Kapitel 16
Besuch
Die Tage waren merklich kürzer geworden, und wenn eine Wolkendecke - wie jetzt am frühen Abend - den Himmel verdunkelte, kam es einem so vor, als wäre es bereits tiefste Nacht. Nun, vielleicht nicht ganz so finster, denn das allgegenwärtige Kunstlicht hüllte die ganze Stadt in einen gelblichen Kokon. Und trotzdem, dachte Meta, wirkte es bedrohlich. Sie hatte das Küchenfenster einen Spaltbreit geöffnet, so dass die Herbstluft durch den dünnen Stoff ihrer Tunika drang und ihre Unterarme streifte. Sie konnte froh sein, heute keinen Fuß mehr vor die Tür setzen zu müssen.
Das Echo von Eves gekünsteltem Lachen riss sie aus ihren Gedanken, und sie machte sich eilig daran, das Fenster wieder zu schließen. Als sie sich dem Tablett zuwandte, das sie bereits mit verschiedenen Dip-Schalen und Crackern beladen hatte, bemerkte sie Karl, der im Türrahmen lehnte und sie ungeniert beobachtete.
»Du siehst heute Abend sehr schön aus«, erklärte er mit einer ernsten Miene, als handele es sich nicht einfach um ein Kompliment, sondern um ein Geständnis mit weitreichenden Folgen.
Im letzten Moment gelang es Meta, ein liebliches Lächeln zu unterdrücken, das sich bei einem derartigen Kompliment automatisch auf ihre Lippen schleichen wollte. Es erschien ihr beinahe so, als wäre ihr Körper der Auffassung, dass man als Frau in einer solchen Situation zart zu erröten und mit den Augen zu plinkern habe. In Wirklichkeit jedoch störte sie der begehrliche Blick, mit dem Karl sie unverwandt anschaute.
»Vielen Dank«, sagte sie steif und widmete sich wieder ihren Schalen, deren Anordnung noch lange nicht perfekt war.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie jeden Morgen vor dem Spiegel gestanden und überlegt, was sie bloß anziehen könnte, um von ihm mit solcher Aufmerksamkeit bedacht zu werden. An diesem Abend hatte sie hingegen, kurz bevor die Gäste eingetrudelt waren, das Outfit aus der Galerie gegen eine bestickte Tunika eingetauscht, die eigentlich etwas zu knapp war. Und weil ihr für eine richtige Frisur schlicht die Zeit gefehlt hatte, hatte sie die Haare mit Kämmen hochgesteckt. Schließlich hatte sie, sobald sie der Galerie den Rücken kehren konnte, das Dinner ganz allein vorbereitet, da Karls Beitrag lediglich darin bestanden hatte, die Gäste einzuladen. Mit einem opulenten Rosenstrauß und der Klage, wie furchtbar viel Arbeit in den letzten Tagen angefallen war, war er deutlich zu spät eingetroffen. Meta war das mehr als recht gewesen, denn zum einen verspürte sie trotz ihres Versprechens, sich einander freundschaftlich anzunähern, eine gewisse Unlust, sich in Karls Nähe aufzuhalten. Zum anderen war sie durch die vielen Aufgaben für diesen Abend davon abgelenkt worden, unentwegt ihr Handy zu belauern.
Am Montag hatte David die Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen, dass er sich in den nächsten Tagen wieder melden würde, weil sie bestimmt einiges um die Ohren hatte. Er hatte leicht verlegen geklungen, beinahe so, als wäre es ihm unangenehm gewesen, bei ihr anzurufen. Bei der Vorstellung, dass David sich nur aus Pflichtgefühl heraus bei ihr meldete, hatte sich jeder Quadratmillimeter von Metas Haut schmerzhaft zusammengezogen. Nachdem sie die Nachricht, in einer Seitengasse stehend und eine Mappe mit Unterlagen zwischen die Knie geklemmt, noch drei weitere Male abgehört hatte, war sie jedoch zu dem Entschluss gekommen, dass er es lediglich unangenehm fand, ihr auf die Mailbox zu sprechen.Wahrscheinlich konnte er Telefone einfach nicht ausstehen, was auch erklärte, warum er kein eigenes besaß. Beschwingt hatte sie die nächste Weinhandlung betreten, um für den heutigen Abend zu ordern.
Gegen ihre Gewohnheit hatte sie das Handy sogar während wichtiger Geschäftstreffen angelassen, um den nächsten Anruf von David sofort entgegennehmen zu können.Allerdings hatte er bislang keinen weiteren Versuch unternommen, sich bei ihr zu melden. Zwar war heute erst Mittwoch, doch sie konnte ihre zunehmende Nervosität einfach nicht ignorieren. Deshalb fiel es ihr auch schwer, wenigstens mit einem Hauch von Charme auf Karl zu reagieren, der eindeutig zu nahe an sie herangetreten war, um ihr über die Schulter zu schauen. Meta roch sein Aftershave, eine Note von frisch geschnittenem Gras. Angenehm, aber nicht betörend.
»Kannst du dich noch erinnern, wo wir diese kobaltblaue Reisschale mit dem Kirschblütenmuster gefunden haben?«, fragte Karl in einem weichen Tonfall und deutete auf die gefüllten Schalen, in denen sich Avocadocreme, Salsa- und Currysaucen befanden. »Wir hatten uns für ein Wochenende ein altes Sportcabrio von Karol geliehen und sind einfach aufs Land gefahren. Zumindest so weit, bis der Auspuff abfiel. Wir hingen den ganzen Tag bei schönstem Sommerwetter in diesem öden Kaff fest, in dem das einzige Gute dieser Trödelladen war. Es war unglaublich, was man dort unter all dem Staub an wundersamen Dingen entdecken konnte. Später saßen wir beide mit staubigen Klamotten, aber höchst zufrieden in einem Fastfood-Restaurant. Das hatte ich schon fast vergessen.«
»Ja«, sagte Meta, »das war ein schöner Tag.«
Plötzlich überkam sie ein Anflug von schlechtem Gewissen, das ihr zuflüsterte, ihre Beziehung zu Karl in den vergangenen Wochen ausschließlich unter dem Banner seiner Affären und überzogenen Ansprüche gesehen zu haben. Ein berechnender, egoistischer Mann. Darüber hatte sie ganz vergessen, dass Karl tatsächlich auch sehr begeisterungsfähig sein konnte. Er hatte ein verblüffendes Gespür dafür, was gut war, und konnte sich dem Moment hingeben - zumindest wenn alle Komponenten perfekt zusammenpassten, fügte sogleich eine giftige Stimme hinzu. Das Wörtchen perfekt war so schrecklich wichtig für Karl.
Als Karl vorsichtig seine Hand auf ihre Schulter legte, ergriff Meta hastig das Tablett und schenkte ihm ein freundliches Lächeln, das nur leicht schief geriet. »Nimm doch zwei neue Champagner-Flaschen aus dem Kühlschrank. Ich denke, Eve braucht noch ein Glas, damit ihr ständiges Gelächter wenigstens etwas ehrlicher klingt.«
In Karls Blick schlich sich ein verletzter Zug, den Meta zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte. Irritiert verharrte sie einen Augenblick lang, bevor sie endgültig in den großzügig geschnittenen Wohnraum zurückkehrte, wo Eve gerade wieder eine von Rinzos im Stehen vorgetragenen Anekdoten mit einem Lachen abschloss. Diese Frau hätte einen wunderbaren Anklatscher im Theater abgegeben, dachte Meta und verharrte kurz im Durchbruch, der das Ess- vom Wohnzimmer trennte.
Nicht, dass Rinzo eine solche Unterstützung nötig gehabt hätte: Er war die Selbstsicherheit in Person und verfügte über das Grundvertrauen, dass alle Aufmerksamkeit quasi per Geburtsrecht ihm galt. Dem konnte nicht einmal seine kleine untersetzte Statur Abbruch tun, vielmehr betonte er die Züge seines Kugelkörpers mit engen Anzügen, spitzen Designerschuhen und - Meta konnte sich bei diesem Anblick stets nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen - Einstecktüchern in Knallfarben. Man musste Rinzo allerdings zugutehalten, dass er tatsächlich einen hervorragenden Alleinunterhalter abgab, zumindest, wenn man selbst gern Stunde um Stunde eifrig nickend dasaß. Doch neben dem funkensprühenden Charme und unruhigen Geist, der von einer Idee zur nächsten sprang, besaß Rinzo auch klares Kalkül. Nach außen hin ließ er sich zwar als Kunstnarr feiern, aber Meta wusste nur allzu gut, dass es bei jedem Lob und jeder noch so unschuldig wirkenden Anspielung einen Hintergedanken gab. Rinzo war einfach ein großer Zirkusdirektor und hatte das Volk der Kunstliebhaber und solche, die Geld dafür ausgaben, fest im Griff.
Inzwischen fächelte sich Rinzo mit einem pistazienfarbenen Taschentuch Luft zu. Nach dem gesetzten Essen, das Meta bei einem französischen Restaurant um die Ecke bestellt hatte - Selbstgekochtes wäre eher ungnädig aufgenommen worden -, hatte man sich plaudernd ins Wohnzimmer zurückgezogen. Eine auf den ersten Blick bunt gemischte Gruppe mit unterschiedlichen Kleidungsstilen und Körperhaltungen. Da war der im Maßanzug steckende Rechtsanwalt Asam, der mit gelöster Krawatte auf dem Sofa lümmelte und mit seinem gerade geerbten Porzellan aus dem letzten Jahrhundert angab. Neben ihm seine Ehefrau Marie, die sich über hysterisch ehrgeizige Eltern im Kindergarten ihrer Tochter lustig machte, dabei jedoch den Anschein erweckte, als beschriebe sie sich selbst. Sue, ein in gelbe Seide gewickelter Kanarienvogel, der wieder einmal nur am Essen gepickt hatte, bis Meta vor lauter schlechtem Gewissen ihren eigenen Teller ignoriert hatte. Der Gedanke an ihre in den letzten Wochen unleugbar runder gewordenen Hüften setzte ihr ohnehin zu. Sie verbrachte eindeutig zu viel Zeit mit der stets von Leckereien umgebenen Rahel. Und dann war da noch Emma, die mit ihrer Jugendlichkeit und dem übergroßen Vintage-Kleid wie ein Fremdkörper in dieser Runde wirkte.
Doch der erste Eindruck täuschte: Die Menschen in Metas stilvoll eingerichtetem Wohnzimmer verband unendlich viel mehr miteinander, als sie trennte. Ähnliche Familien- und Bildungshintergründe, miteinander verwobene Freundeskreise, Vorlieben für dieselben Feriendomizile und Stadtviertel. Wahrscheinlich würden sie sogar ihren Kindern den gleichen Vornamen geben und trotzdem glauben, einen besonders individuellen Treffer gelandet zu haben. Schließlich waren sie allesamt peinlich darauf bedacht, ihre sorgsam inszenierte Einzigartigkeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit herauszustellen.
Einen verführerischen Augenblick lang gab Meta sich der Vorstellung hin, wie sie einen versteckten Hebel drückte, sich eine Luke im Boden auftat und das eifrig plappernde Volk kurzerhand darin verschwand. Dann könnte sie sich aufs Sofa fallen lassen und hemmungslos die Avocadocreme genießen. In dieser Vision fehlte nur noch jemand, der ihr den Rücken streichelte und einen wunderbar männlichen Duft verströmte.
Bevor Meta das Bild weiter ausmalen konnte, streifte Karls Ellbogen sie - er trug zwei geöffnete Champagner-Flaschen in den Händen und würdigte sie im Vorbeigehen keines Blickes. Meta rollte mit den Augen, dann folgte sie ihm.
Emma, die gegen die Wand gelehnt dastand und eine Zigarette rauchte, bedachte sie mit einem verschmitzten Lächeln. »Na, Meta, was machst du denn für ein Gesicht? War die Cracker-Marke falsch oder Karl zu schnell fertig?«
Weil sie schon so gut in Schwung war, lachte Eve am lautesten über die schlüpfrige Anspielung, während sie Metas Gesicht nach verräterischen Anzeichen abscannte, ob an Emmas Worten vielleicht etwas dran war. Nun, dachte sich Meta, die höflich lächelnd das Tablett auf einem der Beistelltische absetzte, was es braucht, um Eve erträglicher zu machen, ist kein Champagner, sondern ein kräftiger Schlag mit der Flasche gegen den Hinterkopf.
»Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass es dir eine perverse Form von Befriedigung verleiht, mich zu blamieren, Emma. Hat das irgendetwas mit einem Kleine-Schwester-Komplex zu tun? Du bist doch sonst immer so ein cooles Mädchen.« Mit diesen Worten schnappte Meta sich eine Handvoll Erdnüsse und setzte sich auf einen Fußschemel, den freien Platz neben Karl ignorierend.
Einen Augenblick lang herrschte angespanntes Schweigen - die Retourkutsche war anscheinend etwas zu persönlich ausgefallen. Außerdem passte sie wenig zu der für gewöhnlich so beherrschten Meta. Aber Emma schien sich nichts daraus zu machen. Sie ertränkte die aufgerauchte Zigarette in einem halbvollen Weinglas und setzte sich neben Karl, wobei ihr der Ausschnitt ihres Kleides gefährlich weit über die Schulter rutschte. »Lieber cool als zickig«, erklärte sie leichtfertig. Dann wandte sie sich Karl zu: »Ich möchte auch ein Glas Champagner, sonst prickelt hier ja gar nichts.«
Karl schüttelte den Kopf, als könne er so viel Dreistigkeit kaum ertragen, dennoch reichte er ihr ein Glas und schenkte ein.
Meta war schon versucht, Emma vorzuschlagen, woanders ihren Spaß zu suchen, wenn es ihr hier zu langweilig war. Aber während sie das salzige Aroma der Nüsse auf ihrer Zunge schmeckte, musste sie sich eingestehen, dass der Abend tatsächlich langweilig war. Als wolle er das Ganze unterstreichen, begann Asam, von seiner Suche nach einem ordentlichen Fitnessstudio, das zusätzlich einen Parkservice anbot, zu erzählen.
Voller Sehnsucht fixierte Meta ihr Weinglas, doch sie beherrschte sich. Den ganzen Abend über hatte Karl mit Argusaugen ihren Alkoholkonsum kontrolliert, als suche er nur nach dem Beleg, dass sie ohne seine stützende Hand durchs Leben taumelte. Nun wog Meta ab, was schlimmer sein mochte: dass Karl sie für eine verzweifelte Trinkerin hielt oder diesen Abend weiterhin nüchtern durchstehen zu müssen.
Was war nur los mit ihr? Diese Art von Geselligkeit hatte zwar nie Begeisterungsstürme bei ihr ausgelöst, aber sie hatte es stets als gegeben hingenommen, dass solche Abende zu ihrem Lebensstil gehörten. Allerdings hatte es ihr wesentlich mehr Vergnügen bereitet, auf Rahels Sofa zu sitzen und über das Leben zu schwadronieren.Vielleicht sollte man sich seine Freunde doch nicht nach Äußerlichkeiten aussuchen, dachte Meta düster. Inzwischen riss Rinzo die Unterhaltung wieder an sich, weil er der Auffassung war, dass Asams Stimme bereits eindeutig zu lang erklungen war.
»Deine Wahrnehmung ist eingerostet, mein Guter, weil du dich von frühmorgens bis spät in die Nacht nur mit deinen Rechtsanwaltskollegen und dieser schrecklichen Klientel umgibst«, erklärte er, rasch noch einen Cracker mit Champagner herunterspülend. »Nimm es mir nicht übel, aber Erbrecht … Das bringt nicht gerade die kreative Seite in einem Menschen zum Schillern. Schau mich an: Mein täglich Brot ist der Umgang mit Künstlern, Menschen, die es gewohnt sind, alles aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Das fordert immens, hält einen beweglich. Du verharrst, das ist dein Problem. Was du brauchst, ist Abwechslung, die wirkt Wunder.«
»Und das von einem Mann, der seit zwanzig Jahren nicht mehr die Stadt verlassen hat«, sagte Meta und erschrak selbst über die Abgeklärtheit, mit der sie ihre Gedanken aussprach.
Doch Rinzo schien unempfindlich für eine derartige Überführung. »Warum sollte ich? Diese Stadt ist perfekt, hier findet man einfach alles. Warum sollte ich also weggehen, wenn es die interessanten Mensch hierherzieht?«
»Wahrscheinlich hast du Recht, Rinzo.« Obwohl Meta genau wusste, dass sie sich auf dünnes Eis begab, konnte sie nicht an sich halten. »Du weißt ja immer, was spannend ist. Außerdem spielt sich alles, was dich interessiert, komplett hier in deiner Manege ab. Und wenn du woanders hingehen würdest, würdest du bestimmt nur die gleichen Leute treffen - weil du alles andere einfach ausblendest.«
»Sind wir ein wenig angefressen, meine Liebe?«, fragte Rinzo mit zusammengekniffenen Augen und war in diesem Augenblick alles andere als ein Zirkusdirektor voll kindlichem Elan.
Von der Wohnungstür ertönte ein Klingeln, aber bevor Meta die Chance nutzen und sich der anbahnenden Auseinandersetzung entziehen konnte, sprang Sue mit einem nervösen Lächeln auf. »Ich geh schon. Das ist bestimmt der Fruchtsalat, den das Le Frog vergessen hat zu liefern«, sagte sie und eilte davon, als handelte es sich um die letzte Möglichkeit, einer Feuersbrunst zu entgehen.
Rinzo, der sich von so etwas Profanem wie Türklingeln nicht beeindrucken ließ, strich mit den Fingern über seinen schmal getrimmten Schnurrbart. »Ich bin mir durchaus bewusst, dass deine persönliche Lage in der letzten Zeit etwas angespannt ist«, setzte er mit einem kurzen Seitenblick auf Karl an, den Ton schon wieder gemäßigter, als erteile er einen wohlwollenden Rat. »Aber du solltest dich deinem Liebesleid stellen, anstatt die festen Ankerpunkte in deinem Leben zu torpedieren und alles infrage zu stellen. Du verhärtest zusehends, weil du außerstande bist, schöpferisch mit dem Kummer umzugehen. Deshalb überträgst du dein Elend auf andere Bereiche deines Lebens, weil du mit einem Mal denkst, dort etwas ändern zu müssen. Glaub mir, dadurch wird alles nur schlimmer.«
Einen Moment lang blinzelte Meta verwirrt, dann meinte sie zu begreifen, was sich hinter Rinzos nur scheinbar spontan gehaltener Rede verbarg. »Nimmst du es mir etwa übel, dass ich eine eigene Künstlerin angenommen und auch verkauft habe?«
Von der Seite her ertönte ein verächtliches Schnauben - Eve hielt die versteckte Kritik an ihrem Herrn und Meister nicht eine Sekunde länger aus. Und so gern Rinzo auch das Wort führte, in diesem Fall überließ er seine Verteidigung lieber jemand anderem.
»Mal abgesehen davon, was diese provinzielle Kunst, die du angeboten hast, für den Ruf der Galerie bedeuten mag, ist dieses neue Gehabe von dir wohl eher Ausdruck einer vorgezogenen Midlife-Crisis. Es gelingt dir nicht, deinen Partner zu halten. Der Job, der nun einmal komplett deinen beschränkten Fähigkeiten entspricht, befriedigt dich nicht mehr. Du verletzt Menschen, mit denen du seit Jahren befreundet bist und die nur dein Bestes wollen. Außerdem hast du eindeutig zugenommen - ein sicheres Zeichen dafür, dass es dir schlecht geht.« Eve wiegte voller gespielter Traurigkeit den Kopf hin und her. Dann blickte sie zu Karl, der den Schlagaustausch mit einem solchen Interesse verfolgt hatte, dass es ihm nicht einmal gelungen war, Pikiertheit vorzutäuschen. »Karl, du solltest langsam einen Schlussstrich unter das ganze Elend ziehen. Bitte nimm Meta zurück, ja?«
Meta klappte der Unterkiefer nach unten. Fassungslos beobachtete sie, wie Karl den Blick senkte, um ein zufriedenes Lächeln zu verbergen. Zweifellos waren Eves Worte nach seinem Geschmack.Wahrscheinlich fand auch er es an der Zeit, dass seine widerspenstige Exfreundin einmal kräftig gedemütigt wurde, damit sie sich wieder schön brav fügte.
Bevor Meta auch nur ansatzweise ihre Sprache wiederfand, brach Emma in schallendes Gelächter aus. »So ein Blödsinn«, brachte sie atemlos hervor, um sogleich wieder von einer Lachsalve geschüttelt zu werden.
Meta wollte schon in das Lachen einstimmen, da drang Sues vom Auktionshaus gestählte Stimme zu ihr durch. »Hier ist … Besuch.« Das letzte Wort sprach Sue wie eine Frage aus.
Einen Schritt hinter Sue, die nervös ihre Hände aneinanderrieb, stand David. Ein ausgesprochen verwahrlost aussehender David in einer fleckigen Kapuzenjacke und zerschlissenen Jeans. Sein Haar war zerzaust, aber nicht auf eine lässige, beabsichtigte Weise. Unter seinen Augen zeichneten sich tiefe Schatten ab, die das Blau der Iris unnatürlich stark zum Leuchten brachten. Der dunkle Dreitagebart verlieh ihm etwas Verwildertes.
Zu ihrem Entsetzen bemerkte Meta mehrere Prellungen, die sich unter der braunen Haut abzeichneten. Marie beugte sich gerade vor, um besser sehen zu können, und ihre bestürzte Miene verriet, dass ihr die Verletzungen ebenfalls nicht entgingen. Die gesamte Gesellschaft starrte ihn mit hemmungsloser Neugierde an.
David ertrug die prüfenden, leicht fassungslosen Blicke ohne sichtbare Regung. Er stand einfach nur da, die Schultern herabhängend, als empfinde er eine tiefe Erschöpfung, die ihn gegen sämtliche Eindrücke immun machte. Seine Augen bestätigten diesen Eindruck, denn ganz gleich, wie sehr sie auch strahlen mochten, in ihnen herrschte eine kaum erträgliche Leere.
Mein Gott, was ist nur geschehen?, schoss es Meta durch den Kopf, und mit einem Schlag war sie auf den Beinen und lief zu David, der ihren Blick erst erwiderte, als sie dicht vor ihm stehen blieb. Sue nutzte die Gelegenheit und kehrte zu der Gruppe zurück.
David schluckte einige Male sichtbar, dann sagte er: »Tut mir leid, dass ich hier einfach so auftauche.« Unsicher hob er die Hand, und einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er ihr Gesicht berühren. Doch dann verharrte er mitten in der Bewegung. »Ich sollte besser wieder gehen.«
Meta wollte zu einer energischen Entgegnung ansetzen, ihm ohne Umschweife sagen, wie froh sie war, ihn zu sehen. Aber etwas an David war anders, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, so dass sie lediglich ein schwaches Kopfschütteln zustande brachte.Trotzdem schien er in diesem Raum die einzige wirklich existierende Person zu sein, und ihm wohnte eine Strahlkraft inne, die Meta unweigerlich anzog. Nur mit großer Mühe gelang es ihr, die Fassade zu wahren und sich nicht auf ihn zu stürzen, damit sie mit ihm verschmelzen konnte.
Rinzo, der dazugetreten war, nutzte den Moment allgemeinen Schweigens.
»Einer von deinen neu entdeckten Künstlern?«, fragte er überschwänglich. Es war allerdings auch der Hauch von Hoffnung herauszuhören, dass der junge Mann sich als etwas viel Delikateres herausstellen könnte.
»Hungrig?« Jovial legte er David eine Hand auf die Schulter, der ihn aus den Augenwinkeln ansah. Rinzo zog die Hand mit einer Schnelligkeit zurück, als habe ihn etwas gebissen. Auf seinen Gesichtszügen spiegelte sich plötzlich ungewohntes Unbehagen, und er trat einen Schritt zurück.
»David, bist du überfallen worden?« Die eigene Stimme klang hohl in Metas Ohren. Sie wünschte sich inniglich, alle anderen würden sich einfach erheben und kommentarlos ihre Wohnung verlassen. Nur würde ihr niemand diesen Gefallen tun. Dieser zerschlagene junge Mann hatte mit seinem Auftritt gerade den Abend gerettet, und wenn es richtig gut lief, würde man noch Wochen später ein aufregendes Gesprächsthema haben.
David presste kurz die Augen zusammen, als versuche er, sich zu konzentrieren und eine Antwort abzuwägen.Aber sein erschöpfter, leerer Blick sagte Meta, dass er keine beruhigende Ausrede vorbringen konnte. Überrascht stellte sie fest, dass sie genau darauf gehofft hatte. »Nicht direkt ein Überfall, aber etwas in der Art. Ich sollte die nächste Zeit besser nicht mehr in meiner Wohnung vorbeischauen. Ehrlich gesagt, werde ich das ganze verdammte Viertel meiden.«
Obwohl David - wie es seiner Art entsprach - leise gesprochen hatte, hatte Karl auf dem Weg zu ihnen offensichtlich alles verstanden. »Wenn Sie überfallen worden sind, sollten Sie eiligst die Polizei aufsuchen.« Karl hielt sich unnatürlich gerade, als wolle er mit dem jüngeren Mann vor sich auf einer Augenhöhe sein. Doch obgleich David sichtlich in sich zusammengesunken dastand, überragte er Karl gut um einen halben Kopf. Karl hätte in Davids Schatten verschwinden können. Vermutlich verstärkte diese Unterlegenheit auch seine Abneigung gegenüber dem unerwarteten Besuch, denn als er weitersprach, war seine Stimme eine Tonlage tiefer. »Außerdem - wenn Sie sich immer noch in Gefahr glauben, ist es keine besonders gute Idee, hier bei Meta aufzutauchen. Nicht, dass wer auch immer sich mit Ihnen angelegt hat, plötzlich vor ihrer Tür steht.«
Einen Moment lang musterte David Karl mit wenig Interesse, und als er sprach, sah es so aus, als koste es ihn einiges an Überwindung, dem sichtlich aufgebrachten Mann überhaupt eine Antwort zu geben. »Das wird kaum passieren. Metas Wohnung liegt außerhalb ihres Reviers.«
Karl legte die Stirn in Falten und versuchte sich an einem abfälligen Lachen, das jedoch nur seine Verunsicherung verriet. »Revier? So ein paranoider Blödsinn. Haben Sie heute Morgen vielleicht vergessen, Ihre Medikamente einzunehmen?«
Rinzo, der sich erstaunlich lange zurückgehalten hatte, mischte sich wieder in die Unterhaltung ein. Allerdings hielt ihn die Wirkung von Davids Blick weiterhin auf Abstand. »Revier - das ist so eine Art Gangslang, nicht wahr? Wusste gar nicht, dass wir Gangs in unserer Stadt haben. Vielleicht im Untergrund. Mögen Sie Graffiti?«
Da die Situation langsam ins Obskure abzugleiten drohte, riss sich Meta aus der Gebanntheit, mit der sie auf Davids unerklärliche Anziehungskraft reagierte. Zwar stand David im Moment noch wie betäubt da - selbst der Salonblödsinn, den Rinzo vor lauter Nervosität von sich gab, schien nicht zu ihm durchzudringen. Aber sie befürchtete, er könne sich unvermittelt umdrehen und gehen, wenn sie ihm nicht rasch einen Grund zum Bleiben anbot. Will ich denn überhaupt, dass er bleibt?, fragte sie sich dann und zögerte. Da hob David eine Hand hoch, um sich über den Nacken zu streifen, und Meta vergaß angesichts dieser Geste sämtliche Zweifel. Die Art, wie er sich bewegte - verhalten, aber mit einer unbewussten Anmut -, sorgte dafür, dass sich ihre Lippen von selbst bewegten: »Zieh doch deine Jacke aus und setz dich zu uns.«
Einen grausamen Augenblick lang reagierte David nicht auf ihre Worte. Sie befürchtete schon, zu spät gesprochen zu haben, da öffnete er den Reißverschluss der Kapuzenjacke und streifte sie sich von den Schultern. In diesem Moment bereute Meta bereits ihre Aufforderung. Das hellgraue T-Shirt, das zum Vorschein kam, war nicht nur zerknittert, sondern wies unzählige braune Stellen auf. Einige fein wie Funkenregen, andere großflächig. Der gesamte Saum war verfärbt und stand steif ab. Etwas Zähes war in den Stoff eingedrungen und hatte ihn hart werden lassen. Metas Instinkt flüsterte ihr zu, dass von dem T-Shirt ein schwerer Geruch ausging, der sie vermutlich an Kupfer erinnern würde, wenn David nicht stets von diesem betörenden Duft umgeben wäre. Ein Blick auf seine Jeans zeigte zwar keine weiteren Flecken, aber das mochte daran liegen, dass sie zu dunkel war.
Auch Karl schien eine ähnliche Vermutung durch den Kopf zu gehen, denn er erbleichte. Meta presste ihre Zähne so fest aufeinander, dass der Druck bis unter die Schädeldecke spürbar war. So, wie die Flecken auf dem T-Shirt aussahen, dürfte das Blut David nicht einfach aus der eigenen Nase gelaufen sein.
David bekam von ihrer Beklemmung nichts mit, denn er rieb sich ausgiebig die vor Übermüdung geschwollenen Augenlider. An seinem Unterarm prangte dunkel eine verschorfte Bisswunde auf. Erst dann warf er einen Blick auf die Gesellschaft, die sich hinter Metas Rücken verbarg. Fünf schamlos neugierige Augenpaare stierten ihn an.
Da knurrte der Wolf in David. Es war ein tiefes Hallen, das nichts mit der Drohgebärde eines echten Wolfes gemeinsam hatte. Es war kein Geräusch, das von Schallwellen zum Trommelfell getragen wurde. Nein, es hatte einen viel unheimlicheren Ursprung. Es grub sich direkt ins Stammhirn und rief jene uralten Fluchtreflexe wach, die in der modernen Gesellschaft zusehends verkümmerten. Der Wirkung dieser Drohgebärde vermochte sich niemand zu entziehen. Einen Augenblick später versammelten sie sich zu einer Gruppe, in der ein jeder sich am liebsten hinter dem anderen versteckt hätte. Allerdings wagte es niemand, durch den Flur an David vorbeizugehen. Mochte der Drang, sich in Sicherheit zu bringen, noch so stark sein, niemand wollte das Raubtier unnötig provozieren.
Nur Meta war gegen diese Drohgebärde immun, hatte sie nicht einmal als solche erkannt. In ihren Ohren wohnte dem Knurren etwas Trostloses inne, das einer tiefen Verzweiflung entsprang. Und dieses Gefühl war so stark, dass Meta kaum wusste, wie sie darauf reagieren sollte. Sie verspürte nur das diffuse Bedürfnis, David Trost zu spenden. Eine zärtliche Geste würde dafür nicht ausreichen, aber alles in ihr drängte darauf, ihm endlich beizustehen. Nur das Wie war Meta schleierhaft.
Obwohl ihr der Schrecken deutlich anzusehen war, löste sich Eve aus der Gruppe, fegte am regungslosen David vorbei und ging hinter Rinzo in Deckung, der den jungen Mann wie ein überaus interessantes Objekt studierte. Währenddessen hatte Karl seine Beherrschung wiedergefunden und umfasste Metas Oberarm, um sie von dieser furchteinflößenden Kreatur fortzuziehen. Da erst streifte David seine Benommenheit ab. Mit einem Schlag straffte er die Schultern und neigte den Kopf zur Seite. Die Augen waren dabei auf Karls Hand gerichtet, und in ihnen flackerte etwas auf, das die Wirkung des seltsamen Knurrens bei weitem überstieg.
Meta wusste ohne Zweifel, dass er es nicht bei einer Drohgebärde belassen würde, wenn sie nicht sofort etwas unternahm. »David«, sagte sie mit einer Bestimmtheit, dass sie beinahe selbst vor lauter vorauseilendem Gehorsam zusammengezuckt wäre. »Dort ist mein Schlafzimmer. Geh da rein und leg dich schlafen. Ich verabschiede jetzt meine Gäste.« Ohne seine Reaktion abzuwarten, wandte sie sich Karl zu, wobei sie seine Hand behutsam von ihrem Arm löste. Dann schob sie den blassen, aber auch zornig aussehenden Mann zu Rinzo und Eve hinüber.
Einen Moment lang stand David verblüfft da, dann drehte er sich um und ging zu dem Zimmer, auf das Meta gedeutet hatte. Als er die Tür hinter sich schloss, stieß Asam ein nervöses Kichern aus. »Der ist nicht ganz zurechnungsfähig, oder?«
»Ihm ist irgendetwas Schreckliches zugestoßen, das müsst ihr doch bemerkt haben.« Zu Metas Unglück war die Selbstsicherheit so unvermittelt aus ihrer Stimme verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Nun fühlte sie sich bloß müde und verwirrt und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sich die Gesellschaft ohne jeden Kommentar verabschiedete.
»Der Kerl hat uns angeknurrt!«
»Ach, komm schon,Asam. David wollte euch nur schockieren, weil ihr ihn wie ein exotisches Tier angestarrt habt.«
»Was er ja wohl auch ist«, ließ Emma vom Sofa her vernehmen, wo sie sich gerade erneut Champagner nachschenkte. Mit einem überlaufenden Glas kam sie zu den anderen hinüber, sichtlich beglückt über die spektakuläre Wendung, die dieser Abend genommen hatte. Offensichtlich hatte Davids Drohgebärde sie eher erregt als abgeschreckt. Hastig leckte sie das Rinnsal von ihrem Handrücken. »Hast du was dagegen, wenn ich einen Abstecher ins Schlafzimmer unternehme und feststelle, ob er auch knurrt, wenn man ihm den Bauch krault?«
Doch bevor Emma sich an ihrer Schwester vorbei in Richtung Schlafzimmertür aufmachen konnte, hatte diese sie so kräftig beim Oberarm gepackt, dass Emma empört aufkreischte. Trotzdem gab Meta nicht nach. »Für heute Abend habe ich genug von deinen Unverschämtheiten«, sagte sie mit Nachdruck in der Stimme.
»Kein Interesse daran, schwesterlich zu teilen?« Obgleich Emma sich um ein aufgesetztes Augenplinkern bemühte, stellte sie ihr Champagnerglas auf einer Konsole ab. Metas Reaktion hatte sie wohl doch mehr beeindruckt, als sie einzugestehen bereit war.
Meta wollte gerade zu einer passenden Replik ansetzen, da sagte Eve mit nachdenklich zusammengezogenen Augenbrauen: »Ich weiß, wer das ist: dieser unverschämte Typ aus der Galerie, der seine eigene Erektion als Geschenk für dich gemalt hat. Einer von deinen Künstlern.« Dabei sprach sie das Wort Künstler aus, als handle es sich dabei um etwas Abstoßendes. »Habt ihr beide diesen Auftritt eben geplant, war das irgendeine Art von Performance?«
Rinzo blinzelte sie begeistert an, aber Meta schüttelte den Kopf. Im nächsten Moment hätte sie sich ohrfeigen können, weil sie diese Einladung zu einer eleganten Ausrede einfach in den Wind schlug.
»Wenn er kein Künstler ist, was und wer ist er dann?«, fragte Karl mit so lauter Stimme, dass Meta befürchtete, David könne gleich wieder in der Tür auftauchen, wach gerufen vom Zorn, der in der Frage mitschwang.
»David ist …«, versuchte Meta sich an einer Antwort, kam jedoch nicht weiter. Sie spürte die Blicke der anderen auf sich, ahnte, was ihnen durch den Kopf ging.Was sollte sie tun? Eine Lüge wollte ihr einfach nicht über die Lippen kommen, dafür empfand sie zu viel für David, und ihr Schweigen wussten die anderen ohnehin zu deuten.
Karl schnaufte verächtlich. »Okay, das erklärt einiges. Das ganze Gerede über die Leere unserer Beziehung war nichts weiter als eine billige Hinhaltenummer. Du vögelst mit diesem Hengst herum, während ich mir den Kopf zerbreche, wie ich dich zurückgewinnen kann. Geht es dir um Rache, ist es das? Willst du mir beweisen, dass du immer noch begehrenswert bist? Ist der Kerl deshalb so jung?«
Meta spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Nie hätte sie Karl eine solche Gemeinheit zugetraut, auch wenn sie seine Selbstherrlichkeit ja kannte. Die Schadenfreude, die sie in den Gesichtern der anderen sah, machte ihr die Entscheidung leichter. »David ist ein ruhiger und zugleich aufregender Mann. Dass ich ihn heute Nacht nicht wegschicke, da er verletzt und durcheinander ist, liegt bestimmt nicht allein an seinen Qualitäten als Liebhaber.«
»Dein David ist ein mit Blut bespritzter, knurrender Irrer. Und ich habe mich vor dir im Staub gewälzt, weil ich eine Affäre mit Reese Altenberg eingegangen bin. Dabei hat Reese im Gegensatz zu diesem Knaben Stil, zumindest ist sie imstande, die zivilisatorischen Grundregeln zu befolgen. Oder liegt der Reiz bei diesem David genau darin, dass er sich wie ein Tier aufführt?«
Solange er gesprochen hatte, hatte Karl Meta wutentbrannt angestarrt, und sie hatte fast damit gerechnet, dass er zum Abschluss vor ihr auf den Boden spucken würde. In diesem Moment brach sie endgültig mit dem Mann, von dem sie einmal geglaubt hatte, er gehöre an ihre Seite. Und auch das ganze Theater, das ihre angeblichen Freunde an diesem Abend veranstaltet hatten, war ihr zuwider. Entgegen der jahrelangen Gewohnheit legte Meta ihre stets höfliche Maske ab und zeigte ihre Abneigung unverhüllt, als sie Karls Blick erwiderte.
Offensichtlich hatte er mit einer anderen Reaktion gerechnet. »Keine Erklärung?«
»Nein. Ich möchte, dass du jetzt gehst.Wir sind miteinander fertig.«
Karl stemmte die Hände in die Hüfte und ließ den Kopf hängen.Dann ging er schnurstracks zur Garderobe und schnappte sich seinen Mantel.An der Wohnungstür blieb er noch einmal stehen, während die anderen sich knapp bei Meta verabschiedeten, bevor sie ihm folgten. Nur bei Emma sah es einen Moment lang so aus, als könnte sie sich nicht recht zum Aufbruch entscheiden. Abwägend musterte sie ihre Schwester, hielt sich den Oberarm an der Stelle, wo Meta gerade erst fest zugepackt hatte, und hakte sich dann bei Karl unter, was dieser kaum zu bemerken schien.
»Vielleicht bereue ich später, was ich jetzt sage«, begann Karl, wobei seine Oberlippe bebte. »Melde dich bei mir, wenn du dich mit diesem Burschen ausgetobt hast. Dann sehen wir weiter.«
Meta stand mit vor der Brust verschränkten Armen da, noch lange nachdem sich die Tür hinter einem neugierig zurückblickenden Rinzo geschlossen hatte.Vermutlich hätte er noch etwas zu sagen gehabt, wenn Eve ihn nicht mit der ihr eigenen Resolutheit fortgezogen hätte. Meta zitterte vor Anspannung, unschlüssig, was sie denken, empfinden und gar als Nächstes tun sollte. Der Bruch, den sie soeben willentlich herbeigeführt hatte, forderte seinen Tribut. Schließlich kam ihr ein tiefes Sehnen zu Hilfe, von dem sie wusste, dass dessen Erfüllung ganz nah war: Der Gedanke an Davids warme, wohlriechende Haut machte das Zerwürfnis vergessen. Vor Metas innerem Auge flackerte die Vorstellung auf, wie sie sich an seinen schlafenden Körper schmiegte und sich treiben ließ, bis sie ebenfalls eingeschlafen war.
Ehe ihr die Vernunft etwas zuflüstern konnte, das sie hätte zögern lassen, betrat sie das Schlafzimmer. Der Raum lag im Dunkeln, doch Meta hätte problemlos mit Hilfe ihrer Nase den Weg zum Bett finden können. Die vertrauten Gerüche ihres Schlafzimmers - eine Mischung aus Puder und Rosen - hatten sich wundersam mit Davids Duft vermischt. Als ihre Finger den Lichtschalter der Nachttischlampe ertastet hatten, zögerte Meta einen Moment lang, dann drückte sie ihn hinunter. Im dämmerigen Licht lag David bäuchlings ausgestreckt auf der Bettdecke. Offensichtlich hatte er sich lediglich die Schuhe abgestreift, bevor er in einen tiefen Schlaf versunken war, das Gesicht in ihren Kissen vergraben.
Lautlos schlüpfte Meta aus Tunika und Wäsche, streifte sich ein Nachthemd über und verschwand mit einem Lächeln im Badezimmer.
Als sie wenig später neben dem Bett stand, wusste sie zuerst nicht, was sie davon abhielt, sich einfach neben ihn zu legen. Schließlich wurde ihr klar, dass David immer noch das blutverschmierte T-Shirt trug, auch wenn auf der Rückseite lediglich einige bräunliche Schlieren zu sehen waren. Es war ihr unmöglich, auch nur in die Nähe dieses Stoffes zu geraten, als stünde er für etwas Schmutziges, das auf sie überspringen würde, wenn sie ihm zu nahe kam. Behutsam kniete sie sich auf die Matratze und versuchte, das T-Shirt mit spitzen Fingern hochzuschieben. Doch David erwies sich als zu schwer.
Während Meta unschlüssig am Saum zupfte, zuckte er mit einem Mal leicht zusammen und sagte entrüstet: »Lass das.« Dabei griff er sich in den Nacken, als habe ihn dort etwas gepackt. Augenblicklich zog Meta die Hände zurück. Eine seltsame Berührung schien sie gestreift zu haben, bei der sich sämtliche Härchen auf ihren Unterarmen aufstellten. Langsam richtete David sich auf und blinzelte sie an. »Dich meine ich nicht«, sagte er schlaftrunken und rieb sich die Lider, als könne er sie nur mit Gewalt dazu zwingen, offen zu bleiben.
Eigentlich hätte Meta nachfragen wollen, wen er denn dann gemeint hatte. David machte jedoch den Eindruck, vor Übermüdung gleich wieder einzuschlafen, darum fragte sie nur hastig: »Ziehst du dein T-Shirt aus?«
Mit einem leisen Murren zog David es sich über den Kopf. Meta sah lilafarbene Prellungen an Rippenbogen und Schulter, die schwarzen Spuren von Handabdrücken auf seinem Oberarm - aber als David ihr ein erschöpftes Lächeln schenkte, erwiderte sie es und schob die unzähligen Fragen, die ihr durch den Kopf schossen, beiseite. Kaum hatte er sich auf den Rücken gelegt, kuschelte sie sich an seine Seite und bettete den Kopf auf seiner Brust, tunlichst darauf bedacht, die Schwellung unterhalb des Schlüsselbeins nicht zu berühren. »Ich wünsche dir eine schöne Nacht«, sagte sie leise, doch David war bereits eingeschlafen.