Kapitel 26
Nackt
Anscheinend hatte der Angreifer nur darauf gewartet, dass seine Aufmerksamkeit nachließ. In dem Augenblick, als sein Lachen durch die Gasse hallte, wusste David, dass er einen Fehler gemacht hatte: Er spürte die Präsenz eines anderen starken Wolfes, doch im selben Augenblick wurde ihm der Arm, der eben noch Metas Taille umfasst hatte, auf den Rücken gedreht. Er stolperte einige Schritte vorwärts, so dass er fast auf die Knie gestürzt wäre. Ehe er sich fangen konnte, hatte der Angreifer ihn umrundet, packte ihn am Revers und riss ihn mit solcher Gewalt in die Höhe, dass er aufkeuchte. Er hob den Blick und sah in die blauen Augen von Maggies Sohn Tillmann. Dieser nickte einmal kurz zur Begrüßung, dann rammte er seine Stirn in Davids Gesicht.
Eine schwarzfleckige Explosion hinter Davids Augen raubte ihm die Sicht, während sich von seiner rechten Braue aus rasant ein taubes Gefühl ausbreitete. Metas entsetzter Aufschrei drang an sein Ohr, und sofort setzte der Wolf in seinem Inneren zum Sprung an. Aber David konnte nicht zulassen, Meta in einem solchen Augenblick sein Geheimnis zu offenbaren. Erst, wenn ihm nichts anderes mehr übrigblieb.
Deshalb brachte David all seine Kraft auf, um den Dämon davon abzuhalten, Gestalt anzunehmen und sich auf jeden zu stürzen, der Meta in irgendeiner Form bedrohte. Der Wolf wollte trotzdem ausbrechen und setzte bei diesem Versuch eine ungeahnte Energie frei. David glaubte, in einen Strudel gerissen zu werden, in dem er nicht mehr zwischen seinem Willen und dem des Dämons unterscheiden konnte. Wäre Metas Furcht nicht gewesen, hätte David vermutlich Tillmanns brutalen Angriff vergessen vor lauter Erstaunen darüber, zu welcher Macht der Dämon seit dem Ritual gelangt war. In den letzten Wochen hatte sich der Wolf so unauffällig verhalten, dass er dessen schiere Existenz gar nicht mehr bedacht hatte. Nun begriff David, dass Maggie Recht gehabt hatte: Er war kaum imstande, die Macht des Dämons zu beherrschen. Gerade, als er glaubte, sich dem Willen des Wolfes unterwerfen zu müssen, zog dieser sich zurück und hinterließ einen vor Fassungslosigkeit und Erschöpfung gelähmten Mann.
Abwartend hielt Tillmann David an der Jacke fest, wobei sich seine Finger durch das Leder gruben, als suchten sie das nackte Fleisch.Trotzdem war David froh über den festen Griff, andernfalls wäre er zu Boden gesunken, immer noch unfähig, die Kontrolle über seine Gliedmaßen zurückzuerlangen.
Schließlich packte Tillmann ihn unter dem Kinn und zerrte seinen Kopf in den Nacken, bis David seinen Blick erwiderte. »Was ist los mit dir? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du doch ganz wild auf ein Dominanzspielchen. Und jetzt klappst du zusammen, wenn ich dich nur einmal anticke? Ist es wirklich so leicht, dich zu unterwerfen?«
Obwohl David sich bemühte, den unterlegenen Eindruck aufrechtzuerhalten, erkannte Tillmann die Wahrheit. Er lockerte den Griff um Davids Kinn, der sich sofort nach Meta umsah. Aber der Spielraum, den Tillmann ihm ließ, reichte nicht aus, um einen Blick auf sie zu werfen. Außerdem lief ihm Blut von seiner Braue ins Auge, wo Tillmanns Stirn ihn getroffen hatte.Vor Verzweiflung hätte David am liebsten aufgebrüllt, denn er wagte es nicht, die Hilfe des Wolfes in Anspruch zu nehmen. Nicht einmal, um Tillmann einen kräftigen Stoß zu verpassen, damit er endlich seine Pfoten von ihm nahm. Der Dämon würde jede Gelegenheit nutzen, um hervorzubrechen und Gestalt anzunehmen. Dann könnte er vor Meta nicht länger leugnen, was er war.
Die Anspannung auf Davids Zügen beobachtend, sagte Tillmann: »Du hast wegen der Frau den Schwanz eingezogen, richtig? Nun gut, ihr wird nichts passieren, zunächst jedenfalls nicht. Jagau sorgt lediglich dafür, dass sie während unserer kleinen Unterredung nicht abhaut. Ich schlage also vor, dass du schön stillhältst, während ich rede. Dann sehen wir weiter.«
Langsam zog Tillmann seine Hand zurück, und als er feststellte, dass David sich auf den Handel einließ, betrachtete er ihn eingehend. David umgab die Macht des Dämons wie ein vibrierendes Feld. Davon war Tillmann angezogen, zugleich machte ihn Davids starker Wolf aggressiv. »Möchtest du denn gar nicht wissen, warum ich mir die Mühe dieses kleinen Überfalls ausgerechnet heute gemacht habe?«
»Behalt es für dich«, forderte David ihn leise auf.
Es war die Verachtung, die in den Worten mitschwang, die Tillmann ausholen ließ. Er traf David knapp unter dem Rippenbogen.
Im Hintergrund schrie Meta heiser auf.
Mit einem Schlag entwich David die Luft aus der Lunge, und es dauerte einen Moment, bis er sich wieder aufrichten konnte. Der Schmerz rief erneut den Wolf auf den Plan, der sein Temperament angesichts dieser Herausforderung kaum zügeln konnte. Ein brennendes Verlangen breitete sich in David aus, den Mann vor sich auf seinen Platz zu verweisen. Auch wenn Tillmann einen starken Wolf in sich barg, so zweifelten weder David noch sein Dämon daran, ihm überlegen zu sein. Doch im Gegensatz zu seinem Wolf war David nicht im Geringsten daran interessiert, das Leben an Metas Seite seinem verletzten Stolz zu opfern.
»Maggie hat mir erlaubt, mich in ihremViertel aufzuhalten. Hat sich irgendetwas daran geändert?«, fragte David in der Hoffnung, dass Meta möglichst wenig von dieser Unterhaltung mitbekam, obwohl er ahnte, dass sie dafür viel zu nahe bei ihnen stand.
»Du meinst wohl ihr Revier, du Arsch«, erwiderte Tillmann auch sogleich laut und deutlich. »Aber leider ist es nicht mehr lange Maggies Revier, denn in weniger als zwölf Stunden werden wir unter Hagens Herrschaft fallen. Meine Mutter hielt es für besser, dem Teufel ihre Seele zu verkaufen, als von ihm gefressen zu werden. Denn genau das hätte Hagen mit ihr gemacht, auch wenn dieser aalglatte Parlas das natürlich in eine diplomatische Umschreibung gepackt hat. Hagen wird also nicht unser neuer Herr und Meister, sondern unser Beschützer. Zumindest so lange, bis er unser Revier kennt und es wagen kann, den ersten Schlag gegen Sascha auszuführen.«
Die Nachricht schockierte David, und zum ersten Mal warf er Tillmann einen aufmerksamen Blick zu. Hinter seiner Wut versteckte der Mann eine tiefe Verletztheit, die durch die Entscheidung seiner Mutter und Rudelführerin ausgelöst worden war. Dabei ging es um mehr als um gekränkten Stolz; es war der Glaube, verraten worden zu sein. Im Gegensatz zu Tillmann begriff David jedoch, dass Maggie keine andere Möglichkeit gehabt hatte. Für einen Moment überkam ihn eine Welle von Mitleid, und er vergaß, dass Meta sich in Hörweite befand. »Wenn Maggie abgelehnt hätte, hätte Hagen nicht nur sie getötet, sondern euer halbes Rudel ausgemerzt, jeden, der seinen Anspruch gefährden könnte.«
Tillmann lachte bitter. »Kein Wunder, dass Maggie einen solchen Narren an dir gefressen hat - du könntest wirklich ihr Sohn sein. Zumindest bist du ihr ähnlicher, als ich es bin. Und im Gegensatz zu deiner Anwesenheit kann sie auf meine sogar verzichten. Ich darf mich nämlich bis zur Übergabe absetzen. Ich gehe zu einem der kleineren Rudel außerhalb der Stadt. Zumindest hat meine Mutter das so verhandelt. Bevor ich aber mein Revier verlasse, wollte ich mich noch von dir verabschieden. Soll ich dir sagen, warum mir das so besonders wichtig ist?«
Mittlerweile war jedes andere Gefühl in Tillmann anscheinend wieder seinem gleißenden Zorn gewichen. Es sah fast so aus, als verlöre er gleich die Selbstbeherrschung und fiele David an. Mühsam sog Tillmann Luft durch die Zähne ein, dann sagte er mit vor Zorn brüchiger Stimme: »Es ist deine verdammte Schuld, dass Maggie sich so lange zurückgehalten hat, bis nichts mehr ging. Du hattest ihr versprochen, dass sich das Problem mit Hagen lösen würde, bevor er uns überrennt. Sie hat dir geglaubt, weil du stark genug bist, dieses verrückte Schwein zur Strecke zu bringen. Aber es war eine Lüge. In Wirklichkeit bist du nur daran interessiert, das Schoßhündchen von dieser Frau da zu spielen. Dein eigenes Rudel ist dir scheißegal, wie kann man da erwarten, dass dir unseres etwas bedeutet?«
Die Worte trafen David ungeahnt hart. Aus dieser Perspektive hatte er die Situation noch nie betrachtet. Zu fremd war er unter seinesgleichen gewesen. Erst an Metas Seite hatte er sich das erste Mal in seinem Leben vollständig gefühlt. Mit einem Mal haftete den letzten Wochen, die seine glücklichsten gewesen waren, ein schaler Beigeschmack an. Und obwohl David es besser wusste, fühlte er sich wie ein elender Verräter.
»Weiß deine Freundin eigentlich, was du bist? Nein? Hat sie nicht einmal eine Ahnung, wer ihr da das Bett warm hält?« Tillmann hielt inne, dann senkte er das Kinn auf die Brust und sah David gehässig an.
Eine Sekunde später traf Tillmann ein Faustschlag im Gesicht. Er taumelte verblüfft zurück, wobei ihm das Blut aus der Nase spritzte. Doch bevor David ihn weiter attackieren konnte, schrie Meta empört auf. Augenblicklich wirbelte David herum und sah, wie der gedrungene Mann namens Jagau ihren linken Oberarm mit festem Griff umfangen hielt. Ungläubig starrte sie den Mann an, der ihr soeben mit voller Absicht Schmerzen zugefügt hatte, als sie David zu Hilfe eilen wollte.
Plötzlich packte Tillmann ihn mit unmenschlicher Kraft und drehte seinen Arm auf den Rücken. Die Schmerzen, die seinen Körper dabei durchfuhren, lediglich wie ein fernes Glimmen wahrnehmend, versuchte David, sich mit aller Kraft dem Griff zu entwinden. Tillmann, über dessen Haut ein Schatten tanzte, hielt dagegen.
»Wenn du nicht sofort stillhältst, wird mein Freund deiner Schönen das Genick brechen, und zwar ehe du sie erreichen kannst. Ganz gleich, wie schnell du bist, er wird schneller sein. Hast du das begriffen?«
Anstelle einer Antwort gab David seine Gegenwehr auf, den Blick auf Meta gerichtet, die ihn voller Entsetzen und Unverständnis ansah. Schreckensbleich war sie zwischen der Häuserwand und ihrem Wächter eingezwängt. Sie hielt den Rosenstrauß, den er ihr vor einer halben Ewigkeit, wie es ihm schien, geschenkt hatte, an ihre Brust gepresst. Beinahe so, als ob sie jeden Moment zerfallen würde, wenn sie sich nicht länger daran festhielt.
»Tief in deinem Innersten sträubt sich doch sicherlich alles dagegen, dein Menschleben mit einer Lüge zu beginnen, oder, David?«, fuhr Tillmann unterdessen fort, die Stimme heiser vor unterdrückter Genugtuung. »Ich werde dir einen Gefallen tun und dir helfen: Ich locke deinen Wolf für dich hervor, damit deine Liebste sich ihn einmal anschauen kann. Schließlich besitzt du doch diese besondere Gabe, dich von ihm zu trennen. Sehr anschaulich. Was denkst du, wie ihr der Schattenwolf gefallen wird?«
Mit diesen Worten gab Tillmann seinen Arm frei und schritt an ihm vorbei. Als er Meta erreichte, ließ Jagau ihren Arm los und zog sich zurück.Tillmann baute sich vor der regungslosen Meta auf, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, sie eingängig begutachtend.
»So sehen also Frauen aus, die sich mit Raubtieren einlassen, anstatt vor ihnen zu fliehen.«
Seinem Ton wohnte etwas so Anzügliches inne, dass Meta ihren Blick kurz vom am ganzen Leib bebenden David losriss, um den Mann, der bedrohlich nahe an sie herangetreten war, zu mustern.
Tillmann grinste sie boshaft an. »Erstaunlich. Normalerweise macht ihr immer einen weiten Bogen um uns, als würdet ihr ahnen, dass wir in euch bestenfalls ein unterhaltsames Spielzeug sehen. Aber wahrscheinlich magst du es auf die harte Tour, was?«
»David, wovon redet dieser Mensch?« Metas Augen waren vor Schrecken so weit aufgerissen, dass die grün schimmernden Seen ihrer Iris freilagen.
Ihre Panik und Abscheu, die David wie eine schwarze Flut entgegenschlug, drohte ihn unter sich zu begraben. Er spürte, wie ihn der Mut verließ. Selbst wenn Tillmann sich jetzt abwandte und ging, so würde Meta ihn, nachdem sie den ersten Schrecken verwunden hatte, verlassen. Er hatte sie verloren. Die Verzweiflung paarte sich mit Wut, und dieses Mal unterdrückte David sie nicht. Augenblicklich wurde der Wolf hervorgelockt und tanzte über Davids Haut wie ein dunkler Schemen. Noch einmal sah er Tillmann warnend an. »Tu das nicht«, sagte er mit einer Ruhe, die angesichts der Aufruhr in seinem Inneren unmöglich schien.
Tillmann zögerte nur kurz. »Das hast du dir selbst zuzuschreiben«, sagte er und verpasste Meta einen Schlag gegen die Schläfe.
Meta gab ein schwaches Keuchen von sich, als sie durch die Wucht des Schlages mit Gesicht und Schulter gegen den rohen Stein schlug. Der Rosenstrauß glitt ihr aus den Händen, und sie trat darauf, als sie sich benommen von der Wand abstützte. Tillmann zerrte sie herum und schlang seinen Arm um ihren Oberkörper, so dass sie nicht ohnmächtig in sich zusammensinken konnte.
David sah, wie sich Metas Stirn und Wange bereits rot verfärbten, dort, wo sie gegen den Stein geprallt war. Tillmann fasste ihr ins Haar und riss ihren Kopf nach hinten. Blitzschnell glitt seine Hand unter den Rollkragen ihres Pullovers und zog den Stoff herunter, bis ihre helle, pochende Kehle zu sehen war. Noch ehe David den Wolf freigeben konnte, brach der Dämon eigenständig mit einer solchen Impulsivität aus ihm heraus, dass er glaubte, es zerreiße ihn. Doch in diesem Moment war ihm das vollkommen gleichgültig.
In dem Augenblick, als David gewaltsam von ihr fortgezerrt worden war, hatte Meta kaum mitbekommen, dass sie beide tatsächlich angegriffen wurden. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie bedroht, geschweige denn grob angepackt worden. Doch mehr als die Gewalt hatte sie etwas anderes schockiert: Die Augen der Angreifer leuchteten in demselben Blau wie Davids.Wie die Augen des Jungen, der sie neulich in der Galerie besucht hatte.Was waren das nur für Menschen? Der Schmerz, als Tillmanns Faust sie an der Schläfe traf und ihr Gesicht gegen die Mauerwand schlug, wischte ihre Benommenheit weg. Sie brauchten Hilfe. Jetzt, sofort.
Meta spürte, wie kräftige Hände nach ihrem Körper fassten, ihr den Kopf in den Nacken zerrten, so dass sie nur noch den Winterhimmel sehen konnte. Der Griff war derartig hart, dass sie nicht einmal mit dem Gedanken spielte, sich ihm zu entziehen. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, nach Hilfe zu rufen. Sie blendete alles aus - Schmerz, Verwirrung. Übrig blieb die Gewissheit, dass ein Hilferuf nicht ungehört verhallen würde, und Meta gab ihr ohne Zögern nach. Alles, was sie tun musste, war zu rufen. Als ihr der eigene Schrei in den Ohren gellte, stellte sie verwirrt fest, dass sie den Mund gar nicht geöffnet hatte.Trotzdem erscholl sogleich eine Antwort: ein ohrenbetäubendes Tosen. Jede Faser ihres Körpers reagierte auf dieses unwirkliche Geräusch, das sie mit allen Sinnen gleichzeitig wahrzunehmen schien.
In ihrem Nacken stieß Tillmann ein unmenschliches Knurren aus, mit dem auch David seinen Unmut kundtat. Während Tillmann den Griff um ihre Kehle verstärkte, veränderte sich die Art seiner Berührung: Etwas durchfuhr seine Hand, drang in sie ein und durch sie hindurch. Eine unnatürliche Energiewelle, die Meta erschaudern ließ, obwohl sie ihr so vertraut vorkam - sie kannte die Quelle dieser Macht, war schon von ihr berührt worden. Zwischen Tillmanns Hand und ihrer Haut hatte sich der Schatten ausgebreitet, so dass er ihre Kehle mit Leichtigkeit zerquetschen könnte. Mit derselben Leichtigkeit, mit der David damals die Metalltür hatte aufspringen lassen.
Ohne zu begreifen, was sie tat, griff ein Teil von Meta nach dieser sich zu einem Schemen verdichtenden Energie und lud sie ein. Als der Schatten ihre Einladung annahm, wurden in ihrer Seele Räume aufgestoßen, von denen sie bislang keine Vorstellung gehabt hatte. Lichtdurchflutet und weit. Wie ein Wirbelsturm tobte Tillmanns Schatten durch diese Räume, als habe er sich noch nie zuvor so frei und glücklich gefühlt. Zuerst wollte sich Meta sträuben, die Türen wieder zuschlagen, einfach, weil es nicht sein durfte. Dann erkannte sie, dass es nur ungewohnt war, diese fremde Macht in sich zu tragen, und ließ es geschehen. Als der Schatten sie endlich verließ, schlossen sich die Türen in Metas Innerem zwar wieder, aber sie waren nicht verriegelt.
Die Anspannung, unter der Tillmann gestanden hatte, war plötzlich wie gelöst. Auch der Griff in ihrem Haar lockerte sich, so dass Meta endlich ihren Kopf senken konnte. Augenblicklich stieß David ein beschwörendes »Nicht hinschauen« aus, aber im selben Moment sah sie den riesigen Wolf, der sich direkt vor ihr zum Angriff aufgebaut hatte.
Mein Wolf, dachte Meta, als sie ihn wiedererkannte. Mein Wolf, der mich auf meinem Spaziergang durch dunkle Straßen begleitet hat. Dann begriff sie, dass das Wesen vor ihr nicht existierte, zumindest nicht auf die gleiche Art wie sie. Die Gestalt war nicht mehr als ein Schemen, eine Ahnung von einem Wolf. Trotzdem strahlte er eine ungeheure Energie aus. Seine Fänge und die sich unter dem bleigrauen Fell abzeichnenden Muskeln waren Waffen, denen niemand widerstehen konnte. Alles in diesem Schattenwolf drängte zum Angriff - allerdings nicht auf Meta, sondern auf Tillmann, der immer noch dicht hinter ihr stand, fast ein wenig selbstvergessen.
Nur mit Mühe gelang es Meta, den Blick von dem lauernden Wolf abzuwenden und zu David hinüberzusehen, der reglos einige Schritt hinter der Kreatur stand. Seine Gesichtszüge zeigten eine Verzweiflung, die Meta nicht begreifen konnte. Sie wollte ihm Trost zukommen lassen, die Versicherung, dass nun alles gut werden würde, doch all ihre Aufmerksamkeit wurde von dem tänzelnden Schatten eingenommen. Meta blickte dem Wesen, das auf eine lautlose Art zu ihr sprach, in die Augen und erkannte in deren Tiefen, als würde sie eine Ewigkeit in eine Nebelwand starren, plötzlich zwei blaue Leuchtfeuer. Da verstand sie: Dieses Wesen war ein Teil von David. Und es wollte ein Teil von ihr sein. Die Bitte war von einer solchen Dringlichkeit, dass es Meta fast das Bewusstsein raubte. Es war mehr, als sie ertragen konnte.
»Ruf deinen Wolf zurück«, forderte Tillmann unterdessen David mit brüchiger Stimme auf und trat langsam einige Schritte hinter Meta zurück. »Ich weiß nicht, was hier eben passiert ist, aber ich denke, wir sind quitt.«
Zuerst reagierte David gar nicht, dann nickte er lediglich und schloss die Augen. Der Schattenwolf, der vor Meta stand, als warte er nur darauf, dass sie ihn endlich berührte, machte widerwillig kehrt und schritt auf seinen Herrn zu. Ungläubig schaute Meta dabei zu, wie der Wolf mit David verschmolz.
»Ich habe keine Ahnung, wozu deine Lady imstande ist. Aber was immer es auch ist, der Wolf mag es. Du bist wirklich stets für eine Überraschung gut, David. Jetzt kann ich fast verstehen, warum Maggie einen solchen Narren an dir gefressen hat.« Einen Moment blieb Tillmann stehen, dann wandte er sich ab und verschwand mit seinem Kumpanen so plötzlich, wie sie beide aufgetaucht waren.
David stand mit geschlossenen Augen da, reglos, als nehme er alles hin, was nun geschehen mochte. Verzweifelt suchte Meta nach Worten, um ihn zu erreichen, aber es gelang ihr nicht einmal, einen Schritt zu tun. Zu verwirrend, zu überwältigend waren die letzten Minuten gewesen, ihre ganze Welt war auf den Kopf gestellt worden. Und sie ertastete immer noch die Weite in ihrem Inneren, die nun, da der Schatten zu Tillmann zurückgekehrt war, verwaist in ihr lag.
»Es tut mir leid. Ich habe wirklich geglaubt, ich könnte den Wolf vor dir verheimlichen«, sagte David kaum hörbar. Er trat auf Meta zu und bückte sich. Zuerst sah es aus, als wolle er den Rosenstrauß aufheben, aber dann richtete er sich lediglich wieder auf. Kein Blick, keine Berührung. »Du brauchst jetzt keine Angst mehr zu haben, Tillmann ist fort und wird dich nicht wieder belästigen. Keiner von uns wird das noch einmal tun.« Mit diesen Worten machte er auf der Stelle kehrt und ging fort.
Nein, bleib!, wollte Meta ihm zurufen, aber ihre Lippen waren wie versiegelt. Als sie die Starre endlich abgestreift hatte und ihm hinterherlaufen wollte, stolperte sie über den Rosenstrauß und fiel auf die Knie. Unfähig, sich wieder zu erheben, begann sie zu weinen.