Kapitel 19
Schwierige Entscheidungen
Eigentlich war der Tag, seit sie ihre Wohnung nach dem gemeinsamen Frühstück mit David verlassen hatte, bislang unerwartet angenehm verlaufen: Als Meta in Begleitung der Malerin Camille die Galerie betreten hatte, stand Sol bereits Parade. Der junge Mann war eine wahre Augenweide, mit einer Figur von irritierender Ebenmäßigkeit, die Proportionen harmonierten vollkommen. In das prägnante Gesicht passte die schwarze Hornbrille mit den ovalen Gläsern, als wäre sie extra dafür angefertigt worden. Er trug einen schmal geschnittenen Anzug und ließ beim Anblick der beiden Frauen seinen ganzen Charme spielen. Seine dunklen Augen glitzerten vor Freude, und er klatschte tatsächlich einmal kurz in die Hände, als hätte er nichts sehnlicher als ihre Ankunft erwartet.
Meta hatte den jungen Burschen in Eigenregie direkt von der Uni weg eingestellt, nachdem Eve in den letzten Wochen erstaunlich wenig Zeit in der Galerie verbrachte und sich zunehmend als Rinzos rechte Hand verstand. Sols einnehmendes, wenn auch leicht überdrehtes Naturell hatte sie überzeugt, da die Atmosphäre in der Galerie dringend einen Ausgleich zu Eves versnobter Art gebrauchen konnte. Außerdem hatte sie rasch seine offene Haltung sowohl gegenüber Kunst als auch gegenüber der Käuferklientel zu schätzen gelernt.
Camille dagegen, deren Küstenaquarelle Meta vor kurzem verkauft hatte, war eine dieser nüchtern veranlagten Menschen, an denen Charme aus Prinzip abprallt. Anstatt auf Sols Gezirpe einzugehen, erwiderte sie schlicht, dass sie das Wetter auch angenehm fand und gern einen Kaffee trinken würde. Daraufhin faltete Sol die Hände und lächelte einen Moment lang eisern weiter: »Kaffee - eine sehr schöne Wahl.«
»Ein netter Junge«, bemerkte Camille, ohne eine Miene zu verziehen. Trotzdem meinte Meta, einen amüsierten Unterton herauszuhören. Zwar war es äußerst schwierig, in Camilles neutraler Art verschiedene Schattierungen auszumachen, doch Meta glaubte, dass sich da eine rabenschwarze Färbung erkennen ließ. Diese ältere Frau mit ihren weichen Körperrundungen und dem praktischen Kurzhaarschnitt verfügte über einen äußerst trockenen Humor.
Nachdem sie einen Rundgang durch die Galerie gemacht hatten, zogen sie sich in Metas Büro zurück, um eine größere Zusammenstellung von Camilles Arbeiten zu besprechen. Auf dem Weg zur Kaffeemaschine, wo Meta Nachschub holen wollte, trat Rahel an ihre Seite und schenkte ihr ein Lächeln.
»Ich wollte nur einmal hören, wie die Einladung gestern gelaufen ist. Bist du wieder im Liebesrausch mit Karl?«
Seit dem Abend, an dem sie sich gemeinschaftlich auf dem Küchensofa einen Schwips angetrunken und Geheimnisse ausgetauscht hatten, hatte Meta Rahel fast nur im Vorbeilaufen gesehen. Die letzten Tage waren hektisch gewesen: Meta hatte neben den normalen Geschäftsaufgaben auch die Dinnerparty vorbereiten müssen, während Rahel auf den Glockenschlag zu ihren Theaterproben verschwunden war, da man auf die Premiere zusteuerte. Wenn sie trotzdem die Gelegenheit gefunden hatten, ein paar Sätze auszutauschen, war Rahel so freundlich wie immer gewesen.Trotzdem hatte Meta das Gefühl, dass sich seit jenem Abend etwas verändert hatte. Entgegen ihrer sonstigen Art war Rahel mit einem Mal seltsam zurückhaltend, was auch durch ihre direkt formulierte Frage nach Karl nicht überspielt werden konnte.
»Ach, Karl …«, fing Meta an und wusste dann nicht, wie sie fortfahren sollte. Seit dieser Mann letzte Nacht ihre Wohnung verlassen hatte, hatte sie keinen weiteren Gedanken an ihn verschwendet. All ihre Sinne waren viel zu sehr mit einem anderen Exemplar seines Geschlechts beschäftigt gewesen. Allerdings waren es tatsächlich nur ihre Sinne, die um David kreisten, da Meta sich jeden vernunftgeleiteten Gedanken verbot.Wenn sie anfing, über die gestrigen Geschehnisse nachzudenken, würde sie vermutlich den Tag nicht überstehen und vielleicht am Abend nicht den Weg zurück in ihre Wohnung finden, wo David sie zu einem Gespräch erwartete. Ein Gespräch, das um blutbespritzte T-Shirts und die Frage, wie es nun mit ihnen weitergehen sollte, kreisen würde. Mit einem Anflug von Panik konzentrierte sich Meta wieder auf Rahel. »Karl hat wohl endgültig begriffen, dass ich an einer aufgewärmten Beziehung nicht interessiert bin. Daraufhin hat er schlagartig sein Interesse an einer Freundschaft verloren.«
Rahel versuchte, ihr Lächeln aufrechtzuerhalten, doch es misslang ihr. »Wenn ich Karl richtig einschätze, hat es wohl einer ordentlichen Demonstration bedurft, um ihm klarzumachen, dass seine Chancen mau aussehen?«, fragte sie langsam, als wäre sie sich unsicher, ob sie die Antwort überhaupt hören wollte.
»Ja, da hast du Recht. Aber das ist eine schwierige Geschichte, und ich muss jetzt wirklich wieder zurück zu meinem Besuch.« Meta hoffte inständig, dass ihre rot verfärbten Wangen sie nicht verrieten. Seit sie sich dazu hatte hinreißen lassen, Rahel von diesem eingebildeten Schatten zu erzählen, der angeblich aus Davids Fingerspitzen gekommen war, fühlte sie sich jedes Mal verunsichert, wenn sie Rahel sah.Vermutlich auch ein Grund, warum sie kaum miteinander gesprochen hatten.
»Gut, wie du meinst«, sagte Rahel.Trotzdem hielt sie Meta am Ellbogen fest, als diese sich zum Gehen wenden wollte. »Meta, das klingt jetzt bestimmt ein wenig schräg, aber wenn dieser David wieder bei dir auftauchen sollte, dann sag mir bitte Bescheid. Nicht, dass ich dir Angst machen will, aber ich möchte da gerne etwas mit dir besprechen, bevor du dich weiter auf diesen Mann einlässt, ja?«
Statt einer Antwort warf Meta hektisch einen Blick über die Schulter. »O nein! Ich habe Camille in meinem Büro mit den Arbeiten von diesem Pornografen allein gelassen, der sich für einen Fotokünstler hält. Ich will die gute Frau doch nicht verschrecken!«
Ungeachtet des überschwappenden Kaffees hastete Meta mit langen Schritten zurück in ihr Büro, wo Camille vor dem Fenster stand und die Betonwand betrachtete.Als sie sich umdrehte, sah es zunächst so aus, als wolle sie eine Bemerkung über die seltsame Aussicht machen, doch dann verfing sich ihr Blick an der von Metas Händen tropfenden Kaffeespur.
»Ich hoffe, Sie haben sich nicht verbrannt?«
Meta schüttelte nur stumm den Kopf, während sie Papiertücher aus einer Box zupfte.
Den Rest des Tages brachte sie eiserne Disziplin auf, um ja keinen Gedanken an David oder Rahels Worte zu verschwenden. Sogar Eve, die am Nachmittag mit einer Grabesmiene die Galerie betreten und den unerschütterlich freundlichen Sol ignoriert hatte, hielt sich zum Glück mit beißenden Kommentaren zurück. Denn diese hoch konzentrierte Geschäftsfrau, die mit ihrem Handy am Ohr durch die Räume eilte, hatte schließlich nicht das Geringste mit jener Meta zu tun, die ihren jungen Liebhaber auf so spektakuläre Weise in die Gesellschaft eingeführt hatte. Nun, es würde noch genügend andere Möglichkeiten geben, bei denen Eve ihr zu verstehen geben konnte, dass dieser Abend sie als absolut niveaulos geoutet hatte.
Der Tunnelblick, den Meta aus Selbstschutz aufgesetzt hatte, wich erst, als sie sich am frühen Abend vor der schweren Holztür ihres Wohnhauses wiederfand. Nun rächten sich die unterdrückten Ängste, indem sie Meta schlagartig bestürmten und ein heilloses Durcheinander in ihrem Kopf anzettelten. Einen Moment lang glaubte sie, kaum den Mut zu finden, um einzutreten.Alles kein Problem, redete sie beruhigend auf sich ein. Wenn du nicht möchtest, musst du das blutige T-Shirt nicht sofort ansprechen. Und dieses unmenschliche Knurren, das er ausgestoßen hat, braucht heute Abend kein Thema zu sein.Vielleicht ist er ja auch gar nicht mehr da.
Den letzten Gedanken bereute Meta sofort, da sich zu ihrer Mutlosigkeit nun außerdem die Furcht gesellte, dass David auf und davon sein könnte - und diese Vorstellung fand sie weit schlimmer als den Gedanken an eine Auseinandersetzung, die gewiss viel Unerfreuliches über sein Leben zutage fördern würde. Er ist da, ganz bestimmt, wiederholte sie wie ein Mantra. Vor ihrer Wohnungstür versuchte sie, sich noch einen vernünftigen Schlachtplan zurechtzulegen, doch da schwang die Tür auf, und David erschien im Rahmen.
»Ich hatte schon befürchtet, du würdest das Ergebnis meiner Kochkünste bis zur Straße riechen und schleunigst wieder umkehren«, sagte er leichthin, aber Meta entging nicht der ernste Zug um seine Augen.
Während sie eintrat und er ihr aus dem Mantel half, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass David ein neues Oberteil trug. In ihrer Verwirrung erschien es Meta wie ein rettender Anker.
»Du bist einkaufen gewesen?«, fragte sie und packte den Saum des T-Shirts, wobei sie vorgab, lediglich den arg verblichen Aufdruck lesen zu wollen. In Wirklichkeit nutzte sie die Gelegenheit, näher an ihn heranzutreten und sich von seiner körperlichen Nähe beruhigen zu lassen. »Creedence Clearwater Revival - sind die nicht ein bisschen zu alt für dich?«
»Ja, aber ich habe nichts gegen ein bisschen zu alt für mich«, sagte David mit seiner leisen, leicht herben Stimme, die ihr jedes Mal einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. »Dieser Tante-Emma-Laden einige Straßen von hier hatte tatsächlich eine paar verstaubte Exemplare im Hinterzimmer gelagert. Vermutlich warten die schon seit Jahrzehnten auf einen Käufer. Ich hoffe bloß, dass die Lebensmittel, die ich dort gekauft habe, nicht genauso lange herumgelegen haben.«
Sanft umfasste er ihre Hüfte und wollte sie in Richtung Küche lenken, doch Meta drängte sich rasch an seinen Körper und ließ ihre Hand unter den Stoff des T-Shirts gleiten. »Die Anspielung auf ein bisschen zu alt eben war ganz schön frech. Wenn du möchtest, dass ich das sofort wieder vergesse, dann solltest du dich jetzt mal ordentlich anstrengen.«
Meta nahm ein paar der feinen Haare unterhalb seines Bauchnabels zwischen die Fingerspitzen und zupfte kräftig daran. Einen Augenblick lang sah David sie an, als wolle er Einspruch erheben, aber dann küsste er sie. Erst zärtlich, fast ein wenig neckend, aber schon bald so eindringlich, dass Meta keine Gelegenheit mehr fand, ihn weiter zu piesacken. Stattdessen fuhren ihre Finger über die warme Haut seines Rückens, und sie spürte einen Anflug von Erleichterung. Das Gespräch war vertagt, sie musste weder Fragen stellen noch Entscheidungen treffen.
Die Zahnbürste achtlos im Mund auf und ab bewegend, lauschte Meta auf den Radau, den David in der Küche veranstaltete. Als sie gestern Abend endlich voneinander abgelassen hatten, war es Meta gerade noch gelungen, einige Löffel von den Bratkartoffeln zu essen, die David zubereitet hatte, dann hatte sie sich zurück in die Kissen gelegt und war eingeschlafen.
Die Aufregung der letzten Tage und der versäumte Schlaf fordern ihren Tribut, hatte Meta sich beim Aufwachen gesagt. Doch irgendwie ließ sich das schale Gefühl nicht verdrängen, dass sie einfach nur versucht hatte, David aus dem Weg zu gehen. Das war natürlich Unsinn, denn näher, als sie ihm letzte Nacht gekommen war, ging es wohl kaum.
Unwillkürlich überkam sie die Erinnerung: David liegt auf ihr, stemmt sich dann ein Stück in die Höhe und sieht sie mit einem prüfenden, leicht abweisenden Blick an. Etwas geht ihm durch den Kopf, das ihm nicht gefällt, und er sucht in Metas Gesicht nach einer Antwort. Sie stört die Distanz, schlingt die Arme um seinen Nacken, zieht ihn zu sich hinab. Er ist widerwillig, verspannt.Als sich die Lücke zwischen ihren beiden Körpern schließt, grummelt er leise. Ihre Haut trifft aufeinander, wärmt sie beide. Vorsichtig fährt sie mit ihren Lippen über seine Wange, leckt über seinen Mundwinkel, während sie ihre Hüften fordernd bewegt. Sie tut alles, damit er sich nicht noch einmal von ihr löst und sie nachdenklich mustert. Er soll sich im Jetzt verlieren, sich genauso gedankenlos der Leidenschaft hingeben, wie sie es tut. Alles andere macht ihr schreckliche Angst. Augenblicklich presst sie ihren Mund auf seinen, ein wenig grob, doch er beschwert sich nicht. Sie spürt im Kuss, wie er endlich die Augen schließt und sich ihr hingibt. Sie winkelt das eine Bein an, streichelt mit der Ferse über seine Oberschenkel. Aber all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich eine Leere in ihr ausbreitet, die David so nicht zu füllen vermag.
Dieser Leere musste sie sich stellen, das war ihr nun klar.
Meta drehte den Hahn auf, führte die Hand unters kalte Wasser und wusch sich langsam das Gesicht. Als sie sich wieder aufrichtete, strich sie sich mit den noch nassen Handflächen die Haare nach hinten, griff nach einem Band und fasste es im Nacken zusammen. Regungslos betrachtete sie ihr Gesicht, die ersten feinen Vertiefungen um die Augen herum und die senkrechte Linie über der Wurzel der rechten Braue, die jedes Mal verrutschte, wenn sie sich über etwas ärgerte. Die Schatten unter den Augen, die sie jeden Morgen schon fast mechanisch mit einem Concealer abdeckte, die von Natur aus blass rosafarbenen Lippen und das ovale Muttermal auf der Wange, das auch Emma zierte.
Seit wie vielen Jahren sah sie sich schon an, ohne wirklich bei sich zu sein? Diese trügerische Zufriedenheit, in der sie bislang gelebt hatte, wann hatte die eingesetzt? Wann war jener Zeitpunkt gewesen, den die junge begeisterungsfähige Frau verpasst hatte, an dem sie den nächsten Schritt hätte gehen müssen? Als sie ihre eigenen Gedanken der verführerischen Selbstsicherheit Rinzos unterworfen hatte? Als sie Karl zum ersten Mal das Recht eingestanden hatte, ihr eine Persönlichkeit anzudichten, die sie immer weiter von sich selbst entfernte? Sie war freiwillig zurückgetreten, anstatt ihren Lebensweg zu gehen, das war ihr schon seit längerem bewusst. Dabei war ihr die schillernde, betörend lebendig scheinende Welt der Kunst noch vor einigen Jahren, als sie mit Rinzo die Galerie aufgebaut hatte, wie ein Paradies vorgekommen. Niemals hatte sie damit gerechnet, diesem Lebensstil zu entwachsen. All die schicken Bekannten, die aufregenden Orte und die mitreißenden Themen, um die es immerzu ging. Als sich die ersten Risse in der perfekt geglaubten Welt auftaten, hatte sie sie voller Schrecken zu verbergen versucht. Doch mit jedem Jahr, mit jedem Monat, den sie genauer hingesehen hatte, war der Drang, einen Schritt weiterzugehen, stärker geworden. Trotzdem hatte sie diesen Schritt lange Zeit nicht getan - dabei hatte sie sich immer für eine starke Persönlichkeit gehalten. Meta wandte den Blick von ihrem grübelnden Spiegelbild ab.
Die Küche war verlassen, nur die Kaffeemaschine arbeitete. Aus dem Wohnzimmer drangen die Klänge der Instrumentalversion eines alten Morcheeba-Albums herüber. Mit zwei Tassen in der Hand schlenderte sie schließlich zu David, der bäuchlings auf dem Sofa lag und in einem Bildband über eine Impressionisten-Ausstellung blätterte. Als er sie bemerkte, schenkte er ihr ein Lächeln, das überraschend schüchtern ausfiel. Meta zog einen Hocker heran und reichte ihm eine der Tassen.
»Na, irgendetwas Inspirierendes gefunden?«
David trank einen Schluck, dann stellte er die Tasse neben dem Sofa auf dem Boden ab. Seine Finger spielten mit den Seiten des Katalogs, als könne er sich noch immer nicht davon lösen. »Diese Bilder … Die sind schon nicht verkehrt, aber die Idee, einfach Eindrücke aus dem eigenen Lebensalltag zu nehmen, gefällt mir nicht besonders.«
Trotzdem hing sein Blick auffällig lange an einer von der Sonne beschienenen Angelszene fest, so dass Meta Gelegenheit fand, über seine Worte nachzudenken. Zuerst hatte sie einfach eine geübte Replik geben wollen, in der sie auf den Meilenschritt eingegangen wäre, den der Impressionismus für die Malerei bedeutet hat. Dann gestand sie sich ein, dass es hier keineswegs um Geplauder ging. David versuchte, etwas über sich selbst zu sagen. Also schwieg sie.
»Das mag natürlich an meinem Leben liegen, dass mir diese Impressionistenkiste nicht richtig gefällt«, fügte David schließlich an und bestätigte damit Metas Gedanken. »Früher habe ich Bilder gemalt, die das Gegenteil von dem Chaos abbilden sollten, in dem ich lebte. Das Ergebnis kennst du ja.« Mit dem Kinn deutete er in Richtung Schlafzimmer. »Eine Zeit lang hat das ganz gut funktioniert, aber wenn ich nicht richtig aufgepasst habe, sind aus meinen fein säuberlich strukturierten Bildern schnell Skizzen von einem verwaisten Stadtteil geworden.« Obwohl er sich ihr wieder zugewandt hatte, ging sein Blick an ihr vorbei. Sie konnte ihm ansehen, wie sich die Erinnerung vor seinem inneren Auge aufbaute, wie sehr sie ihm zu schaffen machte. »Wie in einem Alptraum, in dem man durch verwaiste Plattenbauten läuft, bei denen die Wände und Treppen eingestürzt sind, riesige Löcher im Boden, Staub und Kabel. Und im Keller ist eine Grube eingelassen - eine Kampfarena. Das wäre doch einmal ein Thema für ein hübsches Bild, was?«
David presste hart die Lippen aufeinander, dann sah er Meta an und gab ein verstörtes Lachen von sich.
Ohne darüber nachzudenken, setzte sich Meta neben ihn auf das Sofa. Zärtlich streichelte sie seine Schulter, fuhr mit den Fingerspitzen über die kleine Kuhle hinter seinem Ohr, wo die Haut sich samtig anfühlte. Dann wanderten ihre Finger weiter zum Nacken und bis zum Haar, das trotz seiner Kürze unvermutet weich war. Die ganze Zeit über saß David zwar reglos da, aber Meta spürte, wie sich etwas in ihm entspannte und er ihre Zärtlichkeiten genoss, auch wenn er ihr dabei anscheinend nicht völlig über den Weg traute. Er befürchtet, dass ich ihn ein weiteres Mal in mein Bett locken will, um mich vor einer Entscheidung zu drücken, dachte Meta.Vermutlich würde er sich sogar darauf einlassen.
Doch in diesem Moment akzeptierte Meta, dass sie sich zu David hingezogen fühlte und dieses erste vorsichtige Band, das sie in den letzten Tagen miteinander geknüpft hatten, weit über die gemeinsamen Nächte hinausging. Unwillkürlich dachte sie an jene letzte Sommernacht des Jahres, als sie David im größten Gedränge gefunden hatte. Gefunden, dachte sie überrascht. Nicht zufällig auf ihn gestoßen. Ohne zu begreifen warum, vertraute sie dem Instinkt, der ihr sagte, dass David zu ihr gehörte.
Meta gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange, dann sagte sie: »Ich möchte, dass du bei mir bleibst. Unabhängig davon, ob du in deine Wohnung zurückkehren kannst oder nicht.« David warf ihr einen verblüfften Blick zu, der Meta schmunzeln ließ. »Ja, ich weiß. Das ist ein seltsames Angebot, nachdem wir uns kaum kennen und ich keine Ahnung habe, was dir Schlimmes zugestoßen ist.Aber ganz gleich, wie unser beider Leben bislang ausgesehen hat, ich habe das Gefühl, dass sich uns nun die Chance bietet, etwas Neues zu beginnen. Gemeinsam.«
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, rechnete Meta damit, David würde ein Stück von ihr abrücken. Es hätte sie auch nicht verwundert, denn sie konnte selbst kaum glauben, was sie eben so unverblümt ausgesprochen hatte.
Doch David rückte nicht ab. Einen Augenblick lang sah er sie noch prüfend an, als müsste sie ihm zublinzeln und zu verstehen geben, dass sie ihn auf den Arm genommen hatte. Dann lehnte er sich auf dem Sofa zurück und zog sie in seine Arme. Nur allzu gern schmiegte Meta sich an seine Seite. Die Musik hallte angenehm durch ihren Kopf, während sie Davids warmen Körper und den gleichmäßigen Rhythmus seines Atems spürte. Sie konnte nicht sagen, wann sie sich das letzte Mal so geborgen gefühlt hatte.