durch die Glaskuppel zu riskieren.Aber er verwarf die Idee. Ganz gleich, was ihn dort erwartete, er musste ja doch hineingehen. Außerdem durfte er nicht mehr Zeit verschwenden. Mit jedem Augenblick stieg die Wahrscheinlichkeit, dass Hagen Meta für seine Ungeduld büßen ließ.
Die beiden Durchlässe, die es den Delfinen früher ermöglicht hatten, für ihren Auftritt von innen ins Becken zu schwimmen, waren nun mit stählernen Gattern verrammelt. Eines jedoch hatte sich verkeilt und bot einen Spalt über dem Boden, der groß genug war, um hindurchzurobben. Während David vor der dunklen Öffnung stand, war das einzige Geräusch, das er hörte, sein eigener rasch gehender Atem. Im Inneren der Kuppel herrschte Schweigen. Der Wind streifte seine trotz der Kälte verschwitzte Haut.
Gerade als David in die Knie sinken wollte, nahm er eine Bewegung hinter sich wahr. Er wirbelte herum, doch es war nur Burek, der überrascht einen Satz zurücktat. Offensichtlich hatte der Hund eine Lücke gefunden und war ihm gefolgt. Obwohl ihm der Schrecken bis in die Kehle pochte, breitete sich ein Lächeln auf Davids Gesicht aus, dann machte er sich daran, sich, auf dem Bauch liegend, durch den Spalt zu zwängen.
Mit gesenktem Blick richtete David sich auf. Er wusste auch so nur allzu gut, dass ihn in diesem Moment etliche Augenpaare beobachteten. Selbst ohne seinen Wolf spürte er die Energie, die bei einer Zusammenkunft des Rudels freigesetzt wurde. Sämtliche Härchen an seinen Unterarmen stellten sich mit einem Prickeln auf, als würde die klamme, von Brandgestank verseuchte Luft einen Stromfluss leiten. David nahm sich noch ein paar Herzschläge lang die Zeit, sich zu sammeln, dann sah er auf.
Verstreut über die Ränge der Arena, saßen die beiden Rudel im diesigen Licht, das durch die verrußte Kuppel fiel. Ihre Körper warfen grotesk flimmernde Schatten, auf ihren Gesichtern tanzte der rötliche Schimmer von drei Feuerschalen, die am Rand des Pools aufgestellt waren. Eine beeindruckende Beleuchtung in Sommernächten, aber gewiss nicht dafür geeignet, einen solchen Raum zu erhellen, wie die dicke Rußschicht auf der Innenseite der Kuppel bewies.
Die obersten Ränge verschwanden fast in der Dunkelheit, so dass David sich anstrengen musste, etwas zu erkennen. Anscheinend saßen dort Maggies Leute neben jenen, die in Hagens Rudel in der Rangordnung unten standen.Auf den besten Plätzen dicht am Rand des Beckens tummelten sich Hagens Favoriten und stierten ihn feixend an. Ganz vorn erhob sich gerade Leug, das Gesicht undurchdringlich wie eh und je. Plötzlich leckte er sich über die Lippen, als wäre David nicht mehr als eine in die Falle gegangene Beute, an der er sich schon bald sattfressen würde. Dennoch wagte auch er es nicht vorzupreschen - alle saßen sie regungslos da und starrten David an, während er in die Mitte des Pools ging. Burek blieb tapfer an seiner Seite, ließ aber vor lauter Furcht den Kopf hängen.
»Ein gelungener Auftritt.«
Hagens dröhnende Stimme erklang schräg hinter David. Langsam drehte er sich um und sah hinauf zum Steg, an dessen Spitze Hagen stand. Das schwarze Haar fiel dem Rudelführer offen und strähnig auf die Schultern, als wäre er in den letzten Stunden zu oft mit der Hand hindurchgefahren. Seine Wangen leuchteten rot von der Anstrengung, die es ihn kostete, nicht sofort anzugreifen. Der Schein des Feuers verstärkte den Eindruck, als stünde Hagen in Flammen. Die Gier nach Gewalt und Tod, die in den blauen Augen tanzte, zeigte sich zum ersten Mal unverhüllt. Entweder glaubte Hagen, es nicht mehr nötig zu haben, seine wahre Natur zu verbergen, oder er stand kurz davor, seinen Verstand zu verlieren.Vielleicht fehlte ihm aber auch nur Amelia an seiner Seite. Sie allein verstand es auf unnachahmliche Weise, die zerstörerische Energie ihres Gefährten so zu leiten, dass sein Rudel nicht panisch vor ihm flüchtete.
»Ich weiß es zu schätzen, dass du dich auf dem Weg zu uns nicht hinter deinem Wolf versteckt hast.« Hagens Stimme hallte durch die Kuppel wie ein dumpfes Dröhnen. »Aber dass du hier ohne deinen Schatten auftauchst, ist etwas übertrieben. Wir wissen, wie stark du durch Nathanels Tod geworden bist. Also, David, was soll die Wichtigtuerei?«
Als hätte er die höhnische Frage nicht gehört, schaute David zu Maggie hinüber, die mit leblos herabhängenden Armen hinter Hagen stand und so elend aussah, als würde sie gleich zusammenbrechen. »Wo ist Meta?«, fragte er, die Stimme unvermutet ruhig.
Doch Maggie schüttelte nur den Kopf und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Hagen, dessen Selbstbeherrschung sich mit jeder Sekunde, die David ausgeliefert vor ihm stand, zunehmend verlor. Immer drängender breitete sich sein Verlangen zu töten aus und steckte die Mitglieder seines Rudels an, die seinem schwarzen Sog nicht widerstehen konnten. Hohes Stöhnen und unterdrücktes Scharren von Füßen war zu hören, doch niemand wagte es, seinen Instinkten nachzugeben. Das bevorstehende Ritual, das im Zentrum dieser Arena zelebriert werden sollte, gehörte allein ihrem Anführer - es ging um seine Stellung, und er würde jeden reißen, der sich ihm in den Weg stellte.
Mit einem Knurren trat Hagen einen Schritt zur Seite, so dass Maggies schmale Silhouette hinter seinem breiten Rücken verschwand. »Ich habe mir deinen Blondschopf geholt, du kleiner Hurensohn, das weißt du genau. Und falls nicht, warum fragst du nicht deinen Wolf? Der könnte dir verraten, mit welchen Spuren ihres Leibes ich übersät bin.« Hagen stieß ein gehässiges Lachen aus. »Ich habe sie mir geholt, jetzt gehört sie mir, David. Deine Liebste war nichts weiter als die Vorspeise. Nun ist es Zeit für den Hauptgang.«
Obwohl David bei der Vorstellung, was Hagen Meta angetan haben könnte, fast den Verstand verlor, ließ er sich nichts anmerken. »Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass du Meta bereits umgebracht hast. Diese Inszenierung hier dient doch ausschließlich dazu, einen Abtrünnigen vor den Augen des ganzen Rudels abzustrafen und gleichzeitig deine Macht unter Beweis zu stellen. Du solltest Meta herbringen lassen, wenn du mich bis an die Grenzen demütigen willst. Hast du aus Tillmanns Erinnerungen nicht gelernt, womit man mich am besten verletzen kann?«
»Vielen Dank für den großzügigen Tipp.« Einen Moment lang war Hagens Bariton nicht mehr als ein Knurren. »Aber ich plane etwas viel Interessanteres, als dich bloß zu brechen. Über diesen Punkt bin ich schon lange hinaus. Eine kapitale Beute ist immer auch eine besonders reizvolle. Und du hast die Fähigkeit, dich von deinem Wolf zu lösen, perfektioniert. Wenn ich dich gleich in deine Einzelteile zerlege, wird ein Teil dieser Macht mir gehören. Wer hätte gedacht, dass mein alter Freund Convinius mir ein solches Geschenk hinterlassen würde?«
»Und ich dachte, dass Convinius dir das größte Geschenk damit gemacht hatte, dass er sich von dir töten ließ.«
Hagen lachte schrill auf, so dass David unwillkürlich zusammenzuckte. Es sollte eigentlich unmöglich sein, dass ein massiger und durch und durch maskuliner Körper wie Hagens ein solches Geräusch hervorbrachte. »Nathanel, diese alte Klatschbase«, sagte Hagen, als das abstoßende Lachen endlich verklungen war und er sich die Tränen aus den Augen wischte. »Allerdings vermute ich, dass er dir nicht die ganze Geschichte erzählt hat. Als ich damals in Convinius’ Revier eingedrungen bin, ging es mir nicht darum, meinen ehemaligen Weggefährten aus dem Weg zu räumen. Eigentlich wollte ich nur einen Blick auf seinen Nachwuchs werfen. Doch mein alter Freund war leider etwas kratzbürstig. Ein Pech für Convinius, dass er seinem Wolf nicht einmal im Angesicht des Todes vergeben konnte. Sein Wolf stand hilflos da, auf seinen Ruf wartend. Als ich meine Zähne in seine Kehle grub, hatte ich sogar den Eindruck, als sei der alte Bursche mir dankbar dafür, ihn endlich von seinem Elend zu erlösen.«
»Vielleicht wäre die Geschichte ja anders ausgegangen, wenn du Convinius zuvor aufgeklärt hättest, dass die gerissenen Frauenleichen in unserem Revier nicht auf das Konto seines wildernden Wolfes gingen.«
Obwohl die meisten Rudelmitglieder kaum verstanden, um was es bei diesem Schlagabtausch ging, breitete sich ein unruhiges Murren aus, angestiftet von Maggies Leuten, die instinktiv den Empfindungen ihrer Anführerin folgten. Die hatte ihre Starre abgeschüttelt und zog sich unmerklich von Hagen zurück.
Auch David spürte, wie die Stimmung umschlug. Noch vor ein paar Minuten war er davon ausgegangen, dass Hagen ihn unter dem Gejohle des Rudels überwältigen würde. Nun war er sich nicht mehr so sicher. Außerdem hatten Hagens Worte etwas in Bewegung gesetzt: Convinius hatte sich geirrt, denn Hagen war zum Mörder geworden und nicht etwa dessen Wolf. Zum ersten Mal seit dem Wandel tastete David nach der leeren Stelle, die sein abwesender Wolf in ihm hinterlassen hatte, um sogleich wieder zurückzuschrecken. Er würde töten müssen, um zu retten, was er liebte. Das begriff er nun. Aber noch war er nicht bereit dazu, den Dämon zu rufen. Stattdessen bedrängte er Hagen weiter: »Du bist ein Betrüger. Alles, was von Bedeutung ist, hast du dir erschwindelt.«
Trotz der harschen Worte entspannten sich Hagens Gesichtszüge und nahmen einen fast verträumten Ausdruck an. »Alles, was wichtig ist, steht da unten zu meinen Füßen und wartet darauf, dass ich es erlege.«
»Nicht erlegen - ermorden. Das hier hat nichts mit dem Wolf zu tun.«
Anstelle von Widerworten oder eines Angriffs löste sich Hagens fiebrige Körperhaltung, und er ließ sogar seine Arme ruhig herunterhängen. Die zunehmende Unruhe auf den Rängen schien ihn nicht weiter zu kümmern. Sein Blick ruhte auf David, der erkannte, dass es den Rudelführer nicht länger gab. Hagen hatte die Verkleidung, hinter der er sich all die Jahre versteckt hatte, endgültig abgelegt. Sollte es ihm gelingen, David zu töten, würde er anschließend in seinen eigenen Reihen ein Schlachtfest eröffnen, bis Sascha kam, um ihn aufzuhalten - falls das dann überhaupt noch möglich war.
Ein Lächeln breitete sich auf Hagens Zügen aus, dem etwas so Fremdes innewohnte, dass kein Dämon es zu überbieten vermochte. »Du hast Mathol und Nathanel getötet, du müsstest doch eigentlich wissen, wie es ist, wenn man einen Wolf erlegt. Berauschend, um so vieles besser als das Auslöschen eines langweiligen Menschenopfers. Wenn du einen Wolf tötest, dann tötest du einen, und doch sind es zwei. Es ist eine solche Qual für den Dämon, von seinem Herrn fortgerissen zu werden und fortan nichts weiter als der Schatten eines Schattens zu sein. Das Geschenk von einem solchen Opfer besteht nicht nur in dem Wissen, die absolute Macht über ein Geschöpf auszuüben, indem man ihm das Leben nimmt, sondern darin, ihm auch noch etwas anderes zu rauben: Das Opfer befähigt einen, immer weitere Opfer reißen zu können.«
In diesem Augenblick wurde David klar, warum Convinius’ Tod die so lange unterdrückte Mordlust dieses Mannes nach all den Jahren wieder hatte hervorbrechen lassen. Ein weiteres Mal suchte er Maggies Blick, und als sie ihn erwiderte, nickte er ihr zu.Trotz der Falle, in die sie ihn gelockt hatte, konnte er mit einem Mal die Entscheidungen akzeptieren, die sie als Rudelführerin getroffen hatte: Hagen musste getötet werden. Maggie schenkte ihm ein schwaches Lächeln, dann lief sie lautlos vom Steg zu ihren Leuten am Beckenrand. Diese sammelten sich unauffällig, um sich hinter den vorderen Rängen zu positionieren.
David zog seine Jacke aus und ließ sie auf den Boden fallen. »Ich bin nicht Convinius.«
Die unstet zuckenden Flammen verwandelten Hagens Gesicht in eine Maske aus Blutrot und Schatten. »Nein, das bist du nicht«, erklärte er so leise, dass die Worte kaum zu hören waren. »Aber du wirst genauso sterben wie er: ohne deinen Wolf an deiner Seite.« Dann verschwand die Maske hinter einem grauen Schatten, als Hagen vom Steg heruntersprang. Er kam nur ein paar Schritte von David entfernt auf und begann sogleich, ihn zu umkreisen.
Davids Blick hing an dem Schatten des Mannes fest, der die Umrisse eines Raubtieres angenommen hatte.Wie ein sich windender, stets in Bewegung bleibender Schutzpanzer legte sich um Hagen der Schatten, den nur eins durchdringen konnte: ein stärkerer Wolf.
David traf eine Entscheidung - er würde seinem Wolf vertrauen. Also rief er ihn.
Hagen spannte seine Muskeln an, dann stürmte er los.
Davids Wolf folgte dem Ruf seines Herrn nicht.