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Präsidentschaftswahlkampagnen werden traditionell von »Hausjournalisten« begleitet, die sie verfolgen, um alles von den strahlenden Anfängen bis hin zum zuweilen bitteren Ende zu berichten. Daran hat das Erwachen nichts geändert. Kandidaten kündigen an, dass sie sich zur Wahl für den Chefsessel aufstellen lassen, treiben ihre kleine Herde von Fernseh-, Radio- und Zeitungsreportern zusammen und machen sich auf den Weg.

Der diesjährige Wahlkampf ist allerdings etwas ungewöhnlich, vor allem, weil einer der führenden Kandidaten, Senator Peter Ryman der in Wisconsin geboren und aufgewachsen ist und auch dort gewählt wurde der erste Präsidentschaftskandidat ist, der im Sommer 2014 noch keine achtzehn war. Er erinnert sich an das Gefühl, von den Nachrichtensendern verraten worden zu sein, daran, Menschen sterben zu sehen, weil sie darauf vertraut haben, dass die Medien ihnen die Wahrheit sagen. Als er also seine Kandidatur bekannt gab, stellte er gleich klar, dass er nicht bloß die übliche Pressetruppe auf seine Kampagne mitnehmen würde. Er würde auch eine Gruppe von Bloggern einladen, ihn auf seiner Tour von der ersten Rede bis zu den Wahlen zu begleiten, vorausgesetzt, er schaffte es so weit.

Es war ein kühner Schachzug und ein Riesenschritt für die Legitimierung von Internetnachrichten. Inzwischen mögen wir lizenzierte Journalisten sein, mit allen dazugehörigen Versicherungskosten und Einschränkungen, aber gewisse Gruppen rümpfen immer noch die Nase über uns, und viele Mainstream-Agenturen geben uns nur widerwillig Informationen. Anerkennung von einem Präsidentschaftskandidaten zu erhalten war ein erstaunlicher Fortschritt.

Ryman war bereit, drei Blogger mitzunehmen. Alle brauchten allein schon für die Bewerbung Lizenzen der Klasse A-15. Wenn man sich noch im Qualifizierungsprozess befand, wurde man unbesehen aussortiert. Die meisten uns bekannten Blogger hatten sich beworben, entweder einzeln oder in Gruppen, und wir wünschten uns den Job so sehr, dass der Gedanke daran wie etwas Greifbares erschien. Er würde unser Freifahrschein in die Oberliga sein. Buffy arbeitete seit Jahren mit einer B-20-Lizenz. Als Fiktive brauchte sie keine Genehmigungen für Feldforschung, politische Berichterstattung oder das Betreten von verseuchten Zonen, deshalb hatte sie nie einen Sinn darin gesehen, die Lizenzgebühren zu zahlen oder die Tests zu absolvieren. Shaun und ich trieben sie so schnell durch die Level-A-Tests und Einstufungsverfahren, dass sie bloß verdattert aus der Wäsche schaute, als man ihr ihre heraufgestufte Lizenz überreichte. Tags darauf schickten wir unsere Bewerbung ab.

Shaun war sich sicher gewesen, dass wir den Job kriegen würden. Ich war mir sicher gewesen, dass wir ihn nicht kriegen würden. Und jetzt sagte Shaun, der immer noch auf meinen Monitor starrte: »George?«

»Ja?«

»Du schuldest mir zwanzig Kröten.«

»Ja«, pflichtete ich ihm bei, und dann sprang ich auf und schlang die Arme um seinen Hals. Shaun antwortete mit einem Johlen, griff mich bei den Hüften, hob mich hoch und wirbelte mich durchs Zimmer.

»Wir haben den Job!«, rief er.

»Wir haben den Job!«, rief ich zurück.

Danach riefen wir einfach immer wieder gemeinsam den gleichen Satz, wobei Shaun mich weiter im Kreis herumwirbelte, bis schließlich die Schlafzimmer-Gegensprechanlage knisterte und Dads fordernde Stimme erklang: »Gibt es einen Grund für den Aufruhr, den ihr da veranstaltet?«

»Wir haben den Job!«, riefen wir im Chor.

»Welchen Job?«

»Den fetten Job!«, sagte Shaun, setzte mich ab und grinste in die Gegensprechanlage, als ob sie ihn sehen könnte. »Den fettesten fetten Job in der Geschichte der fetten Jobs!«

»Die Wahlkampagne«, erklärte ich, wobei ich mir bewusst war, dass ich wahrscheinlich ein genauso breites und blödes Grinsen auf dem Gesicht hatte wie Shaun. »Wir haben den Job bei der Präsidentschaftswahlkampagne.«

Nach einer langen Pause knisterte die Gegensprechanlage erneut, und Dad sagte: »Zieht euch an, Kinder. Ich hole eure Mutter. Wir gehen aus.«

»Aber das Abendessen «

»Kann ins Eisfach. Wenn ihr beiden vorhabt, quer durchs Land Politikern hinterherzudüsen, gehen wir erst zusammen essen. Ruft Buffy an und fragt, ob sie mitwill. Das ist ein Befehl.«

»Ja, Sir«, sagte Shaun und salutierte vor der Gegensprechanlage. Ich schaltete ab, und er drehte sich zu mir um und streckte die rechte Hand aus. »Zahltag.«

Ich zeigte zur Tür. »Raus. Hier zieht sich gleich wer aus, und du machst so was bloß kompliziert.«

»Endlich was für Erwachsene! Soll ich die Webcams anmachen? Wir können in weniger als fünf Minuten eine Verbindung zur Startseite «

Ich schnappte mir ein Mikro und warf es nach seinem Kopf. Er wich aus und fing wieder an zu grinsen. »… herstellen. Ich geh mir was Besseres anziehen. Du kannst Buffy anrufen.«

»Raus« wiederholte ich, und meine Lippen zuckten, als ich ein Lächeln unterdrückte.

Er ging durch die Zwischentür zurück in sein Zimmer, wobei er mir noch zurief: »Wenn du einen Rock anziehst, erlasse ich dir deine Schulden.«

Er kriegte die Tür zu, bevor ich noch etwas zum Werfen fand.

Kopfschüttelnd ging ich an den Kleiderschrank und sagte dabei: »Telefon, ruf Buffy Meissonier zu Hause an. Klingel so lange, bis sie rangeht.« Buffy neigt dazu, ihr Telefon auf Vibrationsalarm zu stellen und es zu ignorieren, wenn sie gerade »von der Muse geküsst wurde«, was eigentlich nur hieß, dass sie online rumblödelte, ein zutiefst deprimierendes Gedicht oder eine ebensolche Kurzgeschichte schrieb und postete und damit dreimal so viel wie ich an Klicks und T-Shirt-Verkäufen verdiente. Nicht, dass ich verbittert wäre oder so. Die Wahrheit macht einen frei, aber sie macht einen nicht besonders reich. Das war mir schon klar, als ich mich für meinen Beruf entschieden habe.

Mit den Toten zu spielen ist ein wenig lukrativer, aber Shaun verdient nicht genug für uns beide zumindest noch nicht , und ohne mich will er nicht ausziehen. Wir haben unser ganzes bisheriges Leben in unmittelbarer Nähe zueinander verbracht und uns dabei in erster Linie auf den jeweils anderen verlassen, was eine gewisse gegenseitige Abhängigkeit erzeugt. In einer früheren, zombiefreien Zeit hätte man das als »Co-Abhängigkeit« bezeichnet und uns eine jahrelange Therapie aufgedrückt, bis wir uns schließlich aus tiefstem Herzen gehasst hätten. Adoptivgeschwister sollten einander eigentlich nicht wie den Mittelpunkt der Welt behandeln.

Glücklicher- oder unglücklicherweise, je nach Standpunkt, sah man die Dinge heutzutage anders. Hier und jetzt ist es der sicherste Weg zu überleben, wenn man sich an die Leute hält, die man am besten kennt. Shaun verlässt das Haus niemals ohne mich, und wenn wir rausgehen, dann gemeinsam.

Bis Buffy ans Telefon ging, war es mir tatsächlich gelungen, einen dunkelgrauen Tweedrock zu finden, der nicht nur passte, sondern den ich auch in der Öffentlichkeit zu tragen bereit war. Ich kramte gerade nach einem Oberteil, als es in der Leitung klickte und Buffy verdrießlich sagte: »Ich hab gerade geschrieben.«

»Du schreibst immer gerade, außer, wenn du liest, an irgendwas Mechanischem rumschraubst oder masturbierst«, gab ich zurück. »Hast du was an?«

»Im Augenblick ja«, antwortete sie, und langsam wich ihre Verärgerung Verwirrung. »Georgia, bist du das?«

»Ich bin jedenfalls nicht Shaun.« Ich zog mir ein weißes Hemd über und steckte es mir in den Rocksaum. »In fünfzehn Minuten holen wir dich ab. ›Wir‹ heißt ich, Shaun und unsere Alten. Sie laden die ganze Truppe zum Abendessen ein. Eigentlich wollen sie bloß trittbrettfahren und ein bisschen Publicity und Quote bei uns abgreifen, aber das ist mir gerade so was von egal.«

Buffy ist nicht so schwer von Begriff, wie man meinen könnte. Plötzlich klang ihr Tonfall aufgeregt. »Haben wir ihn?«

»Wir haben ihn«, bestätigte ich. Ihr trommelfellzerfetzendes Freudenkreischen ließ mich zusammenzucken, obwohl es durch den Tonfilter runtergeregelt wurde. Lächelnd zog ich einen zerknitterten schwarzen Blazer aus meiner Kleiderschublade und streifte ihn über. Dann nahm ich mir eine neue schwarze Sonnenbrille aus dem Vorrat auf meiner Kommode. »Also, dann holen wir dich in fünfzehn Minuten ab. Abgemacht?«

»Ja! Ja, ja, abgemacht, halleluja, ja!«, brabbelte sie. »Ich muss mich umziehen! Und meinen Mitbewohnern davon erzählen! Und mich umziehen! Und mich mit euch treffen! Tschüss!«

Es klickte erneut. Mein Telefon erklärte: »Die Verbindung wurde unterbrochen. Möchten Sie noch einen Anruf tätigen?«

»Nein, alles super«, sagte ich.

»Die Verbindung wurde unterbrochen«, wiederholte das Telefon. »Möchten Sie noch einen Anruf «

Ich seufzte. »Nein, danke. Auflegen.« Das Telefon stellte sich piepend ab. Bei den gewaltigen Fortschritten in Sachen Stimmerkennungssoftware sollten die Dinger eigentlich langsam in der Lage sein, Umgangssprache zu erkennen. Aber so schnell geht das wohl nicht.

Mom, Dad und Shaun warteten bereits im Wohnzimmer, als ich die Treppe runtergehastet kam und dabei meinen MP3-Player in meine Gürtelschlaufe steckte. Der Ersatzplayer in meiner Armbanduhr hat nur dreißig Megabyte Speicherkapazität, was kaum genug für ein gutes Interview ist. Auf mein Handgerät passen bis zu fünf Terabytes. Wenn ich je mehr brauche, bevor ich an einen Server komme, um das Datenmaterial loszuwerden, dann bin ich wohl reif für den Pulitzer.

Mom trug ihr bestes grünes Kleid, das sie auch immer auf Publicityfotos anhat, und Dad trug seine übliche Professorenkombination Tweedjacke, weißes Hemd und khakifarbene Freizeithosen. Zusammen mit Shaun in seinem guten Hemd und seinen typischen Cargo Pants sahen sie genau wie auf unserem neuesten Publicity-Familienfoto aus, bis hin zu Moms mit Pistolen vollgestopfter Handtasche. Sie nutzt ihre A-5-Bloggerlizenz auf die absurdesten Arten aus, aber letztlich ist die Regierung schuld, die einem solche Schlupflöcher lässt. Wenn sie unbedingt jedem mit einer Journalistenlizenz der Stufe A-7 oder besser das Recht geben will, beim Betreten von Gebieten, in denen es innerhalb der letzten zehn Jahre Seuchenausbrüche gab, verdeckte Waffen zu tragen, ist das ihr Problem. Wenigstens geht Mom verantwortungsvoll damit um. Sie nimmt nur gesicherte Waffen ins Restaurant mit.

»Buffy ist in einer Viertelstunde so weit.« Ich rückte mir die Sonnenbrille zurecht. Einige der neueren Modelle haben Magneten statt Bügel und lösen sich nicht, wenn man sie nicht absichtlich abnimmt. Ich wäre versucht, mir so eine Brille zu leisten, wenn die Dinger nicht so teuer wären, dass man sie dekontaminieren und wiederverwenden müsste.

»Die Sonne geht unter. Du könntest deine Kontaktlinsen tragen.« Dad klang gut gelaunt. Er ist gut darin, gut gelaunt zu klingen. Schon vor dem Erwachen gehörte es zu seinem Job, amüsiert zu klingen, als er seinen Campus-Webcast betrieben hat, um die Biologiestudenten in und um Berkeley bei Laune zu halten und sie zu ihren Hausaufgaben zu motivieren. Schließlich ermöglichte eben dieser Webcast es ihm, Gruppen von Überlebenden zu koordinieren, sie von Ort zu Ort zu lotsen und gleichzeitig über die Bewegungen der Zombiemobs zu berichten. Eine Menge Menschen verdanken seiner freundlichen, geübten Stimme ihr Leben. Nachdem der Staub sich gelegt hatte, hätte jeder Sender auf der Welt ihn als Nachrichtensprecher eingestellt. Doch er blieb in Berkeley und wurde zu einem der Pioniere der sich weiterentwickelnden Bloggergemeinde.

»Ich könnte mir auch mit einer Gabel ins Auge stechen, aber wo bleibt da der Spaß?« Ich ging zu Shaun und bedachte ihn mit einem dünnen Lächeln. Er musterte meinen Rock und hob den Daumen. Ich hatte bestanden. Das Modebewusstsein meines Bruders ist abgesehen von seiner Vorliebe für Cargo Pants weiterentwickelt, als meines es jemals sein wird.

»Ich habe bei Bronson’s angerufen. Sie haben uns einen Terrassenplatz reserviert«, sagte Mom mit seligem Lächeln. »Es ist ein wunderschöner Abend. Wahrscheinlich können wir die ganze Stadt sehen.«

Shaun warf mir einen Blick zu und murmelte: »Wir haben Mom das Restaurant aussuchen lassen.«

Ich grinste schief. »Hab ich bemerkt.«

Bronson’s ist das letzte Restaurant Berkeleys, in dem man draußen sitzen kann. Genau genommen ist es das letzte Restaurant in der gesamten Bay Area, in dem man draußen sitzen kann und das an einem Hang liegt und von Bäumen umgeben ist. So wie dort muss es etwa gewesen sein, wenn die Leute damals essen gegangen sind, bevor die ständige Bedrohung durch die Infizierten die meisten Menschen aus der freien Natur vertrieben hat. Das Restaurant gilt als Gefahrenzone der Stufe 6. Ohne eine allgemeine Feldlizenz kommt man nicht mal rein, und bevor man wieder gehen darf, muss man sich einem Bluttest unterziehen. Nicht, dass einem dort echte Gefahr drohen würde: Rundherum gibt es einen Elektrozaun, der hoch genug ist, damit das Rotwild in der Gegend nicht darüber hinwegsetzen kann, und sobald sich etwas Größeres als ein Hase im Wald bewegt, gehen Flutlichter an. Die einzige ernsthafte Bedrohung rührt von der Möglichkeit her, dass bei einem außergewöhnlich großen Waschbär die Verwandlung einsetzt, er es über den Zaun schafft, solange er noch über genug Koordinationsfähigkeit zum Erklettern von Bäumen verfügt, und sich auf der anderen Seite fallen lässt. Bisher ist das noch nie passiert.

Trotzdem lässt Mom nicht von der Hoffnung ab, dabei zu sein, falls es irgendwann doch dazu kommt, was praktisch unvermeidlich ist. Sie war eine der ersten echten Irwins, und alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen, wenn überhaupt. Sie schlang sich ihre Handtasche über die Schulter und bedachte mich mit einem missbilligenden Blick. »Könntest du wenigstens so tun, als würdest du dir die Haare kämmen?«, fragte sie. »Du siehst aus, als hättest du ein Igelnest auf dem Kopf.«

»Auf genau den Look habe ich es angelegt«, antwortete ich. Mom ist mit glattem, fügsamem aschblonden Haar gesegnet, das langsam in Würde ergraut ist, als Shaun und ich zehn geworden sind. Dad hat praktisch gar keine Haare mehr, aber früher waren sie von einem blassen irischen Rotton. Ich hingegen habe dichtes, dunkelbraunes Haar, das in zwei Versionen erhältlich ist: So lang, dass es verfilzt, und so kurz, dass ich aussehe, als hätte ich mich seit Jahren nicht gekämmt. Mir ist die kurze Version lieber.

Shaun hat ebenfalls braunes, aber etwas helleres Haar als ich. Weil er es kurz schneidet, fällt nicht auf, wie glatt es ist, im Gegensatz zu meinem lockigen Haar. Dadurch kommen wir leichter mit der Behauptung durch, dass wir Zwillinge wären, sodass wir uns die vertrackten Erklärungsversuche sparen können.

Mom seufzte. »Euch beiden ist doch klar, dass man mit einiger Wahrscheinlichkeit bereits von eurem Erfolg bei der Bewerbung weiß und dass man euch heute Abend regelrecht bestürmen wird?«

»Mm-hmm«, machte ich. »Man« hatte wahrscheinlich einen kurzen Anruf von Mom, Dad oder beiden erhalten, und wahrscheinlich wartete »man« bereits beim Restaurant. Wir sind mit dem Spiel um die Quote aufgewachsen.

»Ich freu mich schon drauf«, sagte Shaun. Er ist besser darin, sich bei unseren Eltern lieb Kind zu machen. »Jede Seite, die heute Abend mein Bild bringt, bedeutet fünf weitere scharfe Ladys im Land, denen klar wird, dass sie mit mir abzischen möchten.«

»Schwein«, sagte ich und boxte ihm gegen den Arm.

»Grunz«, antwortete er. »Ist schon in Ordnung, wir wissen ja, was wir tun müssen. Ein hübsches Lächeln für die Kameras, Narben vorzeigen, George und Dad weise und vertrauenswürdig aussehen lassen, posieren, wenn jemand darum bittet, und niemals versuchen, ernsthaft inhaltlich auf Fragen zu antworten.«

»Während ich nur im Notfall lächele, mich hinter meiner Sonnenbrille verstecke und betone, dass jeder einzelne veröffentlichte Beitrag von mir absolut schonungslos sein wird«, sagte ich trocken. »Buffy lassen wir nach Herzenslust über die dichterischen Möglichkeiten plappern, die sich ihr eröffnen werden, sobald wir mit einem Haufen Politikergroßmäuler durchs Land zu ziehen, die uns für Volltrottel halten.«

»Und damit kommen wir auf die Startseite jeder Alpha-Website im Land, und unsere Quoten schnellen über Nacht um neun Punkte hoch«, sagte Shaun.

»Was es uns gestattet, Anfang nächster Woche die Gründung unserer eigenen Seite bekannt zu geben, kurz bevor wir die Wahlkampftour antreten.« Ich schob meine Sonnenbrille etwas vor und achtete nicht auf das Licht, das mir in die Augen stach, als ich kurz lächelte. »Wir haben uns nicht weniger Gedanken darüber gemacht als ihr.«

»Vielleicht sogar noch mehr«, fügte Shaun hinzu.

Dad lachte. »Gib’s zu, Stacy, die beiden haben alles im Griff. Kinder, nur für den Fall, dass ich später keine Gelegenheit mehr habe, euch das zu sagen: Eure Mutter und ich, wir sind sehr stolz auf euch. Wirklich sehr stolz.«

Lügner. »Wir sind auch ziemlich stolz auf uns«, sagte ich.

»Na dann.« Shaun klatschte in die Hände. »Das ist ja alles sehr rührend, aber jetzt kommt lasst uns was essen.«

Mit unseren Eltern im Schlepptau ist es leichter, aus dem Haus zu kommen, vor allem, weil Moms Minivan jederzeit startklar ist. Nahrung, Wasser, eine von der Seuchenbehörde zertifizierte Isoliereinheit für temperaturempfindliche Medikamente, eine Kaffeemaschine, stahlverstärkte Fenster wir könnten eine Woche lang in dem Ding festsitzen, ohne Probleme zu kriegen. Abgesehen davon, dass die nervliche Belastung und die Enge uns in den Wahnsinn treiben würden und wir uns vor dem Eintreffen einer Rettungsmannschaft gegenseitig umgebracht hätten. Bevor Shaun und ich ins Feld gehen, müssen wir unsere Ausrüstung mehrfach durchchecken, um sicherzugehen, dass sie uns nicht im Stich lassen wird. Mom muss sich nur ihre Autoschlüssel greifen.

Buffy wartete am Tor ihres Viertels. Sie trug eine abstruse Kombination aus gebatikten Leggings und einer knielangen Glittertunika, und dazu Sternen- und Mondhologramme im Haar. Wer sie nicht kannte, würde zu dem Schluss gelangen, dass sie weder über einen Sinn für Mode noch über ein Minimum an gesundem Menschenverstand verfügte. Und genau darauf zielte sie ab. Buffy ist mit mehr versteckten Kameras als ich und Shaun zusammen unterwegs. Solange die Leute damit beschäftigt sind, auf ihre Frisur zu starren, fragen sie sich nicht, warum sie die winzigen Edelsteine auf ihren Fingernägeln auf sie richtet.

Sie winkte und griff nach ihrer Umhängetasche, als der Wagen hielt. Dann lief sie los und stieg hinten bei Shaun und mir ein. Die Aufnahmen von diesem Moment würden in weniger als einer Stunde im Netz stehen.

»Hi Georgia, hi Shaun guten Abend, Mr und Mrs Mason«, trällerte sie und schnallte sich an, während Shaun die Tür zuknallte. »Ich habe mir gerade Ihren Ausflug nach Colma zu Ende angesehen, Mrs Mason. Wirklich großartiges Material. Auf einen Sprungturm zu klettern, um einem Haufen Zombies zu entkommen darauf wäre ich nie gekommen.«

»Herzlichen Dank, Georgette«, sagte Mom.

»Werden Sie Zeuge, wie Buffy meiner Mutter in den Arsch kriecht«, sagte Shaun trocken. Buffy schoss einen giftigen Blick auf ihn ab, was ihn bloß zum Lachen brachte.

Zufrieden darüber, dass die Welt in Ordnung war, lehnte ich mich in meinen Sitz zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ mich vom allgemeinen Geschnatter im Wagen umspülen, ohne zuzuhören. Es war ein langer Tag gewesen, und er war noch längst nicht vorbei.

Als Bloggen erstmals zum großen gesellschaftlichen Trend wurde, waren die Beiträge anonym. Anstatt etwas zu glauben, weil Dan Rather eine gute Figur vor der Kamera machte, glaubt man etwas, weil es wahr klang. Das Gleiche galt für Berichte über private Abenteuer, für selbstverfasste Gedichte oder für alles andere, was die Leute der Welt präsentierten: Man wusste nicht, von wem die Sachen stammten, weshalb man sie aufgrund dessen beurteilte, was man vor Augen hatte. Das änderte sich mit dem Auftauchen der Zombies, zumindest für diejenigen, die sich professionalisierten. Heutzutage bringen Blogger nicht nur die Nachrichten, sie machen sie, und manchmal enden sie selbst als Nachrichtenmeldungen. Wenn man einen Job als Hausblogger für Senator Rymans Wahlkampagne kriegt, genügt das auf jeden Fall, um selbst zu einer Nachrichtenmeldung zu werden.

Das war einer der Gründe dafür, dass Shaun und Buffy mich in ihrer Nähe haben wollten. Meine journalistische Integrität steht bei unseren Kollegen außer Frage, und wenn wir den Sprung zum Alpha schaffen der plötzlich machbar erschien , dann wird das unsere Glaubwürdigkeit untermauern. Shaun und Buffy schaffen uns Leser ran, und ich sorge dafür, dass die Leser uns vertrauen. Allerdings müssen sie sich mit den miserablen Quoten meiner Beiträge zufriedengeben, denn ein Teil dessen, was mich so glaubwürdig macht, ist der Umstand, dass meine Meldungen leidenschaftslos, nicht reißerisch und frei von Meinungsäußerungen sind. Ich halte zwar auch nicht mit meiner Meinung hinterm Berg, aber vor allem kriegt man bei mir die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

So wahr mir Gott helfe.

Als wir beim Bronson’s eintrafen, stieß Shaun mir einen Ellbogen in die Rippen. Ich rückte meine Sonnenbrille zurecht und öffnete die Augen.

»Status?«, fragte ich.

»Mindestens vier erkennbare Kameras. Alles in allem wahrscheinlich zwölf bis fünfzehn.«

»Lecks?«

»Bei so vielen Kameras wissen wahrscheinlich schon mindestens sechs Seiten davon.«

»Alles klar. Buffy?«

»Kapiert.« Sie straffte sich und setzte ihr bestes Kameralächeln auf. Meine Eltern wechselten vorne im Auto belustigte Blicke.

»Ab jetzt wird’s anstrengend«, sagte ich.

Shaun beugte sich vor und öffnete die Autotür.

Vor dem Erwachen gab es Paparazzihorden eigentlich nur vor den Treffs bekannter Stars und Politiker dort, wo sich Gesichter rumtrieben, mit denen man ein paar Hefte mehr verkaufen konnte. Doch der Aufstieg des Reality-TV und der Internetmedien hat all das verändert. Mit einem Mal konnte jeder ein Star sein, wenn er dazu bereit war, sich auf die richtige Art und Weise zum Idioten zu machen. Leute wurden für ihren Wunsch nach Sex berühmt, den Männer eigentlich bereits seit der Entdeckung der Pubertät hegen. Leute wurden dafür berühmt, dass sie sinnlose Sachen konnten, dass sie unnützes Wissen auswendig lernten oder dafür, dass sie einfach nur dazu bereit waren, in ein Haus voller fremder Menschen zu ziehen und sich dort vierundzwanzig Stunden am Tag filmen zu lassen. Vor dem Erwachen ging es wirklich seltsam zu in der Welt.

Nach dem Erwachen, als schätzungsweise siebenundachtzig Prozent der Bevölkerung in Angst vor Ansteckung lebten und sich weigerten, ihr Zuhause zu verlassen, wurde eine neue Art von Reality-Star geboren: der Reporter. Man kann zwar Nachrichten verbreiten oder ein Stewart sein, ohne sein Leben in der wirklichen Welt aufs Spiel zu setzen, aber es ist schwer, ein Irwin, ein Newsie oder auch nur ein wirklich guter Fiktiver zu sein, wenn man sich derart abschottet. Deshalb sind wir diejenigen, die in Restaurants essen und Freizeit- und Nationalparks aufsuchen, auch wenn wir das eigentlich lieber bleiben ließen wir nehmen die Risiken auf uns, vor denen andere zurückschrecken. Und wenn wir uns nicht selbst in Gefahr begeben, dann berichten wir über Leute, die es tun. Wir sind wie eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Shaun und ich haben auch schon Paparazzidienst geschoben, wenn es wenig zu berichten gab und wir auf die Schnelle ein paar Kröten machen mussten, aber ein Dreh in Santa Cruz ist mir lieber. Irgendwie fühle ich mich schmutzig, wenn ich den Aasgeier spiele.

Buffy stolzierte als Erste in die Menge hinaus. Einen Moment lang wirkte sie wie ein kleiner, glitzernder Ball aus Sonnenschein und Glück, dann schlossen sich die Reihen hinter ihr, und überall gingen die Blitzlichter los. Ihr Kichern hätte Stahl durchdringen können. Ich hörte es noch, als sie auf halbem Weg zum Restaurant war, wobei sie die schlimmsten Paparazzi von uns ablenkte. Buffy ist süß, fotogen und sehr viel freundlicher als ich, und das Beste ist, dass sie dafür bekannt ist, Andeutungen über ihr Privatleben fallen zu lassen, die sich in wertvolle Quotenpunkte umwandeln lassen, sobald die Storys auf Sendung gehen. Eine Weile hatte sie sogar einen Freund. Es hat nicht lange gehalten, aber damals hätte man Shaun und mich nicht mal beachtet, wenn wir nackt auf dem Sendewagen getanzt hätten. Das waren gute Zeiten.

Shaun stieg lächelnd aus dem Van. Sein Lächeln hat ihn beim weiblichen Teil der Blogosphäre beliebt gemacht er wirkt wie jemand, der ebenso gerne die gefährliche Wildnis eines Schlafzimmers erforscht wie eine Todeszone. Inzwischen sollte eigentlich bekannt sein, dass all das bloß Schau ist, da er nach wie vor abgesehen von seinem Umgang mit Infizierten kein Sozialleben hat, aber die Leute fallen immer wieder auf ihn rein. Die Hälfte der Kameras schwenkte zu ihm herum, und mehrere der vergnügten kleinen »Nachrichtensprecherinnen« jede dumme Tussi, die weiß, wie man ein Interview auf einer Videoseite postet, bezeichnet sich heutzutage als Nachrichtensprecherin hielten ihm ihre Mikrofone ins Gesicht. Shaun gab ihnen, was sie wollten. Er plapperte fröhlich über unsere jüngsten Meldungen drauflos, offerierte ein paar dezente Anmachsprüche und redete im Großen und Ganzen über alles, was nichts mit unserem neuen Auftrag zu tun hatte.

Shauns Verschleierungstaktik gab mir Gelegenheit, aus dem Auto zu schlüpfen und mich unbemerkt zum Eingang des Restaurants durchzukämpfen. Ansammlungen von Papparazzi sind eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen man eine Menschenmenge im Freien zu sehen kriegt. Während ich mich dorthin bewegte, wo die Leiber weniger dicht gedrängt standen, sah ich am Rande der Menge ein paar nervös aussehende Polizisten in Einsatzmontur. Sie warteten darauf, dass etwas schiefging. Sie würden einfach weiter warten müssen. Bisher gab es nur einen Fall, bei dem eine Massenvermehrung ihren Ursprung in einer Versammlung lizenzierter Reporter hatte, nämlich als ein nervöser Star eine echte Sitcom-Fernsehschauspielerin und kein professionell gelangweilter Reality-Star durchgedreht ist und eine Pistole aus ihrer Handtasche gezogen und angefangen hat, rumzuballern. Das Gericht befand die Schauspielerin für schuldig an dem darauffolgenden Ausbruch, und nicht die Paparazzi.

Einer der Newsies in der Nähe der Polizisten bedachte mich mit einem unauffälligen Nicken und verzichtete darauf, irgendwelche Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Dankbar für seine Diskretion nickte ich zurück. Zwar tat er eigentlich nichts weiter, als sich an den Rest der Menge zu halten, aber trotzdem war es eine nette Geste. Ich merkte mir sein Gesicht. Wenn seine Seite ein Interview wollte, würde ich ihr eins geben.

Irwins haben es leicht, mit Menschenmengen zurechtzukommen: Wenn man in der ständigen Hoffnung auf einen Ausbruch lebt, dann meidet man solche Ansammlungen nicht in dem Ausmaß, wie ein geistig gesunder Mensch das tut. Fiktive haben zwei Möglichkeiten: Manche gehen Menschenmengen aus dem Weg wie alle anderen auch. Andere gestehen sich einfach nicht ein, dass sie auch dann infiziert werden können, wenn das nicht in ihrem Drehbuch steht, und so hopsen sie fröhlich umher und ignorieren die Gefahr. Newsies neigen zu größerer Vorsicht, weil wir wissen, was unvorsichtigen Leuten widerfahren kann. Unglücklicherweise können wir uns aufgrund der Anforderungen unseres Berufs nicht ganz zurückziehen, weshalb selbst diejenigen unter uns, die das Zusatzeinkommen oder die Publicity durch die Paparazzischwärme nicht brauchen, sich ihnen von Zeit zu Zeit anschließen und sich dabei an das Gefühl gewöhnen, von den Leibern anderer Menschen umgeben zu sein. Die Paparazzischwärme sind für uns wie Hindernisparcours. Wenn man sie aushält, ohne durchzudrehen, ist man bereit für die echte Arbeit im Feld.

Meine Strategie, mich am Rand der Menge entlangzudrücken und die Tür im Auge zu behalten, schien aufzugehen. Da Shaun und Buffy auffälligere Zielscheiben abgaben, schoss sich niemand auf mich ein. Außerdem stehe ich berechtigterweise in dem Ruf, die Sorte Interviewpartner zu sein, die einfach abhaut und einen ohne ein brauchbares O-Ton-Zitat stehen lässt. Es ist schwer, jemanden zu interviewen, der sich weigert, mit einem zu reden.

Vier Meter bis zur Tür. Drei

»Und hier ist meine hinreißende Tochter Georgia, die das von Senator Ryman handverlesene Bloggerteam anführen wird!« Mom ergriff meinen Ellbogen im selben Moment, in dem ihre überschwängliche Lobhudelei auf meine Ohren traf. Erwischt. Sie drehte mich zu der Paparazzihorde herum und grub mir die Finger in den Arm. Leiser, mit zusammengebissenen Zähnen, sagte sie: »Das bist du mir schuldig.«

»Kapiert«, sagte ich aus dem Mundwinkel und ließ mich herumdrehen.

Shaun und ich hatten schon früh begriffen, welchen Zweck wir im Leben unserer Eltern erfüllten. Wenn die Klassenkameraden nicht ins Kino dürfen, weil sie dort vielleicht einem Unbekannten begegnen könnten, während die eigenen Eltern einem unentwegt abenteuerliche Unternehmungen im Freien vorschlagen, ahnt man, dass etwas im Busch ist. Shaun begriff zuerst, in welcher Weise sie uns benutzten, und das ist so ziemlich der einzige Punkt, an dem er schneller erwachsen geworden ist als ich. Ich habe aufgehört, an den Weihnachtsmann zu glauben. Er hat aufgehört, an unsere Eltern zu glauben.

Mom hielt meinen Arm in eisernem Griff, während sie sich aufplusterte und uns für die fünfhundertelfte Version ihrer liebsten Pose für die Presse zurechtrückte: Die schillernde Irwin steht neben ihrer stoischen Tochter, zwei vollkommen gegensätzliche Menschen, die aber durch ihre journalistische Leidenschaft vereint werden. Einmal habe ich die Ergebnisse einer Suche nach öffentlichen Bildern mit den privaten Bildern in unserer Heimdatenbank abgeglichen. Zweiundachtzig Prozent der körperlichen Zuneigungsbekundungen meiner Mutter an mich haben in der Öffentlichkeit stattgefunden, immer im Blickfeld von einer oder mehreren Kameras. Wenn euch das zynisch erscheint, beantwortet mir mal folgende Frage: Warum hat sie mein ganzes Leben lang konsequent immer gewartet, bis jemand mit einer erkennbaren Kamera in Aufnahmereichweite war, bevor sie mich berührt hat?

Die Leute fragen sich, warum ich keine körperliche Zuneigung zeige. Die Menge der Anlässe, bei der ich meinen Eltern als quotenförderliches Fotomodell gedient habe, sollte Antwort genug sein. Der einzige Mensch, der mich jemals umarmt hat, ohne dabei über Kameraperspektive und Ausleuchtung nachzudenken, ist mein Bruder, und er ist der Einzige, dessen Umarmungen mir jemals auch nur das Geringste bedeutet haben.

Meine Brille filtert Blitzlichter, aber es dauerte trotzdem nicht lange, bis ich die Augen schließen musste. Einige der neueren Kameras haben Lichter, die so hell sind, dass man damit in völliger Dunkelheit Bilder machen kann, die aussehen, als hätte man sie mittags geschossen, und man muss keinen Intelligenztest ablegen, um sich so ein Gerät zu kaufen. Wenn eines dieser Scheißdinger vor deiner Nase losgeht, merkst du, dass man dich fotografiert. Dank Moms erzwungenem Fototermin würde ich tagelang Migräne haben. Vermeiden ließ sich die Sache nicht. Wenn ich nicht noch vor dem Essen nachgegeben hätte, hätte ich mir den ganzen Abend lang Vorträge über meine Pflichten als gute Tochter anhören müssen, was zu einer sehr viel längeren Fotosession nach dem Essen geführt hätte. Lieber hätte ich einen Waschbärzombie geküsst.

Buffy nahte zu meiner Rettung. Die Eleganz, mit der sie durch die Menge glitt, verriet eine Übung, welche den meisten Menschen unserer Generation abgeht. Mit ausgestreckter Hand ergriff sie meinen anderen Arm und trällerte schwindelerregend fröhlich: »Ms Mason, Georgia, Mr Mason meint, dass unser Tisch bereit ist! Aber wenn Sie jetzt nicht gleich kommen, gibt man ihn vielleicht jemand anderem, und dann müssen wir mindestens eine halbe Stunde auf einen neuen warten.« Sie hielt kurz inne und führte dann den tödlichen Streich: »Einen Tisch drinnen

Das waren die perfekten Worte. Das Draußensitzen lässt unsere Familie mutig und abenteuerlustig erscheinen. Das meinen zumindest meine Eltern. Ich finde, wenn man sich ohne Not draußen aufhält, sieht man eher wie ein selbstmordgefährdeter Idiot aus, der es nicht erwarten kann, von einem Zombiereh angeknabbert zu werden. Shaun gibt in dieser Sache beiden Seiten recht wenn wir schon in der Öffentlichkeit mit unseren Eltern essen müssen, sitzt er lieber draußen, wo die Chance besteht, dass er von einem Zombiereh errettet wird. Aber trotzdem hält er es ebenfalls für dumm. Mom kapiert das nicht. Wenn sie die Wahl zwischen einem Tisch draußen hat, wo die Fotografen ein paar gute Bilder schießen können, und einem drinnen, wo die Leute sich das Maul darüber zerreißen, dass die furchtlose Stacy Mason weich geworden ist tja, dann ist die Antwort für sie offensichtlich.

Sie ließ ihr buchstäblich preisgekröntes Lächeln in Richtung Menge aufblitzen, zog mich in eine »impulsive« Umarmung und verkündete: »Also, Leute, unser Tisch steht bereit.« Unmutsbekundungen ertönten. Ihr Lächeln wurde breiter. »Aber nach dem Essen sind wir zurück. Wenn Sie sich also unterdessen einen Burger holen möchten, können wir meiner Tochter anschließend vielleicht noch ein paar schlaue Statements entlocken.« Sie drückte mich und ließ los, worauf allseitiger Applaus ertönte.

Manchmal frage ich mich, warum keine Nachrichtenseite jemals einfängt, wie ihr Lächeln erstirbt, sobald sie sich von den Kameras abwendet. Es gibt auch ernste Bilder von ihr, aber die sind genauso gestellt wie der Rest: Sie zeigen sie mit kummervoller Miene auf verlassenen Spielplätzen oder vor abgeschlossenen Friedhofstoren. Auf einem das war, als ihre Quoten so niedrig waren wie nie, in dem Sommer, in dem Shaun und ich dreizehn wurden und uns in unseren Zimmern einschlossen ist sie vor der Schule zu sehen, die Phillip besucht hat. So ist unsere Mutter, sie verkauft den Tod ihres einzigen leiblichen Kindes für ein paar Punkte im Tanz um die Quote.

Shaun meint, dass ich nicht so hart über sie urteilen sollte, denn schließlich verdienen wir unseren Lebensunterhalt auf die gleiche Weise. Ich sage, dass das bei uns etwas anderes ist. Wir haben keine Kinder. Wir verkaufen nur uns selbst, und ich finde, dass das unser gutes Recht ist.

Dad und Shaun standen vor dem Restaurant und hatten sich gerade so weit weggedreht, dass keins der Mikrofone, die ohne durchzubrennen dem Lärm der Menge standhielten, ihre Worte aufschnappen konnte. Als ich näher kam, hörte ich Shaun in ganz und gar freundlichem Tonfall sagen: »… es ist mir piepegal, was du für ›vernünftig‹ hältst. Du gehörst nicht zu unserem Team. Du kriegst keine Exklusivinterviews.«

»Hör mal, Shaun «

»Essenszeit«, sagte ich und schnappte mir auf dem Weg Shauns Arm. Er kam ebenso dankbar mit, wie ich eben Buffy begleitet hatte. Shaun, Buffy und ich gingen praktisch Arm in Arm ins Restaurant, während unsere Eltern uns folgten und sich dabei bemühten, ihre Verärgerung zu überspielen. Dumm für sie. Wenn sie nicht wollten, dass wir sie öffentlich in Verlegenheit brachten, durften sie halt nicht mit uns ausgehen.

Unser Tisch entsprach Moms Vorstellungen von einem schönen Plätzchen. Er stand in der hintersten Ecke der Terrasse, nah beim Zaun, der uns zur einen Seite vom Wald und zur anderen von der Straße trennte. Mehrere unternehmungslustige Paparazzi waren uns auf der Außenseite über den Bürgersteig gefolgt und fotografierten nun offen durch die Gitterstäbe. Mom ließ ihr Grübchenlächeln aufblitzen. Dad schaute wissend und weise drein. Ich unterdrückte einen Würgreflex.

Mit einem Vibrieren meldete mein Handy, dass ich eine SMS bekommen hatte. Ich nahm es vom Gürtel und hielt es schräg, sodass ich das Display sehen könnte.

Glaubst du, das lässt nach, wenn wir unterwegs sind? S.

Ich grinste schief und tippte zurück: Wenn die Quotenmaschine (d.h. »Mom«) hierbleibt? Garantiert. Dann sind wir verglichen mit dem Hauptgericht die Kartöffelchen.

Er schrieb zurück: Ich liebe es, wenn du Menschen mit Essen vergleichst.

Ich bereite mich auf das Unausweichliche vor.

Shaun lachte schnaubend und ließ sein Telefon fast in den Brotkorb fallen. Dad warf ihm einen durchdringenden Blick zu, worauf er sein Telefon neben sein Silberbesteck legte und mit Engelsmiene sagte: »Ich habe nur meine Quoten überprüft.«

Dads Stirnrunzeln löste sich sofort in Luft auf. »Wie sieht’s aus?«

»Nicht übel. Das Videomaterial, das Buffy aufbereitet hat, bevor wir sie vorm Computer weggeholt haben, hat wirklich gute Downloadzahlen.« Shaun warf Buffy ein Lächeln zu, die ein stolzes Gesicht machte. Wenn man von ihr gemocht werden will, muss man ihr Komplimente für ihre Gedichte machen. Wenn man aber geliebt werden will, muss man ihre technischen Fähigkeiten loben. »Ich schätze, sobald ich die beiden Berichte dazuschalte und meinen Kommentar hochlade, wird mein Anteil um weitere acht Punkte hochschnellen. Vielleicht breche ich diesen Monat meinen Rekord.«

»Angeber«, sagte ich und gab ihm mit der Gabel einen Klaps auf den Arm.

»Faulpelz«, erwiderte er noch immer grinsend.

»Kinder«, sagte Mom, doch ohne Nachdruck. Sie fand es wunderbar, wenn wir rumblödelten. Das ließ uns mehr nach einer richtigen Familie aussehen.

»Ich nehme den Teriyaki-Sojaburger«, sagte Buffy. Sie beugte sich vor und sagte in verschwörerischem Tonfall: »Ich habe von einem Kerl gehört, der ein Mädchen mit einem Freund kennt, dessen bester Freund im Biotech-Geschäft ist, dass er der beste Freund, meine ich Rindfleisch gegessen hat, das in einem sauberen Raum geklont wurde und keine Virenkolonie enthielt, und es hätte genau wie Teriyaki-Soja geschmeckt.«

»Wenn das nur wahr wäre«, sagte Dad mit der seltsamen Wehmut jener Menschen, die vor dem Erwachen groß geworden waren und von Dingen redeten, die sie für immer verloren hatten. Wie zum Beispiel Fleisch.

Das ist ein weiterer hässlicher Nebeneffekt der KA-Infektion, über den keiner nachgedacht hat, bis man sich unmittelbar damit auseinandersetzen musste: Alles, was von Säugetieren kommt, beherbergt Virenkolonien, und der Tod des Organismus lässt das Virus in den aktiven Zustand übergehen. Hotdogs, Hamburger, Steaks und Schweinegehacktes gehören der Vergangenheit an. Wenn man sie isst, isst man aktive Viren. Bist du dir sicher, dass du keine offenen Stellen im Mund hast? Oder in der Speiseröhre? Kannst du dir hundertprozentig sicher sein, dass kein Teil deines Verdauungstrakts auch nur das geringste bisschen in Mitleidenschaft gezogen ist? Es braucht nur eine winzige Bresche im körpereigenen Abwehrsystem, dann erwacht die schlummernde Infektion. Wenn man das Fleisch lange genug kocht, um die Infektion abzutöten, tötet man auch den Geschmack ab, und trotzdem bleibt der Fleischverzehr eine Art russisches Roulette.

Auch das durchgebratenste Steak der Welt hat vielleicht einen winzigen Flecken Halbgares irgendwo im Innern, und mehr braucht es nicht. Mein Bruder steht auf Autos in gekennzeichneten Katastrophengebieten und prügelt sich mit Infizierten, trägt dabei keine hinreichende Panzerung und lebt sein Leben ganz allgemein wie ein Selbstmordkandidat. Aber nicht mal er isst Säugetierfleisch.

Geflügel und Fisch sind sicher, aber eine Menge Leute meiden trotzdem beides. Etwas am Fleischessen bereitet ihnen Unbehagen. Vielleicht ist es der Umstand, dass die Menschheit nach Jahrhunderten als Hofherren das Leid der Hühner plötzlich nachfühlen kann. Wir haben zu Thanksgiving immer Truthahn gegessen und eine Gans zu Weihnachten. Eine weitere Quotenhascherei seitens unserer zunehmend medienerfahrenen Eltern, die allerdings wenigstens ein paar segensreiche Nebenwirkungen hatte. Shaun und ich gehören zu den wenigen mir bekannten Menschen unserer Generation, die keine zwanghaften Essstörungen haben.

»Ich nehme den Geflügelsalat und die Tagessuppe«, sagte ich.

»Und eine Cola«, warf Shaun ein.

»Und eine große Cola«, korrigierte ich.

Er zog mich immer noch wegen meines Koffeinkonsums auf, als der Kellner in Begleitung des strahlenden Geschäftsführers zurückkehrte. Das war nicht unerwartet. Unsere Familie ist, solange ich zurückdenken kann, hier gern gesehene Kundschaft. Immer, wenn die Plätze im Freien aufgrund eines lokalen Ausbruchs geschlossen sind, geht Mom ins Bronson’s, um drinnen zu essen, und wenn die Terrasse wieder geöffnet werden darf, ist sie die Erste, die sich demonstrativ draußen hinsetzt. Diese Leute wären dumm, wenn sie nicht zu schätzen wüssten, was wir für ihr Geschäft tun.

Der Kellner trug ein Tablett mit unseren üblichen Getränken herbei: Kaffee für Mom und Dad, einen Virgin Daiquiri für Buffy, eine Flasche sprudelnden Apfelcidre für Shaun ein Getränk, das aus der Entfernung wie Bier aussieht und eine große Cola für mich.

»Mit den besten Wünschen des Hauses«, verkündete der Geschäftsführer und wandte das lächelnde Gesicht mir und Shaun zu. »Wir sind so stolz auf Sie. Da ziehen Sie los und werden echte Prominente! Das liegt in der Familie.«

»Das tut es wohl«, bemerkte Mom affektiert und gab sich dabei alle Mühe, wie ein kicherndes kleines Mädchen zu wirken. Als Resultat sah sie wie eine Vollidiotin aus, aber das würde ich ihr sicher nicht erzählen. Wir waren praktisch schon auf Wahlkampftour. Es war die Mühe nicht mehr wert, sich zu streiten.

»Würden Sie eine Speisekarte signieren, bevor Sie aufbrechen?«, drängte der Geschäftsführer. »Die hängen wir dann an die Wand. Wenn Sie dann zu bekannt sind, um noch in einem Restaurant wie diesem zu essen, können wir sagen: ›Hier, genau an diesem Tisch, haben sie über ihren Mathehausaufgaben gesessen.‹«

»Das war Physik«, protestierte Shaun lachend.

»Wenn Sie es sagen«, erwiderte der Geschäftsführer.

Der Kellner verteilte die Getränke vor uns, während wir weitere Bestellungen aufgaben. Zuletzt schenkte er mir mit großer Geste das erste Glas Cola aus meinem Krug ein. Ich lächelte, und er blinzelte mir zu, eindeutig erfreut. Ich ließ mein Lächeln verblassen und hob eine Braue. Stunden des Übens vorm Spiegel haben gezeigt, dass dieser spezielle Gesichtsausdruck erfolgreich Verachtung vermittelt. Es handelt sich um eine der wenigen mimischen Ausdrücke, die durch meine Sonnenbrille verstärkt anstatt behindert werden. Seine Selbstgefälligkeit verflüchtigte sich, und er erfüllte hastig seine restlichen Pflichten, ohne mich dabei anzusehen.

Shauns Blick traf auf meinen, und lautlos formte er mit den Lippen die Worte: »Das war nicht nett.«

Ich zuckte mit den Schultern und erwiderte in gleicher Weise: »Er hätte es besser wissen müssen.« Ich flirte nicht. Nicht mit Kellnern, nicht mit anderen Reportern und auch mit sonst niemandem.

Schließlich zogen Kellner und Geschäftsführer sich zurück, und Mom hob ihr Glas zu einem Toast. Wir anderen wählten den Weg des geringsten Widerstands und taten es ihr nach.

»Auf die Quoten!«, sagte sie.

»Auf die Quoten«, bekräftigten wir und stießen in trübsinniger Erfüllung dieser rituellen Pflicht miteinander an.

Wir waren nun auf dem besten Weg zu eben jenen Quoten. Blieb nur zu hoffen, dass wir gut genug waren, sie auch zu halten. Koste es, was es wolle.

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Meine Freundin Buffy sagt gerne, dass es die Liebe ist, die uns zusammenhält. Die alten Popsongs hätten es ganz richtig erkannt, es ginge immer um Liebe, da gibt es nichts dran zu rütteln. Mahir sagt, dass es auf Loyalität ankommt es ist egal, wer man ist, solange man loyal ist. George ist der Meinung, dass es auf die Wahrheit ankommt. Wir leben und sterben für die Chance, vielleicht ein winziges Stückchen Wahrheit zu berichten und den Teufel ein ganz kleines bisschen bloßzustellen, bevor wir abtreten.

Ich bin der Meinung, dass all das tolle Gründe sind, zu leben, wenn einen das glücklich macht, aber letztlich muss es jemanden geben, für den man all das tut. Nur einen Menschen, an den man bei jeder Entscheidung denkt, jedes Mal, wenn man die Wahrheit ausspricht oder eine Lüge oder was auch immer.

Ich habe diesen Menschen. Ihr auch?

Aus Lang lebe der König, dem Blog von Shaun Mason,
19. September 2039