Kapitel 14
Frauenabend
Ein wenig unschlüssig blieb Meta vor dem roten Backsteingebäude mit der schlichten Fassade stehen. Vier Stockwerke zählte sie, in einigen der Fenster hingen Bilder von Hexen und Gespenstern neben Blättergirlanden. Auf den Fenstersimsen standen Töpfe mit Heidekraut und ein garstig aussehendes Vogelhaus. Eine weihnachtliche Lichterkette blinkte bereits - oder immer noch - über einer Gardine. Neben der Eingangstür hatte jemand zwei riesige Muskatkürbisse auf einem Strohteppich platziert.
Es dämmerte, so dass in einigen Wohnungen schon Licht brannte und Meta Gelegenheit bekam, in eine Küche hineinzuspähen, in der eine Familie im Trubel der Essensvorbereitungen unterging. Die Mutter, eine drahtige Frau, rieb mit versteinerter Miene am Pullover eines Kindes herum, das offensichtlich das Innenleben der Ketchupflasche angesehen hatte und sich nun um Kopf und Kragen redete. Im Hintergrund versuchte ein Kleinkind in einem Hochstuhl gerade, die Salatschüssel zu erreichen, was dem umhereilenden Vater vollends entging.
Die Papiertüte mit den Flaschen in Metas Armen wurde zusehends schwerer, und ihre Füße ächzten unter dem Gewicht. Es war ein hektischer Tag gewesen. Sie war von einem Termin zum nächsten gehetzt und hatte unentwegt das Display ihres Handys studiert in der Panik, dass ihr ein Anruf von David entgehen könnte. Schließlich hatte sie eine geschlagene Stunde in einer Weinhandlung verbracht, weil sie sich einfach nicht entscheiden konnte, was das Richtige für den heutigen Abend war. Außerdem hatte sie noch eine Bestellung aufgeben müssen für die verflixte Dinnerparty in ihrer Wohnung, zu der das lockere Beisammensein mit Karl und ein paar Freunden mittlerweile ausgeartet war.
Als sie sich endlich von der familiären Szene losreißen konnte, hörte sie noch ein Poltern, Kindergeschrei und das Fluchen der Mutter. Zumindest so etwas bleibt mir nach Feierabend erspart, dachte sich Meta, während sie die Klingelschilder las. Aber so richtig überzeugt klangen die Worte dabei selbst in ihren eigenen Ohren nicht.
Als sie durch das stockig riechende Treppenhaus ging, spürte sie erneut dieses mulmige Gefühl, das sie seit dem Vormittag stets aufs Neue heimsuchte. Sobald sich die Möglichkeit ergeben hatte, war Meta kurz in Rahels Büro gehuscht und hatte ihr atemlos eröffnet, dass sie David wiedergetroffen hatte.
»Und?«, hatte Rahel mit einem Lächeln gefragt.
Doch in diesem Moment war Meta zum einen klargeworden, dass sie sich wie ein verliebter Teenager aufführte, und zum anderen, dass es ihr unmöglich war, zu sagen, was David und sie direkt nach dem Wiedersehen getan hatten. Obwohl sich das Geschehene eigentlich mit wenigen Worten zusammenfassen ließ.
Rahel verstand sie auch so. Mit dem Fuß nahm sie Schwung und drehte sich einmal mit ihrem Drehstuhl um die eigene Achse, während sie ein »Unfassbar, ihr kleinen Schweine!« ausstieß. Augenblicklich begann Meta zu schwitzen und zog unauffällig ihre weit ausgeschnittene Chiffonbluse etwas hoch. Sie kam sich vor wie beim Rapport. Rahel drehte noch eine Ehrenrunde, dann bremste sie ab und stützte sich mit den Ellbogen auf die Schreibtischplatte, die vor lauter Papierkram und Kaffeebechern kaum zu sehen war.
Mit einem spitzbübischen Grinsen musterte sie Meta. »Weißt du, was wir heute Abend machen werden? Wein trinken und essen. Und wenn du dann so richtig schön entspannt und ganz benommen von der ungewohnten Kalorienmenge bist, dann erzählst du mir jedes dreckige Detail.«
»Um Gottes willen!«, hatte Meta entgegengehalten, aber trotzdem stand sie nun fast schon peinlich pünktlich vor Rahels Wohnung. Ihre Wangen waren gerötet, wobei sie selbst nicht wusste, ob aufgrund der Anstrengung oder der Aufregung. Sie war zum ersten Mal bei Rahel eingeladen, und im Innersten verspürte sie die Hoffnung, dass es nicht das letzte Mal sein würde.
Mit gewohntem Schwung riss Rahel die Wohnungstür auf und stand in einem T-Shirt und einer fleckigen Leinenhose da. Das Lockenhaar hatte sie am Hinterkopf zusammengezwirbelt, und Meta glaubte einen Bleistift anstelle einer Spange zu erkennen. Hätte ich mir mal lieber einen Jogginganzug statt des Seidenrockes angezogen, dachte Meta verdrossen.
»Guten Abend.« Während sie Rahel zunickte, hielt sie die Papiertüte wie einen Schutzschild vor sich.
»Na los, rein mit dir«, kommandierte Rahel und zog sie am Arm in den schmalen Flur. »Sieh zu, dass du diese Schuhe loswirst. In der Kommode im Schlafzimmer findest du Wollsocken. Und dann komm in die Küche. Die kannst du nicht verfehlen, hier gibt es nämlich nur zwei Räume. Ich brauche Hilfe beim Kleinschneiden, also guck mal, ob du nicht auch ein passendes T-Shirt findest. Du willst dir doch sicher nicht diesen Hauch von einem Oberteil ruinieren, oder?«
Während Rahel wie ein Maschinengewehr redete, nahm sie Meta die Tüte mit den Flaschen ab und schob sie in einen kleinen Raum voller Kissen, Decken und Stoffbahnen. Dabei ignorierte sie gekonnt Metas Versuche, erst einmal eine Rede über die ausgesuchten Weine zu halten. Im nächsten Moment war sie auch schon verschwunden.
Verlegen blickte sich Meta in dem fremden Schlafzimmer um. Es war auf die typische Rahel-Art ein einziges Chaos, was man eigentlich nicht unbedingt bei einer Buchhalterin vermuten würde. Überall lagen Kleidungsstücke herum, Bücher stapelten sich mitten im Raum, und an der Wand hing ein mit Stecknadeln angepinntes Jazzplakat.
Meta fischte ein Paar dicke Wollsocken aus der offen stehenden Kommodenlade und setzte sich auf das Bett. Als sie ihre Füße aus den Pumps befreite, konnte sie ein erleichtertes Stöhnen nicht unterdrücken. Ermutigt suchte sie sich ein Longsleeve aus einem der Haufen raus und wechselte es gegen das Top aus. Wohlweislich vermied sie einen Blick in den am Boden stehenden Spiegel, der mit Ketten und Blumengirlanden behängt war.
Sie fand Rahel im fast quadratischen Wohnraum wieder, in dem Küche und Sitzecke untergebracht waren. Eine Balkontür verriet, dass diese kleine Wohnung über den Luxus verfügte, nach draußen treten zu können - ein seltenes Gut in dieser Stadt, das von den meisten Besitzern allerdings noch seltener genutzt wurde. Ein einladend aussehendes Sofa war auf Holzklötze aufgebockt, so dass man locker an den blau gestrichenen Küchentisch reichte. Außerdem gab es noch zwei unterschiedliche Holzstühle, die Rahel jedoch an die Wand geschoben hatte, um ausreichend Platz für ihre Kochkünste zu haben. Über dem Sofa hing der Akt einer Melone essenden Frau, in Gelb- und Grüntönen gehalten.
»Gefällt mir«, sagte Meta mit Kennermiene.
»Freut mich«, entgegnete Rahel und drückte ihr eine Schüssel mit dampfenden Tomaten in die Hand. »Da müssen die Schalen ab und die Kerne raus.Aber schau erstmal, was für Musik du hören möchtest. Die Schallplatten stehen da drüben. Und hier«, sie drückte Meta ein Glas mit Weißwein in die Hand, »etwas zum Anstoßen. Schließlich haben wir noch zwei Flaschen vor uns. Schön, dass du da bist.«
»Ja«, erwiderte Meta mit einem Lächeln. »Das finde ich auch schön.«
Unter Rahels Anleitung war Meta maßgeblich an der Entstehung eines Feldsalats mit Ziegenkäse, einer sensationellen Minestrone und eines Zitronensorbets beteiligt. Nachdem vom Sorbet nur noch Reste in der Schale zurückgeblieben waren und die Rotweinflasche zur Neige ging, saßen die beiden Frauen auf dem Sofa und plauderten vergnügt. Die Nadel des Plattenspielers setzte zum wiederholten Male am Anfang an, aber von Stella by Starlight bekam bekanntlich niemand genug.
Meta konnte sich nicht entsinnen, wann sie sich das letzte Mal so gelöst gefühlt hatte. Wahrscheinlich als zehnjähriges Mädchen, als sie mit ihrer Freundin Lena im Bett Kekse gegessen und über das Musical Cats philosophiert hatte, anstatt zu schlafen, wie ihre Mutter sie schon mehrmals aufgefordert hatte.Was ist eigentlich aus Lena geworden?, fragte Meta sich, während sie träge das Weinglas auf dem Oberschenkel balancierte. Rahel sprach gerade über die Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Körpers in der Bildhauerei. Sie kannte sich wirklich gut aus. Ansonsten hätte es sie wohl auch kaum in eine Galerie verschlagen, bei all den komischen Gestalten, die sich dort herumtrieben.
»Mein Liebling, mein absoluter Liebling ist dieser eine nackte Kerl, du weißt schon.« Rahel deutete mit dem Weinglas auf Meta.Vor lauter Eifer schwappte ein kleiner Schwall über und landete auf ihrer Hose, was sie aber nicht sonderlich beachtete.
»Hm?«
»Na, komm schon, Mädchen. Der schönste Mann, der jemals in Marmor geschlagen worden ist. Hieß er Michelangelo? Warte mal...«
Meta verdrehte spielerisch die Augen und nippte dann an ihrem Glas. Zu ihrer eigenen Verwunderung war sie nicht annähernd so betrunken, wie sie es normalerweise nach fünf Gläsern Wein gewesen wäre. Aber für gewöhnlich war ihr Magen auch nicht so gefüllt wie an diesem Abend. Hastig verdrängte sie diesen Gedanken. »Der nackte Kerl heißt David«, sagte sie stattdessen und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Schnell trank sie einen weiteren Schluck Wein.
»Ach ja«, sagte Rahel und kratze sich am Kopf, als falle es ihr gerade jetzt erst wieder ein. Sie war wirklich eine miserable Schauspielerin. Kein Wunder, dass sie bei ihrem heiß geliebten Laientheater tausend Aufgaben zugeschustert bekam, die sie von der Bühne fernhielten. »Genau wie dein nackter Kerl, wenn ich mich recht erinnere.«
Meta lachte laut auf und musste im nächsten Moment husten, weil sie sich verschluckt hatte. Während sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischte, begann sie, Rahel von ihrem Ausflug in Davids Stadtviertel zu erzählen. Das Ganze hatte damit geendet, dass sie sich am frühen Abend völlig ausgelaugt auf den Rücksitz eines Taxis hatte fallen lassen, kaum fähig, die immer noch zitternden Beine ins Wageninnere nachzuziehen. David und sie hatten sich so sehr verausgabt, dass Meta nicht einmal eingeschnappt war, als er ihr völlig unvermittelt eröffnete, nun gehen zu müssen. Unsagbar mundfaul hatte sie ihm ihre Handynummer genannt, die er sich auf seiner Handfläche notiert hatte. Sie hatte auch nicht verwundert aufgeblickt, als er ihr erklärte, dass er selbst kein Telefon besaß.
»Das klingt ja alles ziemlich heiß«, meinte Rahel, deren Wangen vor Aufregung gerötet waren. Die Geschichte war anscheinend nach ihrem Geschmack. »Aber wenn ihr euch das nächste Mal ausgetobt habt, solltet ihr vielleicht auch ein paar Sätze wechseln. Oder meinst du, du wärst völlig überfordert, wenn dieser David tatsächlich auch noch mit einem Übermaß an Persönlichkeit auftrumpfen könnte?«
Meta winkte ab. »Ach, daran bin ich eigentlich gar nicht so brennend interessiert. Ich hätte wirklich nichts dagegen, in der nächsten Zeit ein paarmal mit ihm zu schlafen, aber für mehr reicht es bestimmt nicht.« Noch während sie die Worte aussprach, spürte Meta einen nagenden Zweifel in sich. Mehr um sich selbst als Rahel zu überzeugen, fügte sie hinzu: »Vermutlich brauche ich einfach nur Abwechslung, genau wie Karl.«
Einen Moment lang sah Rahel so aus, als wolle sie Metas unglaubwürdige Kaltschnäuzigkeit hinterfragen, sie entschied sich jedoch anders.Was nützte es, Meta Unsicherheit und versnobtes Denken vorzuwerfen, wenn diese sich offensichtlich schon selbst mit genügend Zweifeln herumschlug. Dann lieber an Karls Stuhl sägen, das versprach zumindest vergnüglich zu werden.
Rahel war Karl in den Anfangstagen der Galerie auf einer der Vernissagen vorgestellt worden. Zuerst hatte Karl sie charmant begrüßt, nur um schon im nächsten Moment das Interesse an der Frau mit dem wirren Lockenhaar zu verlieren. Buchhalterinnen waren nun einmal nicht nach seinem Geschmack. Zwar hatte Rahel sich nicht weiter zu dieser Unhöflichkeit geäußert, aber ihr Widerwille war ihr deutlich anzusehen gewesen. Vermutlich hielt sie David allein deswegen schon für ein Geschenk der Götter, weil er das Zeug hatte, Karl endlich in den Ruhestand zu zwingen.
»David gegen Karl den Großen - das muss im Bett ja ein richtiges Kontrastprogramm sein«, tastete Rahel sich vor, und Meta ging sofort mit einem eifrigen Nicken auf das Thema ein. »Kann sein, dass ich falsch liege, aber ich vermute einmal, dass man sich das Recht, mit Karl zu schlafen, hart erarbeiten muss«, warf Rahel als Köder aus.
Ohne zu zögern, reagierte Meta: »Kein einziges Haar an Körperstellen, an denen laut Karl bei einer begehrenswerten Frau keins zu sein hat. Bei ungnädiger Beleuchtung darauf achten, dass der Hintern trotzdem im besten Licht erscheint. Am frühen Morgen rasch ins Bad huschen, bevor der Liebste auch nur ein Auge öffnet. Zähne putzen, Haare bürsten, Schlaf aus den Augen waschen, und wenn er sich dann regt, so tun, als sei man selbst auch gerade erst aufgewacht.«
Leicht wackelig, stemmte Meta sich vom Sofa hoch und ging zur Anrichte hinüber, um die letzte Flasche Wein zu holen: ein Merlot mit 12,5 Umdrehungen. Nun ja, der morgige Tag war ohnehin schon verloren. Während sie den Korkenzieher in den Flaschenhals stieß und Rahel eine Dose mit Nüssen hervorzauberte, wurde Meta zum ersten Mal bewusst, wie sehr sie das Liebesleben mit Karl unter Druck gesetzt hatte. Und wie lächerlich das Ganze erschien, wenn man es aus der Distanz heraus betrachtete.
»Guter Sex mit Karl verlangt disziplinierte Arbeit, und man darf sich vor allem niemals auch nur einen Augenblick gehenlassen.« Meta fuchtelte mit dem Korkenzieher so dicht vor Rahels Gesicht herum, dass diese sich sicherheitshalber tiefer in die Polster drückte. »Denn sollte Karl - entgegen seiner sonstigen Gewohnheit - sich dazu hinreißen lassen, einen außerplanmäßig in seine Arme zu schließen, hätte alles verheerende Folgen, was nicht dem Regelwerk für attraktive Frauen entspricht. Ein Baumwollslip? Und zack ist die sexuelle Anziehungskraft für immer verwirkt.«
Meta untermalte ihre Worte mit einem knallenden Fingerschnipsen, dann lehnte sie sich erschöpft gegen die Sofalehne und zog sich ein Kissen auf den Schoß. Eigentlich hatte sie insofern keinen Grund, sich zu beschweren, als Karl selbst geradezu akribisch seine eigenen hohen Ansprüche erfüllte. Er glaubte fest an den erotischen Freischein von Sixpacks und enthaarten Rückenmuskeln. Das zwischen ihr und Karl funktionierte ohne Frage, schließlich hatten sie sich beide ohne viele Worte darauf verständigt, wie es zu laufen hatte: sexy und modern, sprich hemmungslos und vielseitig. Aber gedankenlose Hingabe? Animalische Leidenschaft? Nicht mehr wissen, wo oben und unten ist? Das gab es nicht mit Karl, so viel stand fest. Sex machte man so, als ob eine Kamera liefe. Jede Nummer ein Werk für die Nachwelt.
»Wenn ich mit Karl zusammen bin, fühlt es sich manchmal so an, als ob mein Körper gar nicht wirklich existiert, sondern nur … ich weiß nicht … eine Idee ist. Beharrliches Magenknurren und Blasen an den Füßen von den Stilettos, so etwas darf es in Karls Welt nicht geben.« Meta erschrak über die Trostlosigkeit in ihrer Stimme. Niemals hätte sie erwartet, dieses beschämende Gefühl zuzugeben. Doch mit Rahel an ihrer Seite, die sie nicht unterbrach, ja, ihr nicht einmal heuchlerisch den Arm tätschelte, während sie sich insgeheim ins Fäustchen kicherte, konnte sie sich ihren Empfindungen stellen. Schüchtern lächelte Meta die Freundin an, die das Lächeln erwiderte.
»So läuft das halt mit dieser Art von Kerlen«, sagte Rahel, und etwas in ihrer Stimme klang bitter. »Die verkünden ihre Erwartungen natürlich niemals offen. Nein, dafür sind sie viel zu raffiniert. Ein Mann wie Karl arbeitet mit subtileren Methoden, die bei intelligenten und gebildeten Frauen wie dir auch sehr viel besser funktionieren.Anekdoten darüber, welch schrecklichen Fauxpas sich die Verflossene zuschulden hat kommen lassen. Kleine Anspielungen, wie eine gemeinsame Bekannte das handhabe und was ja wohl gar nicht ginge. Ein Fingerzeig auf das Foto in einer Illustrierten mit ungläubig hochgezogenen Augenbrauen. Wie gesagt, Meta, die klugen Mädchen lernen besonders schnell.Wer möchte schon von seinem Freund, diesem herausragenden Stellvertreter des männlichen Geschlechts, mit einem mitleidigen Blick bedacht werden, weil man bei der Auswahl von schlüpfrigen Bemerkungen beim Liebesspiel kläglich versagt? Nein, darauf kann man gern verzichten und übt sich im vorsorglichen Gehorsam.«
»Du kennst dich ja gut aus«, sagte Meta. Die Beschreibung war ihr etwas zu passend geraten, fast wie eine Anklage. Aber sie unterdrückte das Bedürfnis, noch spitzfindiger zu reagieren, nur weil sie sich in die Ecke gedrängt glaubte.Was Rahel sagte, meinte sie ernst, und Meta wollte ihr dankbar dafür sein.
»Meta«, sagte Rahel fast zärtlich, so dass es der schmalen Frau neben ihr leichtfiel, die schillernde Hülle abzustreifen, mit der sie ansonsten durchs Leben ging. »Es ist immer einfach, auf das Leben anderer zu blicken. Du brauchst meinen Rat nicht anzunehmen, wahrscheinlich kennen wir uns beide auch gar nicht gut genug. Aber könnte es sein, dass David dir in den paar Stunden, die ihr miteinander verbracht habt, etwas gegeben hat, zu dem Karl gar nicht imstande ist?« Als Meta sie skeptischen ansah, hob Rahel abwehrend die Hände. »Okay, da gab es bislang nur Sex, doch verrät der nicht auch eine ganze Menge?«
Obwohl ihr eine scharfe Bemerkung auf der Zunge lag, hielt Meta sich zurück und versuchte, der Frage erst einmal nachzugehen. Es war bereits Nacht, und durch die abgelegene Straße, in der Rahel wohnte, fuhr zu dieser Zeit nur gelegentlich ein Auto. Über dem Dach des gegenüberliegenden Hauses war ein Streifen des sternenlosen Himmels zu sehen, und in den Fenstern standen Kerzen, die Rahel vor dem Essen angezündet hatte und die schon fast heruntergebrannt waren. Gedankenverloren starrte Meta in das weiche Kerzenlicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelte.
Auch wenn es ihr wenig zusagte, so musste sie Rahel abermals Recht geben.Wenn sie mit Karl ins Bett ging, dann hatte sie alles fest in der Hand und wusste genau, wie es ablaufen würde. Heute schnell und hart, morgen ein kleiner Striptease, eine fein inszenierte Vorstellung. Für echte Zärtlichkeiten oder Hingabe hatte sie den Sinn verloren.
»David irritiert mich«, erklärte sie Rahel zögernd. »Sein Begehren hält sich nicht an die Regeln, die ich kenne. Er lässt sich von seiner Leidenschaft und dem Moment treiben, ergibt sich ganz seinen sinnlichen Bedürfnissen. Wenn ich mit ihm zusammen bin, kann ich mich einfach fallenlassen, mich hingeben, ohne auch nur einen Gedanken an die Art, wie ich wohl rüberkomme, zu verschwenden. Das kannte ich bislang nicht, und, ehrlich gesagt, bin ich mir unsicher, ob ich mit dieser Art von Leidenschaft nicht überfordert bin. Doch da ist noch etwas anderes, die Art, wie er mich anschaut.«
Erneut hielt Meta inne und studierte Rahels Gesicht. Konnte sie sich wirklich so weit vorwagen? Zwar hatte sie bislang unglaublich viel von sich preisgegeben, aber die erotischen Eskapaden waren eher aufgeregtes Mädchengeplapper mit einer Prise Angeberei. Ernsthaft über Karl zu sprechen, war schmerzhaft genug, aber ihren Gefühlen für David Bedeutung zuzugestehen, erschien ihr unsagbar gefährlich. Meta wünschte sich, Rahel würde etwas sagen oder tun, was ihr die Entscheidung abnahm. Doch die saß nur geduldig da, das Weinglas vergessen in der Hand.
»Nachdem David und ich miteinander fertig waren, haben wir uns unter die Dusche gestellt.Wir waren beide vollkommen erschöpft, das kannst du mir glauben.Also haben wir uns nebeneinander auf den Boden der Duschwanne gesetzt und das warme Wasser wie einen Sprühregen auf uns niedergehen lassen. Obwohl ich bestimmt ein Bild des Elends abgegeben habe mit meinem nassen Haar und dem zerlaufenen Make-up, war mir das herzlich egal. Meinen Ehrgeiz als Schönheitskönigin hatte ich restlos verloren. Ich saß einfach neben ihm, ohne zu denken oder zu sprechen. Als ich mich später abtrocknete, beobachtete er mich mit einem unergründlichen Blick. Ich habe das kaum ausgehalten, diese wortlose Intimität. Aber seit unserem Abschied fehlt mir etwas. Und damit meine ich nicht das gute Stück zwischen seinen Beinen.«
Rahel lachte kurz trocken auf, wurde aber sofort wieder ernst. »Trotzdem willst du nicht, dass eure Beziehung sich weiterentwickelt. Woran liegt das? Ist er dir nicht fein genug, zu jung, zu ungebildet?«
Zuerst wollte Meta abwinken, aber dann besann sie sich eines Besseren. An den Gründen, die Rahel auflistete, war gewiss etwas dran. Sich mit David einzulassen - einmal vorausgesetzt, dass er daran überhaupt interessiert war -, würde ihr Leben auf den Kopf stellen. Karl träfe wahrscheinlich der Schlag, weil er über seinen Nachfolger so herzhaft lachen musste, und ihr Freundeskreis würde zuerst bestenfalls amüsiert reagieren. Wenn sich die Beziehung aber nicht als Ausrutscher, sondern als etwas Festes entpuppte, verlören sie alle sehr schnell den Humor. Ihre Mutter müsste schwer schlucken, vermutlich sehr schwer, ihr Vater würde ein genauso langes Gesicht machen wie bei Karl. Und Emma … weiß der Teufel, wie ihre Schwester auf David reagieren würde.Aber all diese Punkte nahmen sich nebensächlich aus, verglichen mit der Unergründlichkeit, die David umgab, und dem unwiderstehlichen Sog, mit dem es sie zu ihm hinzog. Es schien geradezu so, als wäre sie nicht länger ein vernunftbegabtes Wesen, sondern handle aus reinem Instinkt.
»Wenn ich mir vorstelle, an Davids Seite zu sein, dann wird mir bange.Auf den ersten Blick sieht alles nach einem zurückhaltenden Mann aus, der in bescheidenen Verhältnissen lebt«, dachte Meta laut nach. »Aber ich kann mir einfach nicht erklären, wie er mich nach unserer ersten Nacht wiedergefunden hat. Dass er so unvermittelt in der Galerie auftauchte, erscheint mir immer seltsamer. Und dann sind da noch all die Narben und neuen Verletzungen... Ich meine, was treibt er, dass er ständig verletzt ist?«
»Nach dem, was du erzählt hast, scheint David vom Typ her nicht gerade ein Schläger zu sein.Vermutlich gibt es eine ganz simple Erklärung, wie Kampfsport oder einen Job als Türsteher. Das könnte auch erklären, wie er dich gefunden hat. Hat sich einfach bei ein paar Kollegen umgehört.« Obgleich Rahels Worte vernünftig klangen, zog sie selbst die Stirn kraus. Vermutlich gingen ihr einige wesentlich unschönere Erklärungen durch den Kopf.
Einen Moment lang kämpfte Meta mit sich, ob sie ihre anderen Beobachtungen auch erwähnen sollte oder ob dies zu weit ginge.Aber wenn sie es Rahel nicht erzählen konnte, wer blieb dann noch? »Als wir uns vor dem Regen in Sicherheit gebracht haben, hat David die Haustür mit Gewalt geöffnet.«
Rahel nickte einmal bedächtig, um zu signalisieren, dass sie sich an diesen Part der Geschichte erinnerte.
In einem Anflug von Nervosität begann Meta, ihren heillos zerknitterten Rock glattzustreichen. »Das war eine ziemlich massive Tür, und es war ja nicht gerade so, dass David auf sie eingedroschen oder sie eingetreten hätte. Ein Schlag, und das Ding flog fast aus den Angeln.«
Mit einem Ruck richtete sich Rahel auf. Ihr Blick war so klar und nüchtern, als säße sie vor den Zahlenkolonnen im Büro. »Was willst du damit sagen?«, fragte sie heiser, so dass Meta unwillkürlich ein Stück zurückwich. »Beschreib mir ganz genau, was du gesehen hast.«
Meta zögerte, da sie Rahels plötzliche Heftigkeit erschreckte. Doch schließlich kam sie der Aufforderung nach. »Ich weiß, das klingt jetzt absurd, aber ich kann es einfach nicht besser beschreiben: Es war, als würde etwas aus Davids Hand hervortreten und seinen Schlag potenzieren. Etwas Dunkles, wie ein Schatten.«
Bei diesem Wort wurde Rahel leichenblass im Gesicht, während sie mit einer betont langsamen Geste das Weinglas auf den Tisch stellte. Mitten in der Bewegung hielt sie inne, dann glitt sie in die Polster zurück.Auf ihren Zügen hatte sich urplötzlich Traurigkeit ausgebreitet. »Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll«, tastete sich Rahel vorsichtig an Worte heran.
Meta wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, um ihre bittere Miene zu verbergen. »Es tut mir leid, dass ich so einen Blödsinn erzähle. Macht ganz den Anschein, als ob mir jede faule Ausrede recht wäre, damit ich ohne schlechtes Gewissen einfach nur mit David ins Bett gehen kann.«
Als Rahel sich vorlehnte und nach Metas Hand griff, zuckte diese zurück, aber Rahel ließ sich nicht so leicht abweisen. »Ich glaube, dein Instinkt verrät dir, dass in David etwas Gefährliches steckt. Wenn ich mich nicht irre, sehr viel gefährlicher, als du ahnst. Trotzdem weiß ich nicht, ob ich dir abraten soll, ihn wiederzusehen, oder nicht. Das ist wirklich sehr schwer.«
Meta wollte schon zu einer Erwiderung ansetzten, aber der verlorene Ausdruck auf Rahels Gesicht ließ sie innehalten. Ihre Freundin meinte jedes Wort genau so, wie sie es gesagt hatte.