Kapitel 25

Wolfsstunde

Obwohl der Wochenmarkt in Metas Stadtviertel eine echte Attraktion war und selbst in der kalten Jahreszeit Besucher von weither anzog, hatte sie ihn vor kurzem das erste Mal gemeinsam mit David besucht.

Der Platz, auf dem das bunte Treiben stattfand, war für gewöhnlich eine öde Betonfläche mit einigen eingezäunten Bäumen, die keinen sehr überlebenswilligen Eindruck machten. Doch für ein paar Stunden am Samstagvormittag verwandelte sich dieses öffentliche Brachland in ein Spektakel. Plötzlich wurde einem bewusst, dass in dieser Stadt tatsächlich auch Kinder lebten, und nicht nur Erwachsene unter Zeitdruck. Leger gekleidete Familien mit prallgefüllten Leinenbeuteln streiften umher auf der Suche nach einem weiteren Leckerbissen fürs Wochenende. Eifrig wirkende Männer im besten Alter hielten Einkauflisten für ihr Viergängemenü in den Händen, während Haushälterinnen zwischen den routinierten Bestellungen, die sie aufgaben, ein Schwätzchen mit der Obstverkäuferin hielten. Hier kauften Studenten genauso gern ein wie einige Köche aus den besseren Restaurants, die ihre Speisekarten mit regionalen Leckereien aufhübschten.

Auf diesem Markt konnte man einfach alles kaufen, allein die Vielzahl der Tomatensorten am Gemüsestand fesselte Metas Aufmerksamkeit mehr als so manches Werk in ihrer Galerie. Sie konnte es kaum glauben, dass sie jahrelang Tür an Tür mit diesem kulinarischen Wunder gelebt hatte, ohne je dort gewesen zu sein. Glücklich über die vielfältigen Eindrücke kaufte sie sich eine Tüte gebrannte Mandeln und stellte sich ein wenig abseits neben einen exotisch anmutenden Tee- und Gewürzstand.

Mit David hatte sie keinen festen Treffpunkt auf dem Markt ausgemacht, nur eine ungefähre Zeit.Trotzdem machte Meta sich keine Sorgen darum, dass er sie in diesem Getümmel nicht finden würde. Er verfügte über die sonderbare Gabe, sie jederzeit auflesen zu können. Sie hatte sogar einen Witz darüber gemacht, dass es eigentlich an ihr wäre, wie ein Spürhund seiner fantastisch riechenden Duftspur zu folgen. Aber zu ihrem Erstaunen hatte er die Anspielung nicht besonders amüsant gefunden, sondern bloß mit erstarrtem Gesicht an ihr vorbeigesehen. Da es so gar nicht zu David passte, sie gegen eine Wand laufen zu lassen, war sie zu verblüfft gewesen, um dem auf den Grund zu gehen.

Mittlerweile ging es auf Mittag zu. Obwohl es eine Zeit lang ganz danach ausgesehen hatte, als ob die Wolkendecke aufreißen und die Sonne ihr bleiches Novemberlicht verströmen würde, hatte es sich stattdessen weiter bezogen. Nun hing ein bleifarbenes Wolkenband am Himmel, was der belebten Atmosphäre auf dem Markt jedoch keinen Abbruch tat. Die sich rasch ausbreitende Kälte, der ein leichter Frostgeruch anhaftete, schien die gute Stimmung sogar zu verstärken.

Während Meta darüber nachdachte, woraus wohl dieser leckere Überzug auf den Mandeln gemacht wurde - eine Spur von Zimt, da war sie sich sicher -, stand David auf einmal vor ihr und griff auch schon in die Tüte.

»Unverschämter Mensch«, sagte Meta und versteckte die Mandeln hinter ihrem Rücken.

David grinste und ließ kurz den rötlichen Kern zwischen  seinen Zähnen aufblitzen. »Möchtest du sie zurückhaben?«, fragte er herausfordernd, als er sie in die Arme nahm.

Wie sich herausstellte, hatte David einem der Stände bereits einen Besuch abgestattet, und ließ Meta nun raten, was er eingekauft hatte. Sie hatte sich bei ihm eingehakt, und unbekümmert schlenderten sie durch die vollen Gänge. David war direkt von der Arbeit an der alten Stadtvilla, von der er allzu gern schwärmte, zum Markt gekommen und trug immer noch seine staubige Arbeitshose. Obwohl er sich die Hände gründlich geschrubbt hatte, fanden sich schwarze Schlieren auf der Haut. Offensichtlich hatte er in den frühen Morgenstunden, als er aufgebrochen war, keine Lust gehabt, sich zu rasieren, und der dunkle Bartschatten verlieh ihm etwas Verwegenes. Ganz gleich, wie wüst er aussehen mochte, Meta konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als neben ihm herzuspazieren. Sie verspürte sogar einen Anflug von Stolz, während David sie mit seiner ruhigen Stimme erneut dazu drängte, einen Tipp abzugeben.

»Okay, noch einmal. Aber dann habe ich die Nase von der Raterei voll«, erklärte Meta. »Du warst am Fischstand, richtig? Oh, gut. Barbe,Thunfisch, Karpfen, Aal... nein.«

Bevor Meta ein entnervtes Schnaufen von sich geben konnte, öffnete David den Beutel und ließ sie einen Blick hineinwerfen: Ein wildes Durcheinander aus Fühlern und Panzern wuselte da herum. Meta wurde schwindelig. »Die leben ja noch.« Ihre Stimme war tonlos.

»Ja, aber nicht mehr lange«, erklärte David. Er stupste Meta leicht an, woraufhin diese sich kräftig schüttelte.

»Wenn du glaubst, in meiner Wohnung einen Massenmord begehen zu können, dann hast du dich getäuscht. Die lassen wir drüben beim Fluss wieder frei.«

David zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Gut, dann besuche ich heute Abend eben Rahel. Die Frau ist sich sicherlich bewusst, dass man für ein gutes Essen auch Opfer bringen muss.«

»Ich habe schon genug Opfer für dein gutes Essen gebracht: Gestern habe ich meinen Lieblings-Bleistiftrock der Schneiderin geschenkt, weil durch Auslassen nichts mehr zu retten war.« Obwohl sie sich dabei ein wenig mädchenhaft vorkam, zog Meta eine Schnute und ließ es zu, dass David zärtlich ihr Kinn umfasste und sie küsste. Erstaunlicherweise gelang es ihm dadurch viel besser als mit Worten, jeden Zweifel an ihrer Figur fortzuwischen.

Bevor sie den Markt verließen, schenkte David ihr noch einen Strauß aus cremefarbenen Rosen, deren kugelig-gebauschte Köpfe sich eng aneinanderschmiegten. Eines Nachts hatte er ihr erklärt, dass der Duft von Rosen für ihn den Moment markierte, in dem sein Leben mit ihr angefangen hatte. Obwohl er nicht verriet, welche Geschichte sich dahinter verbarg, mochte Meta den Gedanken, und so stellten die Rosen auch für sie mehr als nur ein romantisches Geschenk dar.

Vollbeladen und ein wenig erschöpft, bogen sie später auf eine Hauptstraße ein, aber als David Anstalten machte, den Weg zur U-Bahn einzuschlagen, zupfte Meta ihn am Arm. »Das Wetter ist heute so schön herbstlich. Warum gehen wir nicht einfach das kurze Stück zu Fuß?«, fragte sie. Dabei wunderte sie sich, dass es ihr tatsächlich schwerfiel, diesenVorschlag zu machen. David schien in ständiger Sorge um ihre Sicherheit - denn das glaubte sie langsam: Er fürchtete sich davor, dass ihr etwas passieren könnte. Selbst lief er dagegen immer allein zu Fuß. Er hegte eine erstaunliche Abneigung gegen jede Art von Fortbewegungsmittel, was ihn jedoch nicht davon abhielt, mit Meta zusammen stets die Bahn oder ein Taxi zu nehmen.

Auch jetzt zogen sich seine Augenbrauen wie auf Kommando zusammen. »Wenn wir uns nicht beeilen, wagen die Krustentiere noch einen Ausbruch.«

»Gut, dann bringen wir erst die Einkäufe nach Hause und machen dann einen Spaziergang.« Meta bemühte sich um einen lockeren Ton, als bemerke sie seine Sorge nicht. »Gleich in der Nähe gibt es auch einen Stadtpark, in den sich kaum jemand verirrt, mit riesigen alten Bäumen. Und einer der Seitenarme des Flusses läuft da durch, alles sehr verwunschen und geheimnisvoll. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich der Frost zwischen all dem verwilderten Geäst gehalten hat. Glaub mir, es wird dir gefallen.«

Ein Blick auf Davids versteinertes Gesicht reichte aus, um Metas Überschwang zu bremsen.

»Lass uns jetzt zu Fuß nach Hause gehen und noch ein bisschen frische Luft schnappen«, lenkte er ein. »Aber dann muss ich erst einmal aus diesen dreckigen Klamotten raus und brauche etwas Warmes zum Trinken. Das klingt zwar toll mit diesem Park, aber mir ist es heute etwas zu kalt für weitere Ausflüge. Außerdem bin ich ziemlich erledigt von der Arbeit.«

Obwohl Meta nichts von alldem glaubte - weder hatte sich David bislang besonders kälteempfindlich gezeigt, noch gelang es seinem anstrengenden Job, ihn seiner erstaunlichen Energie zu berauben -, nickte sie zustimmend. Etwas in Davids Augen hatte aufgeflackert, als sie den Park erwähnte. Etwas, das ihr einen Schauer über den Rücken gejagt hatte. Schweigend verließen sie den belebten Markt, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend.

David hielt die Einkäufe in der linken Hand, während er den freien Arm um Metas Taille gelegt hatte. Obwohl sie Stiefel mit hohen Absätzen trug, schlug er ein schnelles Tempo an, dem sie nur widerwillig folgte. Von der Seite warf sie ihm gelegentlich einen Blick zu, nur um feststellen zu müssen, dass Davids Wangen eingefallen wirkten, weil sein Kieferknochen unter einer enormen Anspannung stand. Bevor sie den Mut fand, nach dem Grund für die Eile zu fragen, erblickte sie am  Ende der Seitenstraße die Allee, in der sich ihr Wohnhaus befand. Auch David entging nicht, dass sie kurz vor dem Ziel waren, und er schenkte Meta ein schmales Lächeln, während sich der angestrengte Zug um seine Augen langsam löste.

»Kann es sein, mein Lieber, dass du auch anderen Frauen in diesem Viertel deine Aufwartung machst und es deshalb so eilig hast, die freie Wildbahn hinter dir zu lassen? DenVerdacht habe ich schon seit längerem, weil mich die ältere Dame aus dem Haus immer mitleidig ansieht, wenn sie ihren Malteser spazieren führt.«

Wie erhofft lachte David auf, ein so wunderbares Geräusch, dass Meta kurz die Augen schloss. Im nächsten Moment verlor sie fast das Gleichgewicht, als David mit Gewalt von ihr fortgerissen wurde und sie sich taumelnd in der abseitsliegenden Gasse wiederfand.