Kapitel 21

Ein Neubeginn

»Es ist mir ein Rätsel, wie man ein solches Schmuckstück von einem Haus derart herunterkommen lassen kann.« Der übergewichtige Mann wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Obwohl es eiskalt im Haus war, hatte der kurze Gang die Treppe hinauf und das Abrücken eines alten Kleiderschranks Halberland ordentlich ins Schwitzen gebracht.

»Schau dir das an«, sagte er zu David und deutete auf eine beachtlich große, grün angelaufene Stelle in der Tapete. »Der Schimmel ist doch nicht erst gestern durch die Mauer gekrochen, sollte man meinen. Hat hier kein Schwein interessiert. Wahrscheinlich sind die Leitungen im Bad hinter dieser Wand schon seit Jahren marode. Das ist eine ganz üble Sache.«

David nickte und begann, wie aufgetragen, in einer Ecke den braunen Teppichboden aufzureißen.

»Und?«, fragte sein Chef, der immer noch Luft in seine Lungen pumpte und ungläubig die verschimmelte Wand betrachtete.

David verlagerte sein Gewicht auf die Knie und zerrte verbissen an dem Zipfel, dann stemmte er die Hände in die Hüften. »Ich weiß nicht, womit sie den Teppich verlegt haben, aber nach all den Jahren hat der Kleber nichts von seiner Wirkkraft eingebüßt. Wenn ich noch mehr daran rumreiße, habe ich die Dielen gleich mit in der Hand.«

»Scheiße«, erwiderte Halberland. »Aber da ist Holz drunter, ja?«

Erneut packte David die Teppichecke und zog mit aller Kraft. Mit einem in den Ohren schmerzenden Geräusch gab das Gewebe nach. David betrachtete halb genervt, halb belustigt den Fetzen zwischen seinen Fingern, dann begutachtete er das Eckchen, das er freigelegt hatte. Er griff nach einem Schraubenzieher und hobelte etwas von dem schmutzig orangefarbenen Lack ab, der unter dem Teppich zum Vorschein gekommen war. Schließlich nickte er. »Treffer: Holzdielen.«

»Das ist doch gut!« Halberland hatte sich endlich erholt und gesellte sich zu David. Soweit sein Bauch es zuließ, ging er in die Knie und schnaufte: »Das ist Eiche, sag ich dir. So hat man das früher gehalten: schöne, dicke Eichendielen. Freu dich, Junge.Wenn wir diese Bruchbude hier auf Vordermann bringen, gibt es ordentlich etwas zu tun für dich. Mutti soll dich nicht umsonst zu so einem starken Kerl aufgepäppelt haben.« Halberland klopfte ihm auf die Schulter, dann brüllte er: »Sentker, was is’ nun mit dem Balkon? Kurz vorm Einsturz?«

Als zur Antwort nur ein unverständliches Murmeln erklang, atmete Halberland noch einmal tief ein und nahm den nächsten Treppenabsatz in Angriff. »David, du schaust dir unterdessen schon mal das Bad an, ja? Sieh zu, dass du ein paar von den Fliesen runterschlägst, damit wir wissen, was uns noch alles erwartet. Wahrscheinlich verbergen sich dahinter noch ein, zwei weitere Schichten. Mann, ich freue mich jetzt schon auf den Kostenvoranschlag für die Renovierung. Das wird ein Fest!«

Mit einem Grinsen blickte David seinem Chef hinterher. Sobald Halberland außer Sichtweite war, griff er erneut nach dem Teppich und rief den Wolf. Ein kaum sichtbarer Schatten verdichtete sich zwischen seinen Fingern, einen Augenblick später hatte er mit einem einzigen Ruck eine beachtliche  Ecke Boden freigelegt. Bei diesem Anblick grummelte der Wolf zufrieden, ganz im Einklang mit seinem Herrn.Vorsichtig hobelte David weitere Lackspäne ab, bis genügend Farbe und die Maserung des Holzes zu erkennen war. Eiche - Halberland hatte Recht gehabt, der Mann verstand sein Geschäft.

Zufrieden ging er in das Badezimmer, um die Fliesen in Augenschein zu nehmen. Diese leuchteten in einem künstlichen Braun, einige von ihnen zeigten Scherenschnitte von Palmen und Meer. David verzog ungläubig das Gesicht. Diese Fliesen mochten vor einigen Jahrzehnten einmal modern gewesen sein, aber nun hatten sie sogar ihre Wiederauferstehung dank der Retrowelle überlebt. Diese Scheußlichkeit würde ich glatt auch ohne Bezahlung abreißen, dachte er und schüttelte sich.

Ohne Voranmeldung änderte der Wolf Davids Wahrnehmung, und das Badezimmer schimmerte in verschiedenen Farben und Formen, als sähe er durch ein Prisma: Eine Vielzahl unterschiedlichster Fährten überlagerten einander. Allerdings erzählten sie von einem normalen Alltag und waren überdies alt, wie der Wolf leicht enttäuscht feststellte. Hier lebten schon lange keine Menschen mehr.

Mit einem Schnaufen drängte David die Wolfssicht zurück - dieser Hang des Wolfes zur Selbstständigkeit war neu, und er wusste noch nicht, was er davon halten sollte. Allerdings musste er sich eingestehen, dass das Zusammenleben mit dem erstarkten Dämon sich unerwartet gut anfühlte. Als wäre ihnen beiden eine Souveränität geschenkt worden, die es ihnen leichter machte, beisammen zu sein. Als lebten sie seit dem Ritual in einem größeren Einklang miteinander. Eigentlich ein Widerspruch in sich:Wie konnte ein höheres Maß an Freiheit dazu führen, dass man sich einander näher fühlte? Wie auch immer, es fiel David jedenfalls erstaunlich leicht, mit den Menschen zurechtzukommen, nachdem er zuerst voller Panik  befürchtet hatte, jeden Augenblick aufzufliegen. Er glaubte sogar, dass Halberland ihm gut aufs Fell gucken konnte.

David ging zum Fenster, und es brauchte einiges an Geschick, um das verzogene Holzfenster zu öffnen. Von hier blickte man in den ummauerten Garten, ein Kleinod inmitten der endlosen Stadt. Der Regen hatte die von altem Laub bedeckten Beete zum Schimmern gebracht. Im Sommer nahm der alte, dicht bei der Mauer gepflanzte Baum bestimmt die Hälfte des Gartens mit seiner Laubkrone in Beschlag, doch nun ragten seine kahlen Äste wie ein hochkomplexes Kunstwerk aus unzähligen Strichen in die Luft empor.

Während er in den Garten hinabsah, dessen Erdreich er bis in den ersten Stock riechen konnte, bemerkte David, wie sich ein ungewohntes Gefühl ausbreitete. Es dauerte einen Moment, bis er es benennen konnte: Zufriedenheit. Allein die Aussicht auf diesen Job machte ihn glücklicher, als er es in den vergangenen Jahren je gewesen war. Zwar war er nichts weiter als der Leiharbeiter einer Zeitarbeitsfirma, aber Halberland beschäftigte ihn nun schon seit einer Woche und war zufrieden mit ihm. Halberlands kleines Unternehmen hatte sich auf Renovierungsarbeiten verlegt - »alles aus einer Hand« -, und in diesem wohlhabenden Wohnviertel mit seinen altehrwürdigen Bauten gab es mehr als genug zu tun. Dabei hatte David kaum zu hoffen gewagt, in Maggies Viertel eine Arbeit zu finden.

Das Wunderbarste war seine Beziehung zu Meta - David blinzelte bei dem Wort Beziehung unwillkürlich, aber dazu war ihre Affäre mittlerweile unleugbar gediehen. Dennoch sorgte auch etwas anderes für dieses warme Gefühl von Zufriedenheit. Früher hatte er all seine Energie darauf verwenden müssen, seinen übermütigen Wolf an die Leine zu legen. Doch seit dem Ritual war die Anwesenheit des Wolfsdämons auf eine unerklärliche Art leichter geworden.Allein, dass er David nicht  unentwegt drängte, zum Rudel zurückzukehren, grenzte an ein Wunder. Obwohl der Wandel verwirrend und schmerzhaft gewesen war, war der Dämon nicht zu einer unüberwindbaren Macht herangewachsen, die ihn unter seine Herrschaft zwang. Oftmals verhielt sich der Wolf so ruhig, dass David seine Existenz fast vergaß. Dabei hatte er immer geglaubt, dass der erstarkte Dämon zwangsläufig versuchen würde, seine ureigenen Interessen durchzusetzen. Genauer gesagt, hatte Convinius das behauptet, und das Verhalten von Hagen samt seinen blutrünstigen Getreuen hatte den Verdacht untermauert.

Vielleicht halte ich mich ja deswegen so gern in Maggies Nähe auf, dachte David, während seine Finger die bröckelnde Verfugung der Fensterrahmen untersuchten. Diese Anführerin war anders … machtvoll, jedoch nicht verdorben. Er hatte sich schon so manches Mal gefragt, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn Maggie ihn nach Convinius’ Tod gefunden hätte.Auch ihr Wolf war stark, aber sie missbrauchte ihn nicht dazu, die Schwächeren zu unterwerfen und mit Blut an sich zu ketten. Allein der Gedanke an die dreckigen Geschäfte, für deren Abwicklung Hagen das Rudel missbrauchte, ließ David unbewusst die Hände zu Fäusten ballen.

In den letzten Jahren war das Rudel immer tiefer in ein Netz aus Gewalt und Verbrechen verstrickt worden, damit Hagen seine Blutopfer in die Fänge bekam. Zwar war Sascha auch nicht gerade als Menschenfreund bekannt, aber dass er seine Leute in ebensolche Machenschaften verwickelte, konnte David sich einfach nicht vorstellen. Ihm schien es eher so, als zögen die Toten, die Hagen und seine erste Garde in widerwärtiger Regelmäßigkeit forderten, den ganzen Dreck der Stadt an.

»Hey, David! Wie sieht’s unten bei dir aus?« Obwohl Halberland schnaufte, als würde er gleich einen Herzinfarkt erleiden, tönte in seiner Stimme auch seine Begeisterung für die  vor ihnen liegende Aufgabe durch: So schön die Fassade des Hauses anmutete, im Inneren war es eine Ruine.Aber es wartete bereits ein wohlhabendes junges Paar darauf, jede Menge Geld hineinzustecken, damit sie Freunde und Familie mit einer prächtig renovierten Stadtvilla beeindrucken konnten.

»Alles raus, würde ich sagen. Und damit meine ich auch die verschimmelte Wand zwischen Bad und dem Nachbarraum. Zwei so kleine Räume, das sieht doch nach nichts aus. Daraus könnte man ein richtiges Luxusbadezimmer machen.« Die Vorstellung, Zeuge zu werden, wie dieses Haus Zimmer für Zimmer wieder auferstand, gefiel David ausgesprochen gut.

»Ah, da kommt wohl das Fräulein Innenarchitektin in unserem jungen Freund zum Vorschein.« Halberland lachte, bis ihn ein Hustenanfall überkam. Dann japste er erst noch ein paarmal, bevor er weitersprach. »Sentker und ich bleiben erstmal hier oben. Dieser schmiedeeiserne Balkon sieht aus, als würde er abstürzen, wenn man ihn bloß schief anguckt. Ist aber ein echter Leckerbissen, den sollte man auf jeden Fall erhalten. Die erste Etage gehört also dir. Wenn die neuen Besitzer in einer Stunde auftauchen, sollten wir denen eine erste Bestandsaufnahme geben. Nur keine eigenen Vorschläge, bitte. So was können Schickimickis nicht ausstehen - Tipps hören die sich nur von Leuten an, für deren Meinung sie viel Geld bezahlt haben.Wir reden über veraltete Elektroleitungen und morsche Treppenstufen, verstanden?«

David zuckte gleichmütig mit der Schulter, aber Halberland schien auch keine Antwort zu erwarten. Mehr zum Spaß setzte er seinen Schraubenzieher bei einer schief sitzenden Steckdose an, die daraufhin gleich aus der Fassung fiel. »Über die Elektroleitungen gibt es auch wirklich mehr als genug zu reden«, brummte er.

Mit einem Mal breitete sich auf Davids Haut jenes seltsame Prickeln aus, das ihn sonst nur überkam, wenn er den Wolf  rief. Mit einem ungläubigen Staunen beobachtete er, wie sein Schatten die verschwommene Form eines Wolfes annahm und über die braunen Wandfliesen glitt. Anders als im Kampf mit Mathol nahm der Wolf keine festen Konturen an, sondern verhielt sich, wie man es von einem Schatten erwartete - einmal davon abgesehen, dass er nicht länger die Silhouette seines Herrn aufwies.

»Was zum …«, stieß David aus, um sogleich innezuhalten, als ihm bewusst wurde, dass er laut gesprochen hatte. Doch das Geschehen brachte ihn tatsächlich aus der Fassung. Zwar hatte er seinen Wolf schon oft von sich getrennt - Convinius hatte ihn diese Kunst gelehrt, auf eine sehr schmerzhafte Art und Weise -, aber dieser Bruch war immer von ihm ausgegangen. Nun war es der Wolf, der aus ihm hervorbrach und die Verbindung zwischen ihnen beiden so weit ausdehnte, dass sie jeden Augenblick zu reißen drohte.

Was, zum Teufel, soll das?, fragte David den Wolf über jenen mentalen Faden, der sie miteinander verband.Auch wenn seine Umrisse im diesigen Nachmittagslicht leicht zerlaufen wirkten, sah es so aus, als wedle der Wolf verlegen mit der Rute. Etwas bis dato Unbekanntes formte sich in Davids Bewusstsein: Der Wolf teilte sich ihm klarer als je zuvor mit. Nur ein Spaziergang, bin gleich wieder da …

»Lass dich aber nicht erwischen«, sagte David und kam sich sofort wie ein Idiot vor. Der Schatten flackerte, dann löste er sich wie ein Nebelhauch auf und verschwand. Zurück blieb ein junger Mann, der hoffte, dass der Balkon Halberland & Co. noch eine Weile beschäftigte, denn ohne seinen Schatten wollte er ihnen nur ungern unter die Augen treten. Es hatte einen guten Grund, warum die meisten Rudelmitglieder sich nicht von ihrem Schatten trennen konnten: Ohne die Macht des Wolfsdämons ließ sich die Position im Rudel nicht lange aufrechterhalten. Man war für die Zeit, in der der Schatten fort  war, ausgeliefert. Man war nur ein Mensch. Und das fühlte sich selbst für David seltsam an.

Während er die übrigen Räume untersuchte, die ebenfalls in einem desolaten Zustand waren, wartete David darauf, dass jenes Echo anschwoll, das von der leeren Stelle des Wolfes herrührte und sich innerhalb kürzester Zeit zu einem ohrenbetäubenden Lärm hochschaukeln konnte, bis man glaubte, bloß eine Hülle zu sein, die gleich zerbersten würde. Doch nichts dergleichen geschah. Er spürte zwar das Fehlen des Wolfes, aber auch eine Verbindung, wie ein kaum wahrnehmbares Summen, ein Faden, den er noch zu berühren lernen musste. Das war neu.

Was auch immer das Ritual bewirkt hatte, es war so ganz anders als alles, was er erwartet hatte.Wenn er das in der Zeit geahnt hätte, in der ihm das Leben in Hagens Stadtpalais mit jedem Tag abstoßender erschienen war, hätte er sich vielleicht nicht so gegen die Stärkung des Dämons gewehrt. Aber er hatte einfach zu viele starke Wölfe kennengelernt, die ihm pervertiert vorgekommen waren. Convinius etwa, der sich selbst fast noch mehr hasste als seinen Wolf … Hagen und seine heruntergekommene Meute … und er selbst mittendrin, den Bedürfnissen seines Dämons ausgeliefert, der nicht ohne die Nähe zu anderen Wölfen existieren konnte.

Dabei hatte die Abwesenheit eines Rudels David selbst nach Convinius’ Tod verhältnismäßig wenig ausgemacht, während es sich für den Wolf angefühlt hatte, als hätte man ihn in einer Kapsel eingesperrt und diese dann im Meer versenkt. Von Moment zu Moment war die Kälte, die der Dämon in seiner Isolation erlitt, unerträglicher geworden. Durch seine Verbindung mit dem Wolf wusste David nur allzu gut, wie es sich anfühlte, wenn jeder Gedanke, jede Gemütsregung erstarrte, bis alles zu einer Salzwüste geronnen war, in der nur noch das eigene leidende Winseln erklang.

Doch der Gedanke war müßig: Nach dem Ritual hatte er das Rudelleben hinter sich gelassen, und offensichtlich begnügte der Dämon sich jetzt damit, ohne engeren Kontakt zu anderen seiner Art zu leben.

Was mein Wolf wohl gerade treibt?, dachte David und stellte sich vor, wie der Schatten sich um Maggies Beine schlängelte, auf der Suche nach Nähe zu seinesgleichen. Nun, solange seine Abwesenheit ihn nicht wie früher in den Wahnsinn trieb, sollte es David recht sein. Je weniger Wolf in seinem Inneren hauste, umso besser.Trotzdem blickte er missmutig an sich hinab, schalt sich jedoch sofort, weil ihm das Fehlen seines Schattens nun wirklich nicht zu schaffen machen sollte.

Unwillkürlich dachte David daran zurück, wie es sich vor Mathols Tod angefühlt hatte, sich von seinem Schatten loszureißen. Während er zurückgelassene Möbel über den verschlissenen Teppichboden schob, wurde die Erinnerung an die damals erzwungenen Trennungen so lebendig, als geschähen sie genau in diesem Augenblick. Vertraut klang ihm Convinius’ stets gereizte Stimme im Ohr, die er nun schon seit einigen Jahren nicht mehr gehört hatte: »Wie kann es dich schmerzen, von diesem Eindringling getrennt zu sein? Statt winselnd in der Ecke zu liegen, solltest du deine Freiheit genießen, so kurz, wie sie währt.«

Mit ungläubiger Miene beugte sich der Mann zu einem David herunter, dessen Züge gerade erst die weichen Spuren der Kindheit abgelegt hatten. Obwohl Convinius vielleicht Mitte dreißig sein mochte, sah er in Davids Augen aus wie ein alter Mann: ausgezehrt und halb aufgefressen von einem inneren Feuer. Das einzig Strahlende an dieser farblosen Gestalt waren die blauen Augen, ausgerechnet jener Part, den Convinius so sehr hasste. Obwohl er vom Körperbau her eher zierlich veranlagt war und seine unnatürlich anmutende Schlankheit darauf hätte schließen lassen können, dass er dem schon  als Jugendlichen hünenhaften David körperlich nicht gewachsen war, wusste David es aus leidiger Erfahrung besser: Convinius’ selbstzerstörerische Verachtung für das, was er war und nicht ändern konnte, verwandelte ihn in einen unbezwingbaren Gegner.

Es war eine von Convinius’ Lieblingsübungen gewesen, seinem Schützling einzubläuen, welche Art von Dämon er in sich beherbergte: keinen harmlosen Weggefährten auf vier Pfoten, wie David seit seiner Kindheit geglaubt hatte, sondern einen eigensüchtigen Besatzer, dessen Freundlichkeit nur als Fassade diente. Dahinter verberge sich nichts anderes als ein Schmarotzer, der in die Menschen eindrang und ihnen seinen Stempel aufdrückte.

»Warum sonst«, hatte Convinius dem widerspenstigen Jungen erklärt, »hat dich deine Mutter wohl freiwillig in meine Obhut gegeben? Weil sie gespürt hat, dass du nicht ihr Kind bist, dass du jemand anderem gehörst.«

Diese Rede verletzte David unendlich, da sie einen Verdacht aufgriff, der ihn durch seine ganze Kindheit begleitet hatte: ein Kuckucksei im Schoß seiner Familie zu sein, das seiner Mutter Rebekka und seinen Geschwistern die Luft zum Atmen stahl. Trotzdem hatte er den Mann, der nur aus Sehnen und Knochen zu bestehen schien, trotzig angefunkelt. »Rebekka hat zugestimmt, dass ich mit dir gehe, weil ich es so wollte. Ich kann jederzeit zu meiner Familie zurückkehren.«

»Ach ja?« Auf Convinius’ verhärmtem Gesicht deutete sich ein trauriges Lächeln an. »Vermutlich würde deine Mutter dir sogar die Tür öffnen, wenn du anklopfen würdest. Doch um welchen Preis? Dass ihr der Wolf eines Tages die Kehle zerfetzt? Du bist beschmutzt von diesem Dämon, der in dir haust, und darüber hinaus eine Gefahr, weil du unwillig bist, die Bestie zu beherrschen. Jeder halbwegs vernünftige Mensch bemerkt, dass von dir nichts Gutes ausgeht, und wird sich  deshalb zurückziehen. Diese Erfahrung wirst du doch sicherlich auch schon gemacht haben, nicht wahr, David?«

»Dein Wolf ist vielleicht böse, aber meiner ist es nicht!« Obwohl der Junge dagegen ankämpfte, stiegen ihm Tränen in die Augen. Er verspürte den Drang, einfach nach Convinius zu schlagen, als Genugtuung für den Kummer, den er ihm mit seinen Worten bescherte. Aber der Wolf hatte beruhigend gebrummt, ein wohlvertrauterTrost, so dass der Junge sich schließlich entspannte. »Ich werde älter und klüger, und wenn ich meinen Wolf beherrschen kann, dann gehe ich nach Hause.«

»Wenn dir das eines Tages wirklich gelingen sollte, freue ich mich für dich. Aber ich befürchte, dass dir das nie gelingen wird, solange du den Wolf als Verbündeten und nicht als deinen Gegner ansiehst, den es bis aufs Blut zu bekämpfen gilt. Der Dämon täuscht uns, indem er vorgibt, nicht mehr als ein Wolf zu sein, ein berechenbares Wesen. In Wirklichkeit dürstet ihn nach Blut und Macht. Solange du ihn nicht kontrollierst, kannst du nicht unter Menschen leben.«

Dies war die Kernlektion gewesen, die Convinius ihm hatte beibringen wollen. Dabei hatte er nicht immer mit Worten gekämpft, wie die vernarbten Striemen auf Davids Rücken verrieten. Je nach Verfassung war der Junge in seinen Augen mal ein schwaches Opfer, das den Verführungskünsten des Dämons ausgeliefert war, mal ein Verräter, ein williger Lakai, der sich hemmungslos den Künsten des Wolfes hingab, gedankenlos über die Folgen, die diese Verbrüderung haben würde.

Ein lautes Poltern aus der Etage über ihm, gefolgt von einer lautstark vorgetragenen Verwünschung, riss David aus seinen unglücklichen Erinnerungen. Er stand mitten in einem leeren Raum, dessen vergilbte Tapeten noch verrieten, wo einmal die Möbel gestanden hatten. Der Geruch von Laub stieg ihm erneut in die Nase, und es dauerte eine Weile, bis er  merkte, dass eine der Fensterscheiben einen feinen Sprung aufwies.

Trotzdem konnte David sich nicht dazu aufraffen, den Schaden genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie jedes Mal, wenn er an Convinius dachte, mischte sich die Wut über den erlittenen Schmerz und die Demütigungen mit Trauer. Früher hatte David sich für diese Regung selbst verachtet, aber inzwischen gestand er sie sich zu. Trotz allem, was Convinius ihm angetan hatte, war er ihm auch ein Lehrer gewesen. Ganz gleich, mit welch drastischen Mittel ihm der kühle, gebeugte Mann vor Augen geführt hatte, dass der Wolf eine Bestie sei - das Ende, das Convinius schließlich gefunden hatte, hatte er ihm nicht gewünscht.

Convinius war das Opfer seiner eigenen Kunst geworden: der Fähigkeit, sich von seinem Schatten zu lösen. Nach all den Jahren, in denen er seinen Schatten mit aller Leidenschaft zu vernichten versucht hatte, war dieser Hass schließlich erwidert worden. Zurückgeblieben war nur ein zerfleischter Leichnam. Doch selbst im Tod hatten die auf wundersame Weise unverletzt gebliebenen Gesichtszüge keinen Frieden ausgestrahlt, obwohl der Schatten endlich von ihnen gewichen war. Die nun blassgrauen Augen hatten ins Leere gestarrt, als könnten sie die lebenslange Trauer auch im Tod nicht abstreifen. Ein verschwendetes Leben.

Mit einem Schnaufen, das jeder Dampflok Ehre gemacht hätte, kam Halberland ins Zimmer gestampft. David zuckte schuldbewusst zusammen und trat rasch einen Schritt aus dem einfallenden Licht heraus. Im Dunkeln würde die Abwesenheit seines Schattens nicht weiter auffallen.

»Zwei Anrufe«, keuchte Halberland, der weder Davids erschrockenes Gesicht noch seinen fehlenden Schatten bemerkt hatte. »Erst die neuen Besitzer: Er steckt irgendwo im Stau fest, und sie wagt es bei Regen nicht, hier allein aufzutauchen.  Der Besichtigungstermin ist also auf morgen verschoben. Ist mir ganz recht, schließlich dämmert es schon. Der zweite Anruf kam von deiner Freundin. Ich soll dir ausrichten, dass etwas für dich in der Galerie abgegeben worden ist. Du sollst vorbeikommen.«

Davids Züge erhellten sich augenblicklich. Der Gedanke daran, gleich vor Meta zu stehen, verdrängte sämtliche schmerzlichen Erinnerungen mit einem Schlag. »Kann ich mich dann jetzt aus dem Staub machen, wo doch sonst nichts weiter anliegt?«

»Nur zu«, sagte Halberland. »Schließlich sieht man hier ja gleich nix mehr vor lauter Dunkelheit, und vom Strom sollten wir besser die Finger lassen. Über Sentkers Kopf ist eine dieser alten Glühlampen explodiert. Sag mal, nimmt dir die Zeitarbeitsfirma so viel von deinem Lohn weg, dass du dir kein eigenes Handy leisten kannst?«

David zog angewidert die Nase kraus. »Ich kann die Dinger einfach nicht ausstehen.«

»Genau wie’s Autofahren, ja? Also nicht nur Innenarchitektin, sondern auch noch ein Öko.«

»Ja, so was in der Art«, sagte David und grinste seinen übergewichtigen Chef an. Sein neues Leben gefiel ihm wirklich ausgesprochen gut.