Kapitel 29
Königsmord
Vor gut zwei Jahrzehnten waren die Zeiten für das Rudel härter gewesen: Die Ausmaße der Stadt waren mit den heutigen nicht zu vergleichen, es hatte sogar eine Auswanderungswelle gegeben.Viele Menschen zogen in die Grenzbezirke, dorthin, wo Industrie und Gewerbe eine neue Heimat gefunden hatten und Familien die Grundstücke bezahlen konnten. Das Zentrum mit seinen mehrstöckigen Mietskasernen kam einem am Abend oftmals wie eine Geisterstadt vor. Kein gutes Revier, um auf die Jagd zu gehen. Der Wolf mochte es, wenn seine Umgebung vor möglichen Fährten vibrierte, wenn seine Wege erfüllt waren vom Rhythmus schlagender Herzen. Außerdem gehörte dem Rudel gerade mal ein Dutzend Wölfe an. Es war, als befände sich der Dämon, der sie alle beseelte, in dieser Stadt auf dem Rückzug, als hielte ihn das dahinsiechende Revier davon ab, sich weiterhin mit den Menschen zu verbinden.
Piroschka, ihre Anführerin, spielte mit dem Gedanken, die Stadt zu verlassen.Wer zurückbleiben wollte, sollte sich einem der anderen Rudel anschießen, die sich noch im Schatten der Stadt herumtrieben. Einige - unter ihnen auch Nathanel - durchschauten diesen Gedanken als das, was er war: ein Zeichen von Schwäche. Eine Anführerin, die ihr eigenes Rudel aufzulösen bereit war, hatte versagt. Anstatt den Platz zu räumen, war sie eher gewillt, das Rudel zu zerstören. Doch die Tage waren schwer und das Rudel klein.
In den Jahren seit diesem Sommer, in dem sich die Hitze wie eine bleierne Decke über die Stadt legte und sie noch lebloser als sonst erscheinen ließ, hatte sich Nathanel immer wieder gefragt, warum er damals nicht die Rolle des Anführers einforderte. In ehrlichen Momenten musste er sich jedoch eingestehen, dass er nicht dafür geschaffen war. Er war ein Mann der zweiten Reihe, ihm fehlte jene Begabung, einen Schritt nach vorne zu tun und die anderen mitzureißen. Er hatte stets fest daran geglaubt, dass es einem Rudel am besten bekam, wenn es vom stärksten Wolf geleitet wurde. Nur, dass in diesem Sommer nicht der stärkste Wolf nach der Macht griff und gewann.
Als Piroschka das Rudel zusammenrief, dämmerte es bereits. Trotzdem glitzerte der Belag des abseitsliegenden Sportplatzes noch immer. Aufgeweicht von der Hitze des Tages blieb er an den Sohlen kleben und vermischte sich dort mit dem allgegenwärtigen Staub der Stadt.
Nathanel war einer der Letzten, die eintrafen. Sein Nacken brannte von der Sonne, und das Hemd klebte ihm verschwitzt am Rücken. Er war den ganzen Nachmittag umhergelaufen, obwohl sich bei der Hitze nicht einmal mehr die Kinder unter den Fontänen der Hydranten vergnügen wollten.Aber die Unruhe, von der die Stadt ergriffen war, hatte sich mit seiner eigenen verbunden, so dass er es einfach nicht ausgehalten hätte, irgendwo zu verharren. Als Piroschkas Ruf ihn schließlich erreichte, hatte er einen Moment lang gezögert. So weit war es also schon gekommen.
Obwohl Nathanel spürte, dass Piroschka ihn neben sich haben wollte, blieb er in der letzte Reihe. Bei diesem Tribunal wollte er nicht neben ihr stehen. Ihre Nähe war ihm verleidet, seit sie von den Plänen, die Stadt zu verlassen, zu reden begonnen und nicht wieder aufgehört hatte. Zwar wusste Nathanel, dass ihm die Rolle des enttäuschten Liebhabers nicht gut zu Gesicht stand, aber er konnte einfach nicht aus seiner Haut - für ihn kam das Schicksal des Rudels an erster Stelle. Wenn Piroschka das anders sah, brauchte sie einen anderen Mann an ihrer Seite.
Kaum hatte Nathanel seinen Platz eingenommen, scharten sich einige Rudelmitglieder um ihn, während die Anführerin mit den bereits früh ergrauten Strähnen im Haar abseits dastand. Der Bruch zeichnete sich immer stärker ab, aber er kratzte nicht an Piroschkas Selbstbewusstsein. Sie kannte Nathanel gut genug, um zu wissen, dass er sich nicht nach der Rolle des Anführers sehnte. In ihren Augen war er keine Herausforderung, sondern Ballast, den sie auf ihrer Suche nach neuen Pfründen zurücklassen würde.
Doch heute ging es wohl um ein anderes Thema, auch wenn Nathanel nicht erraten konnte, was so wichtig sein mochte. Als sie endlich vollzählig waren, trat Piroschka einen Schritt nach vorn, und sofort gehörte ihr die ganze Aufmerksamkeit. Diese natürliche Autorität hatte Nathanel stets an ihr bewundert, und dass sie ihn auch jetzt noch anlockte, versetzte ihm einen Stich.
»Ihr könnt euch sicherlich denken, warum wir uns versammelt haben. Über einem frisch zerfleischten Leichnam unten am Fluss sammeln sich die Fliegen. Die wievielte Leiche seit Sommerbeginn? Ich bin beim Zählen irgendwie aus dem Takt gekommen.«
Unter Piroschkas gereiztem Blick begann das Rudel, sich zu winden, und auch Nathanel spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, als müsse er ein schlechtes Gewissen haben. Obwohl kaum ein Mensch wegen der unentwegt brennenden Sonne sein Haus verließ, waren in den letzten Wochen immer wieder grausam zugerichtete Leichen aufgetaucht. Nicht nur im Revier des Rudels, sondern auch in den herrenlosen Gegenden. Trotzdem hatte es eine Zeit lang gedauert, bis sich der Verdacht erhärtete, dass einer von ihnen auf die Jagd ging. Eigentlich nichts Ungewöhnliches für einen Wolf, der es liebt, einer Fährte zu folgen und die Beute einzukreisen.Vielleicht sogar ihre Angst zu spüren. Aber Menschen bestialisch zu ermorden?
»Inzwischen können wir davon ausgehen, dass der Mörder aus unseren Reihen stammt.« Bei diesen Worten zuckte Nathanel zusammen. Woher wollte Piroschka das wissen? Als habe sie seinen Gedanken erraten, lächelte sie ihn schmallippig an. »Wir können davon ausgehen, weil ich mir die Leiche angeschaut habe, bevor die Menschen aufgetaucht sind. Ein Jäger, der seine zerrissene Beute wie ein groteskes Kunstwerk zurücklässt, wird sehr schnell selbst zum Gejagten. Und wir sind uns doch wohl alle einig, dass wir uns eine solche Aufmerksamkeit kaum leisten können. Deshalb kann es auch nur eine Art der Bestrafung geben: den Tod.«
Ein verstörtes Aufmurren ging durch die Reihen, da einige Piroschkas Worte nicht richtig begriffen. Zu unfassbar war diese Vorstellung. Doch Nathanel verstand sehr wohl, worauf ihre Anführerin hinauswollte: Unter ihnen gab es einen Mörder. Schnell ließ er seinen Blick über die ihm so vertrauten Gesichter schweifen. Was Piroschka gesagt hatte, konnte einfach nicht sein. Niemand von ihnen war in der Lage, sich so gut vor ihrer Anführerin zu verbergen. Oder hatte sie ihre Aufgaben in der letzten Zeit wirklich derart vernachlässigt? Ihm lag die Frage auf der Zunge, doch da fing Piroschka erneut an zu sprechen.
»Seitdem die letzte Leiche entdeckt worden ist, hatte ich einen Verdacht. Man kann viele Spuren im Fluss abwaschen, aber eben nicht alle. Dieses Mal bin ich unserem Jäger gefolgt.«
»Du hast ihm dabei zugesehen, wie er diese Frau umgebracht hat?« Nathanel starrte Piroschka voller Unglauben an. Augenblicklich traf ihn Piroschkas Autorität wie ein Schlag in den Magen, aber er glaubte, einen Funken von Erregung in ihren Augen erkannt zu haben.Was sie beobachtete hatte, hatte sie alles andere als erschreckt.
Piroschka konzentrierte sich wieder auf das Rudel, das sich vor Anspannung kaum noch zu rühren wagte. »Hagen, wirst du freiwillig vortreten?«, fragte sie mit trügerischer Ruhe.
Als nichts passierte, verzog sich ihr Mund zu einem harten Lächeln. Ohne ein Geräusch zu machen, wich das Rudel zurück. Ein Kreis bildete sich um den jungen Mann. Sogar Nathanel, der gerade erst wieder Luft bekam, wich zurück. Allerdings nur so weit, dass er das plötzlich eröffnete Tribunal beobachten konnte.
Hagen verzichtete darauf, hilfesuchend über die Schulter zu jenen zu schauen, zu denen er eben noch gehört hatte. Auch kam ihm kein Wort über die Lippen. Langsam ließ er sich auf die Knie sinken, als akzeptiere er Piroschkas Richtspruch. Aber er schlug keinesfalls den Blick nieder, sondern sah die auf ihn zutretende Frau zwischen den schwarzen Haarsträhnen, die ihm im Gesicht klebten, kühl abschätzend an. Dabei zitterte sein schlaksiger Körper, in dessen Größe er noch nicht richtig hineingewachsen war, unentwegt.
»Du leugnest es also nicht?«, fragte Piroschka.
Nathanel hatte den Eindruck, als wäre die Anführerin froh, diese Angelegenheit so schnell wie möglich zu beenden, bevor noch mehr Fragen gestellt wurden, die sie in einem schlechten Licht dastehen ließen.
Als Hagen beharrlich schwieg, nickte sie. »Du nimmst mein Urteil also an.Wir werden es vollstrecken - hier und jetzt.«
Scheinbar abwartend, sah Piroschka auf Hagen herab, doch der Schatten tanzte bereits über ihrer hellen Haut. Jeden Augenblick würde sie zuschlagen.
Plötzlich durchschnitt ein Ruf die Stille. »Warte! Du kannst Hagen doch nicht einfach töten, bevor er die Tat nicht gestanden hat.« Convinius’ Stimme bebte vorVerzweiflung, als er aus dem Kreis hervortrat. Es sah so aus, als wolle er zu seinem Freund gehen, sich vielleicht sogar vor ihn stellen. Doch dann blieb er einfach nur stehen, vollkommen verwirrt über das eben Gehörte, noch unfähig, es zu begreifen. »So etwas würde Hagen niemals tun.Vielleicht hast du dich getäuscht.«
Piroschka brauchte nicht lange, um eine Antwort zu finden: »Nein.« Dann rief sie ihren Wolf: Der Schatten vibrierte im Dämmerlicht und trat auf Hagen zu, der nun mit willig gesenktem Kopf dakniete, als erwarte er sein Ende mit Sehnsucht. Doch ehe Piroschkas Wolf die Reißzähne in Hagens Nacken versenken konnte, wurde er selbst von einem Schemen angefallen und zu Boden geworfen.
Nathanel stand wie erstarrt da, unfähig zu begreifen, was Convinius soeben getan hatte: Er hatte seinen Wolf gesandt, um Piroschka aufzuhalten. Doch das konnte nicht sein! Von wem hatte der Junge bloß diese Fähigkeit erlernt? Während seine gesamte Aufmerksamkeit auf den vor Anstrengung zitternden Convinius gerichtet war, zu dessen Füßen die kämpfendenWölfe zu einem undurchsichtigen Schatten verschmolzen, sprang Hagen auf Piroschka zu. Der überraschten Frau gelang es nicht einmal mehr, die Hände zur Abwehr hochzureißen. Sie schlug der Länge nach hin, und sogleich umfasste Hagen ihren Kopf und schlug ihn mit brachialer Kraft auf den Asphalt. Zwei dumpfe Aufschläge drangen zu Nathanel durch, der dritte wurde vom Knacken der Schädelknochen begleitet. In diesem Moment durchfuhr das gesamte Rudel die Gewissheit, dass ihre Anführerin tot war.
Das Chaos, das anschließend ausbrach, bekam Nathanel nur wie durch einen Nebel mit. Er registrierte gerade noch, wie sich seine Finger in Hagens T-Shirt krallten, an dem er den jungen Mann hochriss, um ihm sofort einen Schlag ins Gesicht zu verpassen. Dann geriet hinter seiner Stirn alles durcheinander - die Nachwirkung der Leere, in die der Dämon ohne einen Anführer zu stürzen drohte. Das letzte Wehklagen von Piroschkas Wolf, als dieser sich von seiner Hüterin verabschiedete, brach ihm fast das Herz.
Als er wieder zu sich kam, sah er, wie Hagen am Boden kauernd an den Folgen des erzwungenen Rituals litt und Convinius neben ihm Wache hielt.Aber keines der Rudelmitglieder hätte es gewagt, sich Convinius entgegenzustellen. Der Respekt vor ihm war zu groß.
Mit aschgrauem Gesicht richtete sich Hagen endlich auf, und sein Freund trat hinter ihn.
»Wir werden nie wieder über diesen Vorfall sprechen«, sagte Hagen mit heiserer Stimme, und beinahe das ganze Rudel nickte zustimmend. »Piroschka ist tot, also wird es keine weiteren Leichen in unserem Revier geben. Wir bleiben hier, unauffällig in den Schatten.«
Nathanel wollte schon Einspruch erheben, aber dann wurde er von der Vereinigung des Rudels mitgerissen, das seinen neuen Anführer angenommen hatte. Wie hätte er sich da als Einziger widersetzen können? Er warf einen letzten Blick auf Piroschkas Leichnam, unter dessen Kopf sich die dunkle Lache immer weiter ausbreitete. Er kniete neben ihr nieder, um ihre Augen zu schließen, und in ihm siegte die Überzeugung, dass die Führungsspitze dem Stärksten gehörte. Ob dieser sich seinen Platz durch eine List erschlichen hatte, diese Frage stellte er sich nicht.
Nur einer von ihnen vergaß nicht, Hagen diese Frage zu stellen: Convinius. Nachdem sich das Rudel, erschöpft von dem Schrecken der letzten Stunden, in seine Verschläge zurückgezogen hatte, trat er neben seinen ungewöhnlich gelassen wirkenden Freund. Nathanel, der die Szene aus einiger Entfernung beobachtete, war trotzdem nicht der Zug auf Convinius’ Gesicht entgangen. Dieser Junge glaubte, das Richtige getan zu haben, als er seinem unschuldigen Freund zu Hilfe gekommen war, und er wollte es auch hören.
»Piroschka hatte sich geirrt, nicht wahr?«
Ohne Zögern erwiderte Hagen seinen Blick. »Wenn man an der Spitze stehen will, muss man stärker sein als die anderen. Man muss seinen Wolf stärken, ihm etwas bieten«, erwiderte er ruhig. Dabei versuchte er, Convinius einen Arm um die Schultern zu legen, als Beweis für ihre Freundschaft, doch der blondhaarige Mann wich zurück.
»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, beharrte er. Convinius zwang sich, Hagens Blick zu erwidern, aber sein bebender Kiefer verriet, dass er die Antwort sehr wohl verstanden hatte.
»Convinius …«, setzte Hagen an, doch da wandte sich sein Freund schon ab. Er ging, und Nathanel konnte mit jeder Faser seines Leibes spüren, wie Hagen vollerVerzweiflung und Wut nach ihm rief. Er bekam keine Antwort.
Die Erinnerungen zerflossen langsam zu einem grauen Tuch, das Davids gesamtes Blickfeld ausfüllte, bis es vor seinem inneren Auge zerriss. Er fand sich auf dem Speicher wieder, von Angesicht zu Angesicht mit Nathanel. Die Lider des älteren Mannes waren immer noch geschlossen, als schliefe er, aber David spürte, dass Nathanel ihm lediglich die Zeit zugestand, das eben Gesehene zu bewältigen.Tatsächlich fühlte sich David benommen, als hätte ihn jemand komplett zerlegt und anschließend falsch zusammengesetzt. Auch sein Zeitgefühl wollte sich nicht wieder einstellen. Er vermochte nicht zu sagen, wie lange seine Reise in die Vergangenheit gedauert hatte. Er wusste ja nicht einmal, wie lange er nun schon vor Nathanel hockte und ihn anstarrte.
Beklommen stellte David fest, dass er mit beiden Händen Nathanels Oberarme umklammert hielt, als verlöre er sonst das Gleichgewicht. Es brauchte ein erstaunliches Maß an Konzentration, um die Finger zu lösen, denn sie waren wie erstarrt. Dann sah David zu, dass er ein paar Schritte Abstand zwischen sie beide brachte. Mit den Händen rieb er sich übers Gesicht, die Haut ungeahnt kühl, die Lippen ausgetrocknet. Als er wieder aufblickte, hatte Nathanel die Augen aufgeschlagen und musterte ihn nachdenklich.
»Ihr hättet Hagen töten müssen«, sagte David, die Stimme seltsam tonlos, als wäre ein Teil von ihm noch nicht aus der Vergangenheit zurückgekehrt. Dabei konnte er kaum fassen, wovon er soeben Zeuge geworden war. »Hagen hat seinen Rang durch Betrug erschlichen. Ohne Convinius’ Hilfe wäre er niemals mit Piroschka fertiggeworden. Das verdammte Rudel hat zugelassen, dass ein blutrünstiger Lügner sich zum Anführer aufschwingt.«
Nathanel nickte zustimmend, sah jedoch nicht im Geringsten zerknirscht aus. Stattdessen strahlte er eine Würde aus, von der David nicht begreifen konnte, woraus sie sich speiste - nach alldem, was Nathanel gerade preisgegeben hatte.
»Heute sehe ich das auch so, aber damals glaubte ich, dass es ausreicht, den amtierenden Anführer auszustechen. Das Wie erschien mir zweitrangig. Ich habe mich geirrt.« Eine graue Haarsträhne hing Nathanel ins Gesicht, und obwohl sie seine Oberlippe streifte, schien er sie nicht zu bemerken. Aufmerksam behielt er David im Auge, der immer noch sein Gesicht betastete. »Dennoch ist Hagen kein Dummkopf. Was immer in ihm an kranken Bedürfnissen gärt, er hat es lange Zeit unter Kontrolle gehalten. Man kann ohne weiteres sagen, dass er in den ersten Jahren einen ganz passablen Anführer abgab - zumindest hielt er das Rudel zusammen. Außerdem spielte ihm der Lauf der Geschichte in die Hände: Die neuen Wirtschaftsbranchen schwemmten wieder Menschen in die Stadt, die Viertel füllten sich, das Revier erwachte zu neuem Leben. Das Rudel wuchs und gedieh - es gab keinen Grund mehr, seinen Rang anzuzweifeln. Dann ist etwas geschehen, vor ein paar Jahren … Ganz schleichend begann Hagen, seine alten Interessen wieder aufleben zu lassen, als niemand mehr so genau hinschaute. Dass sich der Anführer eines stets größer werdenden Rudels nach mehr Macht sehnte, wagte niemand infrage zu stellen. Und wenn es doch jemand tat … Nun, es ist ihm ja auch gelungen, ausreichend Gleichgesinnte um sich scharren.«
»Ach komm, Nathanel. Es ist doch nicht so, als ob du diesen Blutzoll verweigert hättest. Das Rudel geht bei dir immer vor, was?« Davids Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn, und nur knapp konnte er dem Wunsch widerstehen, auf das Dachgebälk einzuschlagen. »All die Menschen, die Hagen für seine abscheulichen Rituale geopfert hat, schöngeredet mit den angeblichen Bedürfnissen des Dämons. Du hast, ohne mit der Wimper zu zucken, neben Hagen gestanden, wenn er seine Reden über die wahre Natur des Wolfes geschwungen hat, obwohl du wusstest, das es nur als Ausrede zum Morden diente. Und um nichts anderes als Mordlust handelt es sich. Dabei hat Hagen das Rudel mit Schuld besudelt.«
»Du bist doch das beste Beispiel dafür, dass sich nur die Schwachen verführen lassen. Schließlich hast du dich widersetzt«, hielt Nathanel ruhig dagegen.
Bei diesen Worten senkte David den Blick. Das Schuldgefühl, das er seit seiner Zeit mit Convinius unter einem Mantel der Gleichgültigkeit versteckt hatte, war grausamer als die Wut und Enttäuschung, die Nathanels Entscheidungen in ihm weckten. Er klemmte seine zitternden Hände unter die Oberarme und drängte die furchtbaren Bilder aus seiner Vergangenheit von sich, die unwillkürlich aufflackerten. Bilder von zerrissenen Frauenleichnamen, ausgeblutetes Fleisch von einer grauen Farbe. Zurückgelassen in den Wäldern, in denen Convinius und er gelebt hatten. Er hatte sie gefunden und geschwiegen.
»Es steht mir nicht zu, dich zu verurteilen«, sagte er leise. »Schließlich habe ich mich in der Vergangenheit selbst mit meinem Ausharren schuldig gemacht.«
Eine Zeit lang standen die Worte im Raum, dann setzte Nathanel langsam zum Sprechen an: »Du spielst auf die Opfer an, die du während deiner letzten Wochen mit Convinius gefunden hast, nicht wahr?« Davids betretenes Schweigen als Zustimmung nehmend, nickte Nathanel. »Wenn du vor Hagen stehst, solltest du ihn danach fragen. Aber wenn du ein schlauer Junge bist, wirst du nach dem, was du eben erfahren hast, wohl von allein auf die Lösung kommen. Du hast selbst gesagt, dass Hagen falschspielt.«
Bevor David sich dessen bewusst war, hatte er auch schon einen Schritt auf Nathanel zugemacht. »Du weißt von den Opfern?«
»Ja, aber ich habe schon zu viel Zeit mit Reden verbracht. Die Sache drängt, und wir müssen zusehen, dass du Hagen gewachsen bist, wenn du ihm gegenübertrittst. Wir müssen etwas für deinen Wolf tun.«
Einen Moment lang spielte David noch mit dem Gedanken, den älteren Mann zu bedrängen, aber ein Blick auf Nathanels verschlossenes Gesicht verriet ihm, dass er sich nicht überreden lassen würde. »Hagen kann mich mal kreuzweise. Behalt dein Geheimnis für dich, ich gehe jetzt zu Meta.«
»Kannst du das wirklich, einfach so gehen?« Wie Nathanel so am Boden kauerte, ähnelte er plötzlich einem Raubtier, das sich nahe genug an seine Beute herangeschlichen hatte und nun bloß noch auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um zuzuschlagen. »Seit Convinius’Tod und deiner Ankunft in unserem Rudel ist Hagen zunehmend außer Kontrolle.Was glaubst du, warum er so aggressiv sein Revier ausweiten will? Die Menschenjagd befriedigt ihn nicht mehr, er will Wölfe jagen. Was sag ich, jagen? Er will morden. Maggies Rudel wird als Erstes für seine Befriedigung bluten müssen. Kannst du das wirklich zulassen?«
Fluchend lief David einige Schritte auf und ab, unschlüssig, was er lieber täte: die Treppe hinabstürzen und zu Meta laufen, keinen einzigen Gedanken mehr an die Welt der Wölfe verschwenden. Oder Nathanel den Hals umdrehen, weil er ihn vor solch eine schreckliche Wahl stellte.
»Ich werde dir helfen, das Richtige zu tun«, sagte Nathanel, während er mühsam zum Stehen kam.
»Sei still«, knurrte David. Aber schon im nächsten Augenblick durchfuhr ein Aufprall seinen Körper, der ihn von den Füßen riss. Nathanels Wolf hatte ihn angegriffen, und dieses Mal war es keine Drohgebärde.Während sich von seiner Brust aus rasant ein Feuer ausbreitete, das seine Lungen zu versengen drohte, schlitterte er einige Schritte weit über den rissigen Boden und knallte gegen die Dachschräge. Sein Hinterkopf schlug gegen einen Balken, und plötzlich war alles in ein grellweißes Licht getaucht. Kaum wissend, wo oben und unten war, versuchte David, auf alle viere zu kommen, was ihm auch schließlich gelang. Er schüttelte den Kopf, bis das weiße Flackern verschwand.
Als er die Augen aufschlug, blickte er durch grauen Nebel zu Nathanel, der sich für den nächsten Angriff bereitmachte. Die eben noch vor Erschöpfung unwilligen Glieder des Mannes zeugten nun von einer Vitalität, die vom Dämon geborgt war, nachdem sein Wolf wieder zu ihm zurückgekehrt war.
»Nein«, sagte David leise und versuchte, sich emporzustemmen, doch da preschte Nathanel auch schon nach vorn. Gemeinsam stürzten sie zu Boden.
Davids Wolf versuchte, mit aller Gewalt hervorzubrechen, den Angreifer abzuwehren, aber David hielt ihn im Zaum. Obwohl Nathanels kräftiger Wolf seinen Körper vor Schmerz erbeben ließ, wollte er den von Krankheit und Alter geschwächten Mann auf keinen Fall verletzen. Nathanel rang ihn nieder und drückte ihm mit dem Unterarm die Luft ab.
David keuchte auf und sah seinen Angreifer voller Entsetzen an: In Nathanels blau strahlenden Augen triumphierte nicht etwa der Dämon, sondern Todessehnsucht war dort zu lesen. Für einen Herzschlag vergaß David seinen tobenden Wolf, denn mit einem Schlag begriff er, wie Nathanel ihn für den Kampf mit Hagen rüsten wollte. Der ältere Mann wollte sich opfern. Mehr als diesen Moment der Nachlässigkeit brauchte der Dämon nicht, um sich loszureißen und seine Schattengestalt anzunehmen.
Ein Lächeln breitete sich auf Nathanels Gesicht aus, während er von dem jungen Mann abließ und sich aufrichtete. Eine Sekunde später zerriss Davids Wolf ihm die Kehle.
David war vor Entsetzen außerstande, sich zu rühren, und musste zusehen, wie Nathanel nach hinten überkippte. Er hörte den Aufschlag des Körpers auf die Dielen, registrierte, wie das Herz noch schlug, während die Lungen bereits in sich zusammenfielen. Dann kehrte sein Wolf zu ihm zurück, und David stieß einen Schrei aus, der erst endete, als er vollends in den Schatten versunken war.