Kapitel 28
Dunkle Wege
Nathanel versuchte, mit der Schuhspitze einen kleinen Stein zu treffen, es gelang ihm jedoch erst beim zweiten Mal. Die ohnehin spitzen Wangenknochen in seinem Gesicht traten stärker als sonst hervor und verwiesen die auffällig blaue Iris in zwei dunkle Höhlen. Nathanels Leib wirkte ausgezehrt, die Kleidung schlackerte um seine langen Glieder. Und trotzdem strahlte er eine vibrierende Energie aus, deren Quelle ungebrochen floss. Mit rot geränderten Augen sah er dem davonkullernden Kiesel hinterher, und selbst als dieser liegen blieb, konnte er den Blick nicht von ihm abwenden. Nach einer Zeit wurde es sogar dem stets stoisch dreinblickenden Anton, Maggies rechter Hand, zu langweilig, sich neben dem Mann die Beine in den Bauch zu stehen: Er gab ein Brummen von sich. Nathanel zuckte zusammen, sichtlich ungern aus seinen Gedanken gerissen. »Dieses Herumrennen ist nichts mehr für mich«, erklärte er lakonisch.
Anton hielt sich mit einem Kommentar zurück, denn er war viel zu erfahren, um den älteren Mann falsch einzuschätzen. Allein, dass es Nathanel gelungen war, dieses Haus ausfindig zu machen, während Anton nicht einmal den Hauch einer Fährte hatte aufspüren können, verrieten die Macht und das Können, die in diesem verbrauchten Körper beheimatet waren.
Nathanel legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das leerstehende Haus, das im fahlen Licht des Nachmittags einen besonders deprimierenden Eindruck machte. Die Stille des Sonntags machte das Ganze nicht unbedingt besser; es fehlte der typische Autolärm. Während er das Haus eingehend musterte, stellte er allerdings fest, dass die Zeit des Verfalls offensichtlich vorüber war.Von einigen Tagen waren hier viele Leute ein und aus gegangen.Vermutlich würden schon bald die Vans eines Sanierungsunternehmens vorfahren, um der alten Stadtvilla mit der verstaubten Fassade zu neuem Glanz zu verhelfen. Eine schöne Vorstellung.
Nathanel konzentrierte sich kurz und stellte fest, dass weder Jugendliche noch Obdachlose die Chance genutzt hatten, um ein Fenster einzuschlagen und ihre Herrschaft über das verwaiste Gemäuer auszurufen.Vermutlich lag es daran, dass dieses edle Wohnviertel seine Jugend auf Internate schickte und den in dieser Stadt dünn gesäten Stadtstreichern und Junkies die schicke Umgebung auf den Magen schlug. Kein Wunder, dass die mächtigen Rudel nie versucht hatten, sich Maggies hübsches Viertel unter den Nagel zu reißen: Es entsprach überhaupt nicht dem idealen Jagdrevier.
Obwohl die beunruhigende Aura, von der das Haus umgeben war, alles zu dominieren drohte, schlich sich unvermittelt noch eine andere Fährte in Nathanels Wahrnehmung. Auf seinen schmalen Lippen deutete sich ein Lächeln an. Nicht, dass Jannik eine Chance gehabt hätte, seine Anwesenheit vor ihm zu verschleiern.Aber er war zumindest schlau genug, ausreichend Abstand zu wahren, so dass Nathanel ihn nicht am Kragen packen und nach Hause schicken konnte. Es war ein gutes Zeichen, dass der Junge nach den letzten Wochen, in denen er sich wie ein waidwundes Tier in Ruths Haus verkrochen hatte, nun den Mut aufbrachte, ihnen zu folgen. Außerdem beruhigte es Nathanel, zu wissen, dass Jannik in der Nähe sein würde, wenn er seinen Plan zu Ende geführt hatte.
»Möchtest du hier draußen auf mich warten?«, fragte Nathanel den auf den Fersen wippenden Anton höflich, ehe er sich zum Gehen abwandte.
Anton zuckte mit den Schultern. »Würde Maggie das wollen? Schließlich hat sie mich doch mitgeschickt, damit ich ein Auge auf dich habe.«
»Tja, na dann«, gab Nathanel zurück und begann, die verschlossene Eingangstür zu untersuchen.
Zuvor hatten Maggie und ihre Garde Hagen an der Grenze begrüßt und in ihr Revier eingeladen, um zu überprüfen, wie man eine Übernahme vonseiten Saschas am besten abwehren konnte - zumindest hatte Rene Parlas den Angriff von Hagen auf diese diplomatische Art umschrieben. Anschließend war Nathanel sofort mit Hagens Einverständnis zu einem Rundgang ausgeschert. Fürsorglich hatte Maggie ihm den schweigsamen Anton an die Seite gestellt. Dabei wussten beide Parteien nur allzu gut, nach wem der ältere Mann eigentlich Ausschau hielt. Und Maggie wollte ihn dabei nicht allein lassen.
Die Tür des Hauses stellte sich als äußerst massiv und hervorragend verriegelt heraus, aber als Anton anbot, sie mit Gewalt zu öffnen, lehnte Nathanel ab und mühte sich stattdessen mit einem Klappmesser am Schloss ab.
»Er wird doch eh schon mitbekommen haben, dass wir hier sind«, erklärte Anton, als das Schloss immer noch keine Anzeichen machte, aufzuschnappen.
Widerwillig richtete Nathanel sich auf und strich sich das dunkelgraue Haar hinter die Ohren. »Ja, das hat er bestimmt, aber ich will ihn nicht unnötig reizen. Ein verwundeter Wolf ist besonders gefährlich. Ich habe keine Lust, diese verdammte Tür aus den Angeln zu heben und im nächsten Moment angefallen zu werden.«
Anton warf ihm einen Blick zu, als zweifle er daran, dass Nathanel so etwas passieren könnte. Schließlich besann er sich eines Besseren und erklärte: »Ich mache es mit der Schulter, dann knackt es nur mal kurz.«
Mit einem Schwanken wich Nathanel zur Seite, und einen Augenblick später traten sie in das nach Schimmel riechende Treppenhaus. Auch im Inneren strahlte das Haus jene beunruhigende Energie ab, die Nathanel angelockt hatte. Aber noch immer ließ sich keine eindeutige Fährte ausmachen. Er verharrte, dann erklärte er: »Wir fangen oben unter dem Dach an. Wenn ich mich nicht täusche, hat er sich eine hübsche Aussicht auf den Himmel gesucht. Der Vollmond hat so etwas Tröstliches.«
Als Nathanel die Tür aus dünnem Sperrholz am Ende der Stiege öffnete, stellte er fest, dass er mit seinerVermutung richtiggelegen hatte: David saß mit dem Rücken gegen einen Holzpfahl gelehnt, den Blick auf das Dachfenster gerichtet. Der weitläufige Speicher stand leer, der Boden war mit einer Staubspur überzogen, die sich an einigen Stellen dunkel verfärbte, wo Wasser durch die alten Schindeln eingedrungen war.
Nathanel trat ein - Anton zog es vor, im Türrahmen stehen zu bleiben -, und David sah nur kurz zu ihm auf, weder überrascht noch unangenehm berührt angesichts des unverhofften Besuchs. Nathanel hingegen fiel es außerordentlich schwer, seine Empfindungen in diesem Augenblick zu beherrschen: Dort hockte seine letzte Hoffnung, ganz in sich zusammengesunken, die Augen erschreckend leer.
Davids Augenbraue war aufgeplatzt, ein verkrustetes Zeugnis von seiner Auseinandersetzung mit Tillmann - Maggies Sohn hatte seine Erinnerung an Davids Demütigung quasi als Willkommensgeschenk für Hagen und die anderen Eindringlinge in den Köpfen seines Rudels hinterlassen. Auf Davids Wange zeigten sich dunkle Schlieren, dort, wo das Blut von der Wunde entlanggelaufen war und er es mit der Hand verwischt hatte. Offensichtlich hatte die Kraft nicht ausgereicht, um die Spuren gänzlich zu entfernen.Auch wenn Davids Geist für Nathanel unerreichbar war, so gelang es ihm dennoch, zu erkennen, dass der junge Mann direkt nach seinem Zusammenstoß mit Tillmann hierhergekommen war.
»Diese blonde Frau war wohl nicht sonderlich erfreut darüber, die Bekanntschaft deines Wolfes zu machen?« Nathanel kam nicht umhin, eine gewisse Enttäuschung in seiner Stimme erkennen zu lassen. Obwohl er es besser wusste, hatte ein Teil von ihm gehofft, dass diese Geschichte anders ausgehen würde. Es musste also einen anderen Grund geben, warum Jannik und sein Wolf sich in der Gegenwart von Davids Geliebter verblüffend wohlgefühlt hatten.
David sparte sich eine Antwort und blickte wieder zum Fenster hinaus.
»Nun, es hat bestimmt auch sein Gutes, dass diese Affäre beendet ist. Eigentlich hat Tillmann dir sogar einen Gefallen getan, denn sonst wäre es Hagen gewesen, der plötzlich vor eurer Tür gestanden hätte. Und dann? Für die Frau ist es einfacher so. Auch wenn es der Schreck ihres Lebens gewesen sein mochte, immer noch besser, als einem vor Rachsucht fast besinnungslosen Rudelführer gegenüberzustehen, der sein Recht einfordert.«
David schnaufte leise, aber seine Muskeln spannten sich nicht einmal ansatzweise an, wie Nathanel beunruhigt bemerkte. Eigentlich wusste er nicht, was er erwartet hatte. Einen Krieger, der darauf brannte, in die Schlacht zu ziehen, nachdem ihm gerade erst sein Lebenstraum zerstört worden war? Einen verängstigen Welpen, der nach einem missglückten Ausflug in die Welt der Menschen darauf hoffte, wieder im Schoß des Rudels aufgenommen zu werden? Nathanel war zu alt und auch zu erfahren, um so naiv zu sein.Vor ihm saß ein liebeskranker junger Mann, der nicht die geringste Kraft aufbrachte, um sich gegen sein Schicksal zu stemmen.
Für einen kurzen Augenblick schloss Nathanel die Augen. Der Weg, den er beschreiten musste, lag grausam klar vor ihm. Die Aussicht, dass David am Ende mit seinem Rudel - einem richtigen Rudel - wieder vereint wäre, tröstete ihn wenig. Zu schwer wog das Risiko, dass dieser Junge als weiteres Opfer auf Hagens langer Liste endete. Allerdings gab es keine andere Möglichkeit, denn Nathanel lief die Zeit davon.Wenn er sein Rudel vor dem Untergang bewahren wollte, dann musste er handeln - und zwar jetzt. Für Gefühle oder Gewissensbisse blieb da kein Platz. Wer zögerte, würde im Kampf um die Spitze verlieren. Auch diese Erfahrung hatte er bereits auf schmerzliche Weise gemacht. Deshalb musste David noch weiter in die Ecke gedrängt werden, selbst wenn dabei etwas in ihm zerbrach.
»Findest du nicht, dass der Preis für deinen Verrat an Hagen zu hoch ausfällt?«, fragte Nathanel. Beinahe tastend wählte er die Worte, während er den Raum durchmaß.
David kümmerte sich nicht darum, dass der ältere Mann sich in eine bessere Position brachte. Offensichtlich befürchtete er keinen Angriff, oder schlimmer noch: Es war ihm gleichgültig.
Unter Nathanels Wangen gruben sich tiefe Schatten, während er mit einem leichten Schaudern bemerkte, wie die Macht des Wolfes sich um ihn legte. Sie verwandelte seinen verletzlichen, kranken Körper in eine Waffe, die kaum zu brechen war. »Ich kann ja noch verstehen, dass du bereit bist, Hagen für das erlebte Glück mit deinem eigenen Blut zu bezahlen. Aber dass du ihm kampflos diese Frau überlässt, für die du so weit gegangen bist, will mir nicht in den Kopf.«
Mit einem Mal kam Leben in Davids Augen. »Hagen hat es auf Meta abgesehen, obwohl ich mich von ihr getrennt habe?«
»Ja.«
Diese Antwort änderte alles. David stemmte sich mit der Absicht, davonzustürmen, auf die Beine. Doch mit einer solchen Reaktion hatte Nathanel gerechnet: Sein Schatten sprengte auf den jungen Mann zu, bevor dieser sein Gleichgewicht finden konnte, und riss ihn zu Boden. Mit einem Krachen schlugen Davids Schulterblätter auf die Dielen, und schon sickerte etwas Blut aus seiner Kehle. Aber als er die Hände zur Abwehr hochriss, war der Schemen bereits wieder zu seinem Herrn zurückgekehrt.
Angelockt von der heftigen Auseinandersetzung hatte Anton nun doch den Speicher betreten und sah Nathanel mit gerunzelter Stirn an. Die kleine Machtdemonstration hatte anscheinend Eindruck gemacht. Als sich David mühsam aufrichtete und eine Hand auf die blutende Kehle legte, machte es fast den Anschein, als wolle Maggies riesiger Gehilfe ihm die Hand reichen. Nathanel stieß jedoch ein drohendes Knurren aus, woraufhin der massige Bursche stehen blieb, die Arme herabhängend, die Miene ausdruckslos.
Plötzlich erklang aus einer der unteren Etagen dumpfes Krachen. Nathanel verdrehte sichtlich verärgert die Augen und wandte sich Anton zu. »Sei so gut und fang diesen ungeschickten Poltergeist ein, aber bitte sanft. Ihr könnt dann ja unten auf uns warten. Ich kann jetzt keine Unruhe vertragen«.
Kaum war Anton zur Tür hinaus, richtete er den Blick wieder auf David. Auf dessen Stirn bildete sich eine tiefe Falte, so dass sich die Verletzung auf der Braue gefährlich spannte.
»Wenn du diese Frau retten möchtest, wird dir nichts anderes übrigbleiben, als dich Hagen zu stellen, das müsste dir doch mittlerweile klargeworden sein«, sagte Nathanel, während David sich an dem rohen Dachgebälk hochzog. »Niemand anderes aus dem Rudel ist in der Lage, ihm die Stirn zu bieten. Nur du und ich verfügen über die Gabe, unseren Wolf auszusenden.«
»Warum schickst du dann nicht einfach deinen Wolf, damit er mit Hagen abrechnet?«, fragte David mit rauer Stimme. Die Zurechtweisung hatte offenkundig seinen Zorn geweckt. »Bei mir fällt es dir schließlich auch so leicht, mich auf meinen Platz zu verweisen.«
Weder Nathanels Miene noch Gesten sagten etwas über seine Empfindungen aus, als er antwortete: »Mein Wolf ist dir nicht überlegen, David. Das weißt du genau. Du ordnest dich mir unter, weil du es willst, weil du dich nach einer Vaterfigur sehnst. Dieser Wunsch verrät mehr über dich, als dir lieb sein kann, denn er macht dich berechenbar.«
David schüttelte den Kopf, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. »Das ist mir im Augenblick, ehrlich gesagt, scheißegal. Ich werde jetzt zu Meta gehen und dafür sorgen, dass sie die Stadt verlässt. Such dir jemand anderen, der deinen Tyrannenmord begeht. Frag doch Anton, vielleicht hat der für diesen Blödsinn Zeit.«
Ehe David auch nur einen Fuß vor den anderen setzen konnte, knurrte Nathanel ihn an. Als gehorche sein Körper einem ungeschriebenen Gesetz, hielt David in der Bewegung inne und sah den alten Mann zornig an.
»Im Augenblick ist Hagen noch bei Maggie, und sie gehen gemeinsam die Grenzen zu Saschas Revier ab«, erklärte Nathanel ungerührt. »Wir haben also noch ein wenig Zeit, bevor Hagen sich seiner Herzensangelegenheit widmet und deiner Süßen vorführt, wozu ein Rudelführer in der Lage ist, der sich zurückgestoßen und betrogen fühlt.«
»Das klingt so, als wäre Hagen ein gekränkter Liebhaber. Dabei bin ich nicht der Erste, der dem Rudel unter seiner Führung den Rücken zugedreht hat.Wenn du mich also entschuldigst? Ich habe schon genug Zeit damit verschwendet, hier Löcher in die Luft zu starren, anstatt mich um Metas Sicherheit zu kümmern. Für ein Schwätzchen mit dir werde ich sicher nicht das Risiko eingehen, dass Hagen schon mal ein Begrüßungskommando zu Meta schickt.«
»David, fällt es dir wirklich so schwer, zu erkennen, dass du für Hagen nicht irgendein beliebiges Rudelmitglied bist?« David winkte nur mit der Hand ab und ging auf die Tür zu, die zur Stiege führte. »Du hast einmal Convinius gehört. Dein Ziehvater hat dir nicht nur eine seltene Gabe mit auf den Weg gegeben, sondern dir auch einen unauslöschlichen Stempel aufgedrückt, so, wie Eltern es nun einmal zu tun pflegen.«
Als der Name Convinius fiel, verharrte David. Fluchend fuhr er sich mit den Händen durchs Haar und drehte sich dann Nathanel zu, der offensichtlich mit dieser Reaktion gerechnet hatte. Ohne es steuern zu können, huschte der Schatten des Wolfes über Davids Haut und hinterließ ein glühendes Prickeln.
»Was, zum Teufel nochmal, hat Convinius mit dieser Geschichte zu tun? Nathanel, wenn du bloß versuchst, mich hinzuhalten, dann vergesse ich meinen Respekt und breche dir das Genick, bevor dein verfluchter Wolf mich auch nur zwicken kann.«
Ein Lächeln stahl sich auf Nathanels Gesicht, aber die ausgemergelten Züge verwandelten es in eine unheimliche Grimasse. »Entspann dich, wir haben genug Zeit, denn Hagen wird sich auf keinen Fall um das Vergnügen bringen lassen, dein Weibchen höchstpersönlich einzufangen.«
»Sie heißt Meta!«
Nathanel zuckte mit der Schulter: »Meinetwegen. Für mich gleichen sich die Menschen, als wären sie lediglich Schatten. Im Gegensatz zu dir habe ich mich noch nie für sie interessiert.« Als David zu einem Protest ansetzen wollte, schaute er ihn streng an, und der Gewohnheit gehorchend, schwieg der junge Mann. »Ich will dir etwas über Convinius’Vergangenheit erzählen. Das hätte ich vermutlich schon viel früher tun sollen, dann wäre uns dieses ganze Elend vielleicht erspart geblieben. Nun, es war nicht mein erster Fehler, wenn ich es recht bedenke.«
Nathanel schwankte leicht, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Hättest du dich nicht in einem Haus mit einer netten Sitzecke verkriechen können?«, fragte er, ohne eine ernsthafte Antwort zu erwarten. Er bekam auch nur ein ungeduldiges Brummen von David zu hören. »Wie du weißt, gehörte Convinius einmal zu unserem Rudel. Er kam in einem sehr jungen Alter zu uns, noch ein halbes Kind. In meiner Erinnerung war er ein unbeschwerter Bursche, der sich ausgesprochen wohl in seiner Wolfshaut fühlte. Auf seinem Kopf wuchs die Art von blonden Locken, die sich wie Korkenzieher in die Luft schrauben. Als ich Jahrzehnte später neben seinem zerfleischten Leichnam stand, hat mich der Anblick seines geschorenen Kopfes mehr mitgenommen als alles andere. Damals, als Convinius zu unserem Rudel stieß, hätte ich niemals darauf gewettet, dass das Leben diesem gut gelaunten Geschöpf so viel rauben würde. Bei seinem Busenfreund Hagen sah das ganz anders aus.«
Bei diesen Worten zog David erstaunt die Augenbrauen hoch, und Nathanel gab ein leises Lachen von sich. »Man mag es kaum glauben, nicht wahr? Convinius und Hagen, die beiden lebenden Gegensätze. Aber was bleibt zwei jungen Männern, die in der Rangordnung ganz unten stehen, anderes übrig, als sich zusammenzutun? Eine schwierige Situation - das verbindet. Eine solche Freundschaft täuscht überVerschiedenheiten hinweg. Damals habe ich meinen ersten Fehler begangen: Ich bin davon ausgegangen, dass Convinius’ Freundschaft Hagen in die richtige Richtung lenken würde.«
Mit einer ungeduldigen Handbewegung unterbrach David die Erzählung. »Das ist ja alles wirklich sehr interessant, aber können wir diese kleine Geschichtsstunde vielleicht ein anderes Mal abhalten?«
»Nein«, erwiderte Nathanel nüchtern. »Um Hagen zu schlagen, musst du begreifen, wer er ist. Wusstest du, dass er von einem anderen Rudel aufgezogen worden ist, das ihn schließlich vertrieben hat?« David zuckte gleichgültig mit der Schulter, doch davon ließ Nathanel sich nicht abhalten. »Weil ihm der Wolf davongelaufen ist, so lautete seine Erklärung. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, denn in den ersten Lebensjahren ist der Wolf ja noch in der Lage, seine Schattenform anzunehmen und sich seinen eigenen Angelegenheiten zu widmen. Allerdings hatte Hagen die Schwelle zum Erwachsensein fast überschritten. Nur in den Augen unserer damaligen Anführerin Piroschka war er noch ein halbes Kind, Bartschatten hin oder her.Wir hätten misstrauischer sein sollen. Aber zunächst lief alles gut. Als dann die Schwierigkeiten in unserem Revier begannen, war es vermutlich Convinius’ Talent geschuldet, dass auf Hagen niemals mehr als ein schwammiger Verdacht fiel.«
Nathanel konnte ein schmerzverzerrtes Ächzen nicht länger unterdrücken. Die letzten Wochen hatten seine ohnehin angegriffenen Kraftreserven aufgebraucht, und die Suche nach David hatte ihn an seine Grenzen getrieben. Mit steifen Gliedern setzte er sich auf den Boden und wischte sich über die Stirn, auf der sich kalter Schweiß angesammelt hatte. In seinem Inneren jaulte der Wolf leise, ein Trost trotz der Sorge, die der Dämon empfand.
Einmal mehr wurde sich Nathanel bewusst, wie sehr sein lebenslanger Gefährte darunter litt, dass sein Hüter im Gegensatz zu ihm allmählich an Lebenskraft verlor. Dass das Wissen um den baldigen Abschied schon länger feststand, machte es für beide nicht leichter. Mehr als jeder andere im Rudel war Nathanel mit seinem Wolf verschmolzen, daher machte die Gewissheit, schon bald voneinander getrennt zu sein, den Gedanken an den bevorstehenden Tod unerträglich.
Nach kurzem Zögern trat David auf Nathanel zu und ging vor ihm in die Hocke. Der Zorn in seinem Blick war Besorgnis gewichen, obgleich er es nicht wagte, den älteren Mann zu berühren.Aber Nathanel verstand auch so, dass sein geschwächter Zustand dem Jungen zusetzte: Ganz gleich, was er ihm angetan hatte, es gelang David nicht, sich von ihm abzuwenden. So stolz Nathanel dieser Zuneigungsbeweis auch machte, er passte nicht zu seinen Plänen. Und an denen würde er festhalten - dieses Mal würde er keinen Fehler begehen.
Langsam öffnete Nathanel seinen Geist und ließ seine Erinnerung hinausströmen. Dabei blickte er in Davids weit aufgerissene Augen, als dieser zum ersten Mal von einer Gabe des Dämons heimgesucht wurde, die er noch nicht kennengelernt hatte. Bislang war es David bloß gewohnt gewesen, dass die stärkeren Wölfe in seinen Geist eindrangen, um ihn zu kontrollieren und zu verhöhnen. Doch nun erkannte er den eigentlichen Sinn dieser Fähigkeit: Ein verbindendes Moment, das das Rudel miteinander verknüpfen konnte - auch diese Gabe hatte Hagen offensichtlich zu einer Waffe der Unterdrückung umgeschmiedet.
Während David in Nathanels Vergangenheit eintauchte, verfärbte sich sein Gesicht grau, als entwiche ihm alles Leben. Der Dämon umschlang ihn, hüllte ihn in Schatten. Schließlich schloss Nathanel seine Augen und stieg ebenfalls in die Vergangenheit hinab, um den Jungen dorthin zu führen, wo er ihn haben wollte.