Kapitel 18
Asyl
Er hätte Maggie einfach anrufen können, so wie er es beim letzten Mal getan hatte. Sie höflich um eine Audienz bitten. Doch diese Vorgehensweise fühlte sich falsch an, schließlich war er längst ohne Erlaubnis in ihr Revier eingedrungen. Dass Maggie noch nicht ein paar von ihren Handlangern vorbeigeschickt hatte, um David persönlich mit der Nase auf die Grenzlinie zwischen den Revieren zu drücken, zeigte deutlich: Sie duldete ihn hier, und diese Duldung würde ihn einiges kosten, da war er sich sicher.
Kaum konnte er in seine leidlich gewaschenen Sachen steigen, brach David auf. Schon auf dem Weg durch den Hausflur prüfte er erst einmal, ob auch keine anderen Bewohner unterwegs waren - deren unabdingbar skeptische Mienen wollte er sich gern ersparen. Er konnte sich bestens vorstellen, wie wenig vertrauenerweckend er in seiner zerrissenen Kleidung und den mittlerweile blau-grünlich verfärbten Blutergüssen im Gesicht aussah. Zwar war er es gewohnt, dass sein Gesicht Spuren von Gewalt verriet, aber in seinem eigenen Viertel fiel er damit nicht weiter auf.
Als er nun die Vorhalle des Hauses verließ und in die blasse Mittagssonne trat, die das letzte verfärbte Laub der Kastanien aufleuchten ließ, empfand er sich selbst als Fremdkörper. Metas Wohnung lag in einem begehrten Wohnviertel, dessen Häuser zwar einige Stockwerke maßen, aber mit ihren aufwendig inszenierten Fassaden etwas Heimeliges ausstrahlten. Allein, dass es alten Baumbestand gab, ließ die Preise wahrscheinlich ins Unermessliche steigen. Außerdem war es von hier aus nicht sonderlich weit bis zur City, wo die meisten Bewohner zweifelsohne ihren Tagesgeschäften nachgingen.
Obwohl die Wege entlang der schönen Häuser zu einem Spaziergang einluden, befand sich außer David niemand auf der Straße.Wie auch in anderen Stadtteilen hasteten die Menschen lediglich von ihrer Wohnungstür zum Wagen oder noch rascheren Schrittes zur nächsten öffentlichen Haltestelle. David wusste auch, woran das lag. Er hatte es Jannik einmal erklärt, der in dieser Stadt geboren war und niemals einen Fuß über ihre Grenzen gesetzt hatte, so dass er diese Gehetztheit für normal hielt.
»Die Menschen hier sind immer auf der Flucht. Selbst in Saschas Revier in der Nähe der Ausgehmeile treiben sie sich im Pulk herum, und nur Betrunkene entfernen sich von der Herde«, hatte David seinem Freund erläutert, als sie wieder einmal auf den Stufen des Palais herumlungerten. »Eine Stadt wie diese sollte doch eigentlich von einer Schar von Obdachlosen und fliegenden Händlern belagert sein. Ist sie aber nicht. Auf den Straßen findest du nur Verrückte oder solche, denen nichts anderes übrigbleibt. Und sogar von denen nur wenige, wenn du einmal darüber nachdenkst.«
»Wenn Hagen durch die Straßen streift, wird sein Wolf wohl kaum darauf verzichten, eine leichte Beute zu schlagen«, hatte Jannik mit geschwollener Brust geantwortet. Es gefiel ihm, sich mit den Taten seines Anführers zu schmücken, solange niemand etwas Ähnliches von ihm erwartete.
David hatte ihn abwartend angesehen und erst weitergesprochen, als klarwurde, dass Jannik den Kern seiner Worte nicht erfasste. »Die Menschen in dieser Stadt spüren die Anwesenheit des Dämons«, hatte er ruhig erklärt und überhörte Janniks Einwurf: »Der Wolf ist doch kein verdammter Dämon.« »Ihr Instinkt verrät ihnen, dass etwas Bedrohliches, etwas Unnatürliches unterwegs ist. Wer seine fünf Sinne einigermaßen beisammenhat, achtet darauf, sich möglichst wenig im Freien aufzuhalten, dort, wo die Raubtiere unterwegs sind. Hast du dich denn noch nie gefragt, warum wir alle mehr oder weniger davon abhängig sind, dass Hagen für uns sorgt?«
Jannik hatte stumm den Kopf geschüttelt und dabei nicht unbedingt den Eindruck erweckt, als wolle er die Antwort wirklich wissen.
»Weil wir in der normalen Welt nur schwerlich Fuß fassen. Wer will schon ein Auto von jemandem kaufen, dessen Anblick ihm einen Schauer über den Rücken jagt? Oder einen Handwerker in sein Haus lassen, der offensichtlich mit dem Gedanken spielt, dir den Kopf abzureißen, weil er deine Angst wittern kann? Ich weiß, darüber wird im Rudel nicht groß gesprochen, weil niemand sich sonderlich für die Welt dort draußen interessiert, solange Hagen sagt, wo es langgeht. Aber es ist nicht zu übersehen, dass die Menschen uns meiden. Es ist, als könnten sie an deinem Geruch erkennen, wer du in Wirklichkeit bist: ein verkleideter Wolf, der sich unter Schafe gemischt hat.«
Obwohl Jannik sich sichtlich wand, hatte David nicht innegehalten. Von seinen eigenen Worten war eine bittersüße Faszination ausgegangen, weil sie ihm die aussichtslose Lage vor Augen führten. »Vielleicht geht der eine oder andere Mensch auf uns zu, doch spätestens wenn sie das erste Mal eine Schwäche zeigen und der Wolf reagiert, ziehen sie sich zurück.Warum glaubst du, haben die meisten von uns nur selten Kontakt zu ihren Familien? Weil es nichts Schlimmeres gibt, als in den Augen der eigenen Familie Furcht zu sehen.«
Nach diesem Satz war David verstummt, eingeholt von der eigenen Vergangenheit. Sein Schweigen hatte bewirkt, dass Jannik sich rasch wieder erholte und sogar ein zittriges Lächeln aufgesetzt hatte. »Ich kenne mich vielleicht nicht besonders gut aus mit Familiendingen, weil ich im Heim aufgewachsen bin. Aber wer braucht schon Familie, wenn er ein Rudel hat?«
Diese Frage hallte David nun durch den Kopf, als er die Wohnhäuser hinter sich ließ und einen ummauerten Stadtpark betrat. Obwohl der Park in einem Knotenpunkt des Viertels lag, sah er verlassen aus. Die mit feinem Kiesel ausgelegten Wege verwilderten, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Blumenbeete für den herannahenden Winter abzudecken. Ohnehin gab es nur wenige von ihnen, Buschwerk und Baumriesen machten den Großteil des Parks aus - ein vergessenes Wildgehege mitten in der Großstadt.
Eigentlich sollte man meinen, dass sich die beiden mächtigen Rudel der Stadt um diesen verwilderten Flecken Erde rissen, aber tatsächlich überließen sie Maggie den Park nur allzu gerne. Während er noch darüber nachdachte, meldete sich der Wolf, der sich den ganzen Morgen über still verhalten hatte, und versuchte eindringlich, durch Davids Augen auf die aus Astwerk und Schatten bestehende Welt zu blicken. Da begriff David, dass das Desinteresse an dem Park an den Anführern lag: Sowohl Hagen als auch Sascha bevorzugten die Jagd, die für Stärke und Macht stand. Dafür brauchten sie die Stadt. Jeder Anführer, der seine Schar wie eine Horde williger Untergebener leitete, brauchte die Stadt.
Die Erde duftete schwer nach dem nächtlichen Regenschauer. Und auch von dem gefallenen Laub ging ein würziger Geruch aus, der jedoch nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass hinter den alten Eichen etwas Gefährliches lauerte.
Ein Rudel kann man genauso schwer wechseln wie seine Familie, hieß es. David hatte bereits seine Mutter und zwei Geschwister hinter sich gelassen, als seine Kindheit sich dem Ende zugeneigt und der Wolf sein Recht geltend gemacht hatte. Außerdem hatte er einen Ziehvater verloren, der ihm zwar vieles angetan, aber auch etwas geschenkt hatte. Nun hatte er mit seinem Rudel gebrochen.Trotzdem fühlte er sich zum ersten Mal in seinem Leben nicht wie ein von allen Bindungen losgerissener Niemand, der unfähig war, eigene Entscheidungen zu treffen. Er wusste genau, was er wollte, und er würde es durchsetzen, ganz gleich, was Maggie davon halten mochte. Nur der nagende Gedanke, dass Meta entdecken könnte, was er wirklich war, machte ihm zu schaffen. Doch jedes Mal, wenn dieser verstörende Gedanke Form annahm, vernahm David in sich ein beruhigendes Grummeln, als gäbe der Wolf ihm das Versprechen, dass dies nicht geschehen würde. Und unbegreiflicherweise glaubte David ihm.
Die wartenden Gestalten, die hinter einem eingefallenen Pavillon saßen, hatte David bereits bemerkt, bevor er ihrer ansichtig wurde. Die Macht des Wolfes war mit Mathols Tod zwar größer geworden, aber David war noch nicht richtig in der Lage, mit den neuen Gaben umzugehen. Deshalb konnte er aus den Spuren, die der Wolf wahrnahm, keine rechten Schlüsse ziehen. Er spürte bei den verborgenen Rudelmitgliedern lediglich eine aggressive Form von Anspannung, die von einem stärkeren Willen im Zaum gehalten wurde.
Als er um die Ecke trat, stieß eine junge Frau mit stacheligem Kurzhaarschnitt vor Überraschung einen Schrei aus. Doch sie entspannte sich augenblicklich wieder, als ihr Begleiter sich ohne Hast erhob. Da ihr Wolf nur eine schwache Präsenz - ähnlich wie bei Jannik - aufwies, richtete David seine Aufmerksamkeit auf den massigen Mann, der nun reglos dastand. Er erkannte in dem stoischen Gesicht Maggies Gefährten aus dem Bistro wieder: Anton. Dem bereitete Davids unvermittelter Auftritt anscheinend nur wenig Sorge.
Ein wenig abseits stand ein Mann, der ungefähr in Davids Alter sein mochte. Von der Statur her eher unscheinbar, in dunkle Stoffe gekleidet - aber all dies täuschte nicht darüber hinweg, dass er der Quell jener Angriffslust war, die David ausgemacht hatte. Das halblange Haar hing ihm ins Gesicht, schien ihn jedoch nicht daran zu hindern, David gründlich zu mustern. Etwas zu gründlich, fand Davids Wolf und meldete sich mit einem Scharren an den inneren Grenzen. Einen Augenblick lang fühlte David sich versucht, dem Drängen des Wolfes nachzugeben, aber er riss sich zusammen. Er hatte sich noch nie viel aus diesem albernen Kräftemessen gemacht, und er würde bestimmt nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen.
»Mein Sohn Tillmann«, erklang Maggies Stimme direkt hinter ihm, so dass er erschrocken herumfuhr und beim Anblick der Rudelführerin einige Schritte zurückstolperte. »Es freut mich, dass du dich dagegen entschlossen hast, ihn zur Begrüßung anzufallen.«
Einen Moment lang presste David den Handrücken gegen seine Lippen, dann setzte er ein brüchiges Lächeln auf. »Hallo, Maggie. Das ist ja wirklich eine vorbildliche Einkreisung, wie aus dem Lehrbuch.« Dabei fand er die Tatsache, in eine Falle getappt zu sein, wenig belustigend.
»Wenn ich geahnt hätte, wie sehr der Wolf in dir zu Kräften gekommen ist, dann hätte ich dich in eine unserer Erdgruben getrieben.« Auch Maggie sah nicht so aus, als stimme ihr Treffen sie froh. Auf bedrohliche Weise übertrug sich ihre Stimmung auf ihre Begleiter. David konnte spüren, wie sich die Anspannung in ihren Körpern aufbaute. Nicht einmal Anton schien sich diesem Zugzwang widersetzen zu können, obwohl er erst zum Handeln neigte, wenn es sich wirklich nicht mehr vermeiden ließ.
»Es wundert mich, dass Hagen dich hat gehen lassen«, fuhr Maggie fort. »Es kräftigt den Wolf unendlich mehr, jemand Ranghöheres zu schlagen, als menschliche Beute zu reißen. Hagen sollte das eigentlich wissen, schließlich verdankt er dieser Tatsache seinen Rang als Anführer.«
Maggie war eine außergewöhnlich große Frau, auch wenn sie nicht Davids Höhe erreichte. Dabei war sie hager und schmal gebaut. Doch das täuschte nicht über die Macht hinweg, die sie ausstrahlte. Zu seinem Erstaunen nahm David diese Präsenz mehr als je zuvor wahr. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass sie eine geborene Anführerin war und weder er noch sein Wolf den geringsten Zweifel an ihrem Anspruch hegten - ganz anders als bei Hagen.Vielleicht lag das auch daran, dass Maggie es nicht nötig hatte, immerzu auf ihre Überlegenheit hinzuweisen.
»Wem aus Hagens Garde hast du denn den Garaus gemacht, dass du nun in der Lage bist, dich und deinen Wolf vor Anton zu verbergen?«, fragte Maggie, während sie einfach nur dastand, die Hände in den Manteltaschen verborgen.
David konnte spüren, wie sie sich auf seine Gedanken konzentrierte, aber erstaunlicherweise gelang es ihm, sie abzuweisen.
Maggie gab ein frustriertes Schnaufen von sich, in das Tillmann einstimmte, um sogleich wieder zu verstummen. Als David keine Anstalten machte zu antworten, sagte sie schließlich: »Ich hoffe, es war Mathol, dieses ausgemachte Arschloch. Passt Hagen vielleicht sogar ganz gut in den Kram, dass er dieses Schwein endlich los ist. Wenn man den Gerüchten glauben darf, hat Mathol eine zu große Befriedigung beim Vergießen von Blut empfunden. Dieses hemmungslose Vergnügen steht in eurem Verein doch einzig und allein dem König zu.«
»Da weißt du mehr als ich«, erwiderte David. Er ärgerte sich ein wenig darüber, dass er vor Schrecken um die eigene Achse gewirbelt war und nun nur Maggie sehen konnte. Zwar spürte er dank des Wolfes die drei anderen in seinem Rücken, aber es wäre ihm trotzdem lieber gewesen, wenn er auch sie hätte sehen können. Allerdings verriet ihm Maggies konzentrierter Ausdruck, dass sie ihm im Augenblick keine Positionsänderung durchgehen lassen würde. Unter anderen Umständen hätte David es bestimmt schmeichelhaft gefunden, dass sie ihn für einen ernstzunehmenden Gegner hielt, nur heute erschwerte es seine Position ungemein.
»Nun, es muss eine Erklärung dafür geben, dass Hagen dich hat ziehen lassen«, fuhr Maggie fort.
»Vielleicht hat er mich einfach nur nicht zurückhalten können.« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, bereute David sie. »Oder es ist der Beweis dafür, dass ich ihm nicht wichtig genug bin«, versuchte er, den Fauxpas auszubügeln, aber es war zu spät.
Maggie nickte nachdenklich. »Ich befürchte, wir haben ein Problem, David.«
»Ich habe nicht im Geringsten vor, dir Probleme zu bereiten, Maggie.« Um sie zu beschwichtigen, trat David einen Schritt auf die rothaarige Frau zu, nur um gegen eine unsichtbare Wand zu laufen. Maggies Wolf hatte mit einer solchen Geschwindigkeit eine mentale Reviergrenze gezogen, dass Davids Gliedmaßen wie nach einem Stromschlag kribbelten. Er setzte einen Schritt zurück und schüttelte die Hände aus, betreten über die Zurückweisung. Allerdings war dieses drastische Mittel der beste Beweis dafür, dass Maggie ihn tatsächlich als ernstzunehmenden Gegner einschätzte. Schlechter hätte es für ihn nicht kommen können, denn warum sollte Maggie einen starken Wolfsdämon in ihrem Reich dulden, der sich ihr nicht anschließen wollte? Es dürfte ausgesprochen schwierig sein, sie davon zu überzeugen, dass er keine Schwierigkeiten machen würde, einfach nur aus dem Grund, weil er es konnte.
»Ich weiß nicht richtig, wie ich es dir erklären soll, Maggie. Aber ich kann auf keinen Fall so weitermachen wie bisher. In einem Rudel leben, mich unterordnen, so tun, als wenn es nichts anderes als die Wünsche dieses Dämons für mich gäbe... Ich bin mit einem ganz simplen Plan im Kopf zu dir gekommen: Ich suche mir eine Bleibe und einen Job und werde mich fortan wie ein völlig normaler Mensch benehmen«, erklärte David mit zusammengebissenen Zähnen. Das widerwärtige Gefühl, als er gegen Maggies Grenze gestoßen war, ließ nicht nach. »Ich hatte nie vorgehabt, den Wolf in mir zu stärken, weil ich einfach nichts mit dieser ganzen Rudelpolitik zu tun haben wollte. Aber Hagen hat mir keine andere Wahl gelassen, und eigentlich sollte ich ihm dankbar sein, denn ansonsten wäre ich wohl nie imstande gewesen, mich von ihm abzuwenden.«
»Du willst mir erzählen, dass du dich von deinem Rudel losgesagt hast und nicht wieder zurückkehren wirst?«
David nickte, und hinter ihm erscholl freudloses Gelächter.
»Das ist doch nichts weiter als ein Trick, mit dem Hagen uns unterlaufen will. Schickt uns diesen dreisten Kerl hierher, der gerade ein Ritual bestanden hat, und hält uns für dumm genug, ihn hier im Revier ohne Bindung an unser Rudel herumlaufen zu lassen«, erklärte eine Männerstimme voller Hohn, die David problemlos mit Maggies Sohn Tillmann in Verbindung brachte. Kurz bereute er es, diesem Burschen nicht doch einen Denkzettel verpasst zu haben.Aber vermutlich wäre das der Anfang vom Ende gewesen, denn Maggie hätte sicherlich nicht tatenlos zugesehen.
Glücklicherweise musste Maggie nicht lange über die Anschuldigung ihres Sohnes nachdenken. »Dafür ist David ein viel zu schlechter Schauspieler«, entschied sie und sah sich um, als suche sie nach einer Sitzmöglichkeit.
Einen Moment später spürte David eine seltsame Veränderung: Maggie hatte die Grenze, die ihn auf Abstand halten sollte, wieder aufgehoben.
»Du hast dich also von Hagen abgewandt und bist hierhergekommen. Allerdings nicht zu mir, sondern zu dieser Frau, richtig?«
David nickte stumm.
Wenn Maggie diese Zurückweisung etwas ausmachte, so ließ sie sich zumindest nichts anmerken. »Nur damit ich das auch wirklich richtig verstehe: Du willst, dass ich dir Asyl gewähre, aber du willst nicht Mitglied meines Rudels werden?«
»Du weißt, wie ich zu dir und deinem Rudel stehe, ich glaube jedoch nicht, dass das der richtige Zeitpunkt ist.« David glaubte zwar, dass es dafür niemals einen richtigen Zeitpunkt geben würde, aber er hoffte inständig, Maggie würde ihm dies nicht ansehen. »Hagen würde das kaum akzeptieren. Außerdem habe ich irgendwie das Gefühl, dass der Wolf seit dem Ritual einfacher zu handhaben ist. Seine Anwesenheit ist viel leichter zu ertragen, ich komme mir nicht mehr so vor, als würde er mir ein Leben im Rudel aufzwängen.«
Maggie blickte ihn erschöpft an.
Er befürchtete schon, sie könnte sich einfach umdrehen und ihn der Willkür ihrer Garde überlassen. Dann begriff er, dass Maggie das niemals tun würde. Selbst wenn sie es nicht ausgesprochen hatte, war immer klar gewesen, dass sie ihn mochte und ihn auch jetzt noch jederzeit in ihrem Rudel aufnehmen würde. David war überrascht, wie schwer es ihm fiel, Maggie zurückzuweisen und nun ihren enttäuschten Blick zu ertragen. Dabei hatte er nach Convinius’ Tod gedacht, nie mehr so etwas empfinden zu müssen. Nur mit dem Unterschied, dass Convinius ihn so angesehen hatte, wenn er wieder einmal den Verlockungen des Dämons nachgegeben hatte. Maggie hingegen war enttäuscht, weil er die Gaben des Wolfes nicht zu schätzen wusste.
»David, wenn du glaubst, du könntest den Wolf wie ein zahmes Haustier in dir halten, um mit dieser Frau zusammenzuleben, dann hast du nichts begriffen. Der Wolf ist durch das Ritual sehr viel mächtiger geworden, deshalb fällt es dir leichter, ihn zu ertragen. Mehr als je zuvor ist er jetzt ein Teil von dir. Aber das willst du einfach nicht begreifen! Was glaubst du denn, warum der Wolf unser Schatten ist? Ohne ihn sind wir unvollständig, so ist das nun einmal. Außerdem hast du noch nicht gelernt, mit den Veränderungen, die das Ritual hervorruft, umzugehen. Wenn du dich nicht damit auseinandersetzt, wird der Wolf die Kontrolle übernehmen.«
»Nein«, widersprach David heftiger als beabsichtigt. »Dass ich in der Lage war zu gehen und der Wolf sich fügte, liegt an Meta. Zum ersten Mal, seit ich meine Familie verlassen habe, bedeutet mir jemand mehr als das Rudel. Und der Wolf wirft mir keine Stöcke zwischen die Beine.Vielleicht ist sie eine Art Heilmittel.«
»David, du belügst dich selbst. Das ist äußerst gefährlich, man darf sich nicht von seinem Wolf abwenden. Vor allem nicht, wenn er so stark ist wie deiner. Es ist ein Wunder, dass er dich nicht mit aller Macht drängt, dich erneut einem Rudel anzuschließen. Die Gesellschaft eines gewöhnlichen Menschen kann die Bedürfnisse des Wolfes niemals erfüllen, es sei denn …«
Mitten im Satz hielt Maggie inne und begann, gedankenverloren auf ihrem Daumennagel herumzubeißen, während die Anspannung um sie herum ins Unerträglich stieg. Schließlich blickte sie wieder auf, und als David ihre blauen Augen auf sich ruhen fühlte, verspürte er den Wunsch, sich ihrem Willen zu beugen. Doch ihm war zugleich bewusst, dass Maggie gar keine Unterwerfung einforderte. »Du darfst vorläufig in meinem Revier bleiben. Zumindest, solange es noch das meine ist«, sagte sie leise. Dann wandte sie sich ab und verschwand genauso schnell, wie sie erschienen war.
David stand noch einige Atemzüge lang da, bis er grob bei der Schulter gepackt wurde und Tillmann ihn herausfordernd anfunkelte.
»Meine Mutter mag dich zwar in ihrem Revier dulden, aber du solltest künftig trotzdem vorsichtig sein, wenn du auf unseren Straßen unterwegs bist.«
»Warum sollte ich das?« Davids Wolf richtete sich mit einem Knurren auf. Zu gern wollte er herausfinden, wie stark dieser Tillmann wirklich war. Aber David drängte ihn zurück. Das konnte er auch allein klären, schließlich war Maggies Sohn nur angepisst, weil seine Mutter sich großzügig verhalten hatte.Vielleicht war er sogar eifersüchtig. »Du kannst dich entspannen, Tillmann. Ich bin weder scharf darauf, mich mit dir zu messen, noch will ich dir deinen Platz im Rudel streitig machen. Ehrlich gesagt, hoffe ich, dass wir uns künftig nicht noch einmal über den Weg laufen.«
»Denkst du wirklich, das ist alles, worum es hier geht, du Schwachkopf? Dadurch, dass Maggie dir erlaubt, dich in unserem Revier zu verkriechen, hat Hagen bloß einen Grund mehr, die Grenzen einzurennen.«
Tillmann war so in Rage, dass er David bei den Oberarmen packen wollte, doch der wehrte den Griff geschickt ab und verpasste dem verdutzten Mann einen Stoß, der ihn zurücktaumeln ließ. Schnell versicherte sich David, dass Anton und die junge Frau nicht vorhatten, sich einzumischen. Dann streckte er beide Hände vor, eine besänftigende Geste, ehe Tillmann die Fassung verlor und die Situation eskalierte.
»Es ist, wie ich es zu Maggie gesagt habe: Ich bin raus aus dieser Wolfssache, diese ganze Politik geht mich nichts an.« Davids ohnehin tiefe Stimme klang fast dumpf vor unterdrückter Wut. »Aber wenn es dich beruhigt, kann ich dir versichern, dass deine Mutter eine ausgesprochen clevere Frau ist. Ansonsten hätte sie sich Hagen nicht so lange vom Hals gehalten. Ihr wird schon eine Lösung einfallen, da bin ich mir sicher.«
»Das reicht mir nicht.«
David starrte ihn an, bis Tillmann den Blick senkte. »Dann werde ich dir das nächste Mal, wenn du mir über den Weg läufst, in den Hintern treten. Egal, was Maggie davon hält.«
»Du glaubst wohl, nach dem Ritual kann dir keiner mehr was.«
»Das wirst du dann ja herausfinden.«
Als David ging, drehte er sich nicht ein Mal um. Er spürte die Gefühle der drei Garden, die auf eine ihm noch unbekannte Weise den Weg zu ihm fanden.Was er dadurch erfuhr, ließ ihn schaudern. Er würde aufpassen müssen, wenn er gemeinsam mit Meta durch die Straßen von Maggies Revier lief. Ein Wolf, der sich herausgefordert fühlte, würde eine Möglichkeit finden, um sich zu beweisen. Tillmanns Wolf mochte in einem Kampf mit ihm unterliegen, aber dieser Mann war bestimmt gerissen genug, sich einen Vorteil zu ersinnen.